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GMS Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)

ISSN 1860-9171

Web-basierte Diagnose und Förderung auditiver Fähigkeiten für den Schriftspracherwerb

Web-based diagnosis and therapy of auditory prerequisites for reading and spelling

Originalarbeit

  • corresponding author Sandra Krammer - Fakultät für Informatik, Hochschule Ulm, Ulm, Deutschland
  • author Katrin Vogt - Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen, Universität Ulm, Ulm, Deutschland
  • author Claudia Steinbrink - Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen, Universität Ulm, Ulm, Deutschland
  • author Jürgen Mayer - Fakultät für Informatik, Hochschule Ulm, Ulm, Deutschland
  • author Ozan Halici - Fakultät für Informatik, Hochschule Ulm, Ulm, Deutschland
  • author Silko Kruse - Fakultät für Informatik, Hochschule Ulm, Ulm, Deutschland
  • author Jochen Bernauer - Fakultät für Informatik, Hochschule Ulm, Ulm, Deutschland

GMS Med Inform Biom Epidemiol 2006;2(3):Doc17

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/mibe/2006-2/mibe000036.shtml

Veröffentlicht: 23. November 2006

© 2006 Krammer et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Schwächen der auditiven oder visuellen Wahrnehmung und ein eingeschränktes sprachliches Arbeitsgedächtnis sind u. a. Risikofaktoren für die Entwicklung einer Lese-Rechtschreibstörung. Werden sie frühzeitig schon im Vorschulalter erkannt und behandelt, können negative Auswirkungen auf das Erlernen des Lesens und Schreibens verhindert werden. Ziel des CASPAR-Projekts ist die Bereitstellung von Materialien zur Diagnose und Förderung dieser kognitiven Fähigkeiten über eine Internet-Plattform. Dabei liegt in einem ersten Ansatz der Fokus auf Störungen der Phonemdiskrimination. Es wird ein Verfahren beschrieben, wie bei Kindern im Vorschulalter die Fähigkeit zur Phonemdiskrimination durch interaktive Spielszenen getestet und gefördert werden kann.

Abstract

Cognitive deficits in auditory or visual processing or in verbal short-term-memory are amongst others risk factors for the development of dyslexia (reading and spelling disability). By early identification and intervention (optimally before school entry), detrimental effects of these cognitive deficits on reading and spelling might be prevented. The goal of the CASPAR-project is to develop and evaluate web-based tools for diagnosis and therapy of cognitive prerequisites for reading and spelling, which are appropriate for kindergarten children. In the first approach CASPAR addresses auditory processing disorders. This article describes a computerized and web-based approach for screening and testing phoneme discrimination and for promoting phoneme discrimination abilities through interactive games in kindergarteners.

Keywords: dyslexia, auditory processing disorders, learning disorders, preschool child, distance learning, computer-assisted instruction, online-therapy, multimedia


Lese-Rechtschreibstörung

In unserer Gesellschaft ist etwa jedes zwanzigste Kind von einer so genannten Lese-Rechtschreibstörung (LRS) betroffen [1]. Man spricht dann vor einer LRS, wenn ein Kind normal intelligent ist, aber deutlich schlechtere Lese-Rechtschreibleistungen aufweist als es seinem Alter und seiner Schulerfahrung angemessen ist. Es gibt Fälle, in denen nur das Erlernen des Schreibens oder nur das Erlernen des Lesens gestört ist. In den meisten Fällen jedoch betrifft die Störung sowohl das Lesen, als auch das Schreiben. Deshalb wird allgemein von einer Lese-Rechtschreibstörung gesprochen. Als Risikofaktoren für die Entwicklung einer solchen Störung gelten die folgenden kognitiven Defizite: (1) Schwächen der auditiven Wahrnehmung und Verarbeitung, z.B. können ähnlich klingende Sprachlaute nicht richtig unterschieden werden [2]. (2) Schwächen der visuellen Wahrnehmung und Verarbeitung: Buchstaben mit ähnlicher Form oder Größe können nicht korrekt auseinander gehalten werden. (3) Schwächen des phonologischen Arbeitsgedächtnisses: die Fähigkeit zur kurzfristigen Speicherung sprachlicher Informationen ist eingeschränkt. (4) Störungen der phonologischen Bewusstheit: es bestehen Defizite, lautliche Einheiten in der gesprochenen Sprache zu erkennen. (5) Eine mangelnde Beherrschung der Buchstabe-Laut-Zuordnung. Diese Defizite entstehen bei den betroffenen Kindern nicht erst, wenn sie das Lesen und Schreiben lernen, sondern sind bereits vor dem Schuleintritt vorhanden. Können sie frühzeitig erkannt und behandelt werden, können Probleme im Schriftspracherwerb verhindert werden.


Ziele des Projekts CASPAR

Im Projekt CASPAR soll am Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) der Universität Ulm in Kooperation mit Arbeitsgruppen der Hochschule Ulm eine Internetplattform entwickelt werden, auf der Materialien zur Diagnostik und Behandlung kognitiver Defizite, die mit der Entstehung von Lese-Rechtschreibstörung in Verbindung stehen, angeboten werden. Alle Materialien sollen so gestaltet sein, dass sie für die Nutzung durch Kinder im Vorschulalter geeignet sind und von Personen eingesetzt werden können, die keine oder kaum Vorbildung in Diagnostik und Intervention bei LRS haben (z.B. Eltern, Erzieher). Die Entwicklung der Diagnose- und Fördermaterialien in CASPAR soll schrittweise für die einzelnen kognitiven Bereiche erfolgen. Dabei soll mit einem System zur Diagnose und Förderung von Lautunterscheidung der Anfang gemacht werden. In diesem System werden den Kindern in spielerischer Form Lautbeispiele, so genannte Stimuli, präsentiert, die unterschieden werden müssen.

Vergleichbare Ansätze wurden bereits in den USA mit CD-basierten Anwendungssystemen verfolgt, um Defizite in der Sprach- und Lesekompetenz zu erkennen und gezielt in adaptiven Trainingsszenarien zu fördern. Ein Beispiel hierfür ist die Fast ForWord®Language Software der Scientific Learning Company [3], die Kursmodule zur Analyse und Förderung von Sprachdefiziten für Vorschulkinder anbietet. Diese englischsprachigen Produkte sind jedoch nicht ohne weiteres in anderen Sprachräumen einsetzbar, weil sich die Sprachen hinsichtlich ihrer Lautinventare unterscheiden. Verfahren zur Diagnose und Maßnahmen der Intervention müssen daher für jede Sprache neu entwickelt werden.

Anforderungen an die Materialien

Ein grundlegendes Ziel von CASPAR ist, die Materialien computergestützt und webbasiert anzubieten, um einen breiten und kostengünstigen Zugang über das Internet zu ermöglichen und ein Screening-Verfahren zur frühzeitigen Testung eventuell vorhandener Defizite in den Vorläuferfertigkeiten zum Schriftspracherwerb zur Verfügung zu stellen Auf diese Weise kann der Ablauf der Test- und Trainingseinheiten standardisiert und automatisiert werden. Darüber hinaus kann die Auswertung und Interpretation der Testergebnisse für Forschungszwecke und für die Optimierung der Systeme genutzt werden.

Aus diesen Zielen, ergeben sich die folgenden Anforderungen an die Materialien: Die Test- und Lerninhalte sollen in kindgerecht animierte Spielszenen eingebettet sein, die die Aufmerksamkeit der Kinder wecken und über einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen, sowie der Motivation und Kooperation entgegen kommen. Darüber hinaus soll die Darbietung der Förderinhalte adaptiv gestaltet werden, indem sich der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben automatisch den Leistungen und Fähigkeiten der Kinder anpassen kann. Ziel ist, genau die Inhaltsbereiche zu trainieren, in denen Defizite bestehen. Auch soll auf diese Weise einer Frustration der Kinder durch zu schwere Aufgaben oder dem Aufkommen von Langeweile durch zu leichte Aufgaben vorgebeugt werden.

Nutzung

Der Zugang zu den Diagnose- und Förderspielen soll primär unbeschränkt sein. Die Nutzung soll personalisiert und gebührenfrei über das Internet von Kindergärten oder von zuhause aus nach vorangegangener Registrierung und Passwortvergabe durch das ZNL möglich sein. Dabei verfolgt CASPAR nicht das Ziel, eine qualifizierte Diagnostik durch Ärzte, Logopäden oder Psychologen zu ersetzen. Vielmehr sollen Eltern oder anderen Bezugspersonen eine "niederschwellige" Möglichkeit bekommen, bei ihren Kindern Vorläuferfertigkeiten des Lesens und Schreibens zu überprüfen und Defizite auszugleichen. Dazu soll ein marktüblicher PC mit Soundkarte und Aktivboxen, eine DSL-Verbindung zum Internet sowie ein Standardbrowser mit installiertem Flash-Plugin ausreichen. Da die Fördermaterialien umfangreich sein werden, wird die Nutzung die Kinder über einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen. Dies ist auch deshalb sinnvoll, weil zur Verbesserung der Lautunterscheidungsfähigkeiten längerfristiges Üben anzustreben ist. Um eine effektive Bearbeitung der Materialien über mehrere Sitzungen hinweg zu erlauben, soll der in einer Sitzung erreichte Bearbeitungsstand protokolliert und bei Wiederaufnahme der Bearbeitung genutzt werden.

Technische Anforderungen

Aus der Konzeption des CASPAR-Projekts ergeben sich gewisse technische Anforderungen an die Realisierung der Spiele und Testinhalte, an die Protokollierung der Testergebnisse und des Nutzerverhaltens sowie an die Zugangs- und Nutzerverwaltung.

Eine wichtige Anforderung an die Implementierung der Computerspiele ist die dynamische Integration der Stimuli in die Spielszenen. Der Grund dafür ist im Forschungscharakter des CASPAR-Projekts zu sehen, denn sowohl die Spielszenen als auch die Test- und Förderinhalte werden erst innerhalb des Projekts erarbeitet. Daher ist damit zu rechnen, dass sich während des Projektverlaufs die Auswahl der Stimuli, die Art und Reihenfolge ihrer Präsentation und der ihnen zugeordnete Schwierigkeitsgrad ändern werden, und das Gesamtsystem kontinuierlich den Erfahrungen aus der Nutzung angepasst werden muss. Darüber hinaus ist die Trennung von Spielrahmen und Testinhalten aber auch sinnvoll im Hinblick auf das angestrebte adaptive Verhalten des Fördersystems im Sinne eines „intelligenten Therapeuten“. Ein weiterer Gesichtspunkt, der eine solche Trennung insbesondere bei einem Diagnose- und Fördersystem zur Phonemdiskrimination günstig erscheinen lässt, ist die Möglichkeit, Materialien auch für andere Sprachräumen als den deutschen nutzbar zu machen. Da sich das Phoneminventar verschiedener Sprachen unterscheidet, müssen Tests und Fördermaterialien zur Phonemdiskrimination immer mit Blick auf eine bestimmte Sprache entwickelt werden.

Die Repräsentation der Testinhalte, deren Verknüpfung mit einzelnen Spielszenen, die Speicherung der Testergebnisse, die Verwaltung der Nutzer und die dynamische Erzeugung von Nutzerprofilen machen einen datenbankgestützten Ansatz erforderlich. Dabei soll die Systemarchitektur, welche im Kontext des Systems zur Diagnose und Förderung der Phonemdiskrimination entwickelt wird, prototypisch für Diagnose- und Fördersysteme in den anderen kognitiven Bereichen sein. Das Datenbankschema für die Stimuli und die Zugangs- und Probandenverwaltung sollte auch für spätere Ausbaustufen des Projekts verbindlich sein.

Ein weiteres Ziel ist, die Systeme in ein Portal einzubetten, welches am ZNL neu erstellt wird und Hintergrundinformationen zur LRS, insbesondere deren Ursachen, Risikofaktoren und Behandlungsmöglichkeiten, sowie nähere Hinweise zum CASPAR-Projekt und dessen Ansprechpartner vorhalten wird. Der Zugang zu den Diagnose- und Fördersystemen soll dabei über einen Login-Mechanismus erfolgen.


Materialien zur Diagnose und Förderung der Phonemdiskrimination

Für die Diagnose von Defiziten der Phonemdiskrimination und deren Abschwächung wurden auf der Grundlage von Flash und Actionscript interaktive Spielszenen entwickelt, in die Testeinheiten zur Unterscheidung akustischer Stimuli eingebettet sind. Als Szenario wurde eine kindgerecht gestaltete Unterwasserwelt gewählt. Als Charaktere zum Transport der Stimuli dienen "sprechende" Fische und andere Wassertiere, mit denen sich Kinder leicht identifizieren können. Dieses Szenario soll später auch für Diagnose- und Fördersysteme zu den anderen Bereichen kognitiver Defizite bei LRS genutzt werden [4].

Akustische Stimuli

Als akustische Stimuli werden kurze Pseudowörter verwendet, also Wörter, die aus einer Kombination von Phonemen zusammengesetzt sind und keine Bedeutung haben .Im Diagnosetool haben die Pseudowörter die Form Konsonant – Vokal – Konsonant, wobei auch Konsonantenverbindungen zum Einsatz kommen. Im Diagnosetool wird ausschließlich die Diskrimination von Konsonanten überprüft. Ungleiche Konsonanten unterscheiden sich dabei in der Stimmhaftigkeit(/gap/ versus /kap/) oder im Artikulationsort (/pulf/ versus /pulch/). Dabei befindet sich der Lautunterschied entweder in initialer bzw. finaler Silbenposition (/drap/ versus /trap/ bzw. /hups/ versus /huts/). Im Fördertool ist der Aufbau der Pseudowörter variabler gestaltet, z.B. nach den Mustern Vokal - Konsonant, Konsonant - Vokal, Konsonant - Vokal - Konsonant bzw. Vokal - Konsonant – Vokal. Die Phonemdiskrimination wird hier sowohl für Vokale, als auch für Konsonanten trainiert. Mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad der Aufgaben werden sich die zu unterscheidenden Phoneme immer ähnlicher und es werden zunehmend Konsonantenverbindungen eingesetzt. Insgesamt stehen derzeit 800 Stimuli für die Diagnose- und Fördermaterialien zur Verfügung. Sie wurden im Tonstudio des Transferzentrums mithilfe einer professionellen Hardware aufgenommen und mit dem Programm Adobe Audition 1.5 nachbearbeitet, um die Lautstärke zu normalisieren und Artefakte auszublenden. Sie liegen als mp3-Dateien in hoher Bitrate vor.

Diagnosesystem

Der Handlungshintergrund im Diagnosesystem ist eine Lehrer-Kind-Situation, die über zwei Fische szenisch umgesetzt ist (Abbildung 1 [Abb. 1]). Der "Papa-Fisch" spricht jeweils ein "Wort" vor, sein "kleiner Sohn" spricht es nach, und das Kind muss als Proband entscheiden, ob das Wort richtig nachgesprochen wurde. Auf diese Weise kann getestet werden, ob gleiche Phoneme als gleich und unterschiedliche Phoneme als ungleich erkannt werden können. Die Antworten der Kinder werden nicht kommentiert, aber zur Auswertung in einer Datenbank gespeichert.

Eine Diagnosesitzung beginnt mit einer für Kinder verständlichen Einführung, in der die Szene und die damit verbundene Aufgabe von einer Hintergrundstimme erläutert wird. Mit dem Kind wird auch der genaue Ablauf des Tests geübt, indem einige Übungstrials bearbeitet werden Diese Einführung kann bei Bedarf übersprungen werden. Im anschließenden Diagnosedurchlauf werden 56 Stimuluspaare in fester Reihenfolge getestet, wobei jedes Paar nur einmal präsentiert wird. Von diesen 56 Paaren bestehen 26 aus zwei identischen Pseudowörtern und 30 aus Pseudowörtern, die sich in einem Konsonanten unterscheiden. Unter die verschiedenen Stimuluspaare sind einige leicht zu unterscheidende Paare eingestreut, die als Kontrollitems zur Überprüfung der Aufmerksamkeit der Probanden dienen. Nach dem Durchlauf wird das Testergebnis in Form einer Statistik präsentiert. Im weiteren Verlauf des Projekts soll an dieser Stelle zusätzlich eine Klassifikation des Testergebnisses erfolgen. Die Voraussetzungen hierfür werden derzeit erarbeitet.

Fördersystem

Im Vergleich zum Diagnosesystem ist das Fördersystem wesentlich aufwändiger gestaltet. Auch hier dienen Stimuluspaare, die als "gleich" oder "ungleich" beurteilt werden müssen, als Testeinheiten. Im Unterschied zum Diagnosesystem wird aber auf die Reaktion des Kindes eine Rückkopplung gegeben. Richtige Antworten werden lobend kommentiert und belohnt, auf falsche Antworten folgt eine Aufmunterung. Es gibt vier mit einander verbundene Spielszenen, die im Standardfall nacheinander bearbeitet werden. Mit jeder Spielszene ist eine eigene Aufgabe verbunden, die zu Beginn der Szene von einer Spielfigur erläutert wird. Die Präsentationslogik der Stimuli in den einzelnen Szenen variiert.

In Szene 1 ("Puzzle", vgl. Abbildung 2 [Abb. 2]) sprechen Muscheln im Muster des Diagnosesystems Pseudowörter, die als "gleich" oder "ungleich" zu beurteilen sind. Im Zweifelsfall können die Phoneme erneut gehört werden. Als Belohnung für richtige Antworten werden Puzzleteile vergeben, die sich Schritt für Schritt zu einer Spielzeugfigur zusammensetzen. Die Aufgabe besteht darin, die Figur vollständig aufzubauen. Sie löst sich dann aus dem Puzzle und verbleibt für den Rest des Spiels in der Gesamtszene.

Die Szene 2 ("Pflanzensamen", vgl. Abbildung 3 [Abb. 3]) gleicht im Spielprinzip der ersten Spielszene. Es treten jedoch andere Tiere auf. Als Belohnung winken hier Pflanzensamen, die nach Spielende die Korallenbucht verschönern. Hier besteht die Aufgabe darin, einen Sack vollständig mit Pflanzensamen zu füllen.

In Szene 3 ("Höhlensteine", vgl. Abbildung 4 [Abb. 4]) ist ein Walfisch in einer Höhle eingeschlossen, deren Eingang durch Steine verlegt ist. Jedem dieser Steine ist ein Stimulus zugeordnet, und es gilt aus drei gerade aktiven Steinen, von denen zwei den gleichen Stimulus repräsentieren, den einen ungleichen auszuwählen. Die Stimuli ertönen beim Überfahren der Steine mit der Maus. Durch Mausklick auf den Stein mit dem ungleichen Phonem wird dieser Stein aus dem Steinhaufen entfernt. Die Aufgabe ist mit der Befreiung des Walfischs aus der Höhle erfüllt.

Szene 4 ("Freunde", vgl. Abbildung 5 [Abb. 5]) beginnt, wenn der Höhleneingang frei geräumt ist. Es erscheinen an wechselnden Stellen drei Augenpaare, denen jeweils Stimuli zugeordnet sind, die durch Überfahren mit der Maus aktiviert werden können. Hier besteht die Aufgabe darin, jeweils zwei gleiche Stimuli durch Klick auszuwählen. Bei einer richtigen Antwort werden aus den Augenpaaren Fische, die aus der Höhle schwimmen und als neue "Freunde" Flummis im Spielfeld verbleiben. Die mit der Szene verbundene Aufgabe ist erfüllt, wenn alle Freunde befreit sind.

Jede dieser Spielszenen kann in vier Schwierigkeitsstufen (Level) durchgearbeitet werden. Dabei sind den einzelnen Schwierigkeitsstufen bestimmte Phonemklassen zugeordnet, die eine bestimmte Diskriminationsleistung erfordern. In Schwierigkeitsstufe 1 gilt es z. B. Vokale zu unterscheiden. In der Schwierigkeitsstufe 2 sind Konsonanten, die sich relativ unähnlich anhören (z.B. /m/ und /s/) zu diskriminieren, während in Schwierigkeitsstufe 3 ähnlich klingende Konsonanten unterschieden werden müssen (z.B. /g/ und /k/). Die Aufgaben mit der größten Schwierigkeitsstufe finden sich in Level 4. Dort sollen die Kinder ähnlich klingende Konsonanten, die zusätzlich noch in Konsonantenverbindungen eingebettet sind, unterscheiden (z.B. /gr/ vs. /kr/). In den vier Spielszenen, die zu einem bestimmten Level gehören, variieren die verwendeten Pseudowörter bezüglich des Silbenaufbaus und steigern sich auch innerhalb des Levels im Schwierigkeitsgrad von Spiel 1 zu Spiel 3.

Am Beginn und Ende einer Fördersitzung steht eine Leitszene, in der ein Krebs das weitere Vorgehen erklärt, und in der sich die als Belohnung in den Einzelspielen erworbenen Objekte befinden (Spielzeuge, Pflanzen, Freunde), vgl. Abbildung 6 [Abb. 6].

Stimulusauswahl

In jedem Level sind für jede der vier Spielszenen 30 Stimuluspaare vorgesehen. Diese Stimuli sind in den Spielszenen 1 bis 3 für jedes Level als Pool festgelegt und werden zufällig ausgewählt. Richtig erkannte Stimuluspaare werden nicht erneut präsentiert. Falsch erkannte können erneut präsentiert werden, allerdings erst wenn alle Stimuluspaare, die einer Spielszene in einem Level zugeordnet sind, mindestens einmal selektiert waren.

In Spielszene 1 und 2 werden die Stimuli pro Testeinheit paarweise präsentiert und müssen als gleich oder ungleich erkannt werden. In den Spielszenen 3 und 4 werden die Stimuluspaare in Tripeln aus zwei gleichen und einem ungleichen Stimulus wiedergegeben, wobei in Szene 3 der eine ungleiche erkannt werden muss, in Szene 4 die beiden gleichen, um die Testeinheit richtig zu lösen.

Um die Spielszene auf einem Level erfolgreich abzuschließen und eine Spielrunde weiter zu kommen, müssen 20 Stimuluspaare richtig erkannt werden. Nach diesem Prinzip bleiben je Spielszene 10 Stimuluspaare übrig, die entweder falsch erkannt oder nicht präsentiert waren. Diese 10 Paare werden in den Spielszenen 1 bis 3 "aufgesammelt" und bilden den Stimulus-Pool der Szene 4. Auf diese Weise wird ein adaptives Verhalten des Fördersystems auf Spielebene und Levelebene erreicht.

Die Förderung hat größere Aussicht auf Erfolg, wenn die Kinder über längere Zeit mit dem Computerspiel ihre Lautunterscheidungsfähigkeiten schulen können. Deshalb wurde großer Wert auf die Erstellung eines komplexen Spiels mit verschiedenen Spielszenen in verschiedenen Levels gelegt. Die große Zahl der Stimuli (360 Stimuluspaare) lässt es nicht zu, dass alle Spielszenen innerhalb einer Fördersitzung durchgearbeitet werden können. Daher können Sitzungen unterbrochen werden, und der erreichte Bearbeitungsstand kann zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden. Dazu wird für jeden Nutzer ein Profil angelegt, in welchem das zuletzt gespielte Spiel im maximal erreichten Level abgespeichert ist. Spiele, die bereits erfolgreich abgeschlossen wurden, können jederzeit erneut gespielt werden.


Technische Realisierung

System-Architektur

Die Diagnose- und Fördersysteme in CASPAR sind als Web-Applikation realisiert und in ein Portal eingebunden [5]. Die Spielszenen sind in Flash Profesional 8 [6] und ActionScript 2.0 [7] implementiert. Sie werden über das ActionScript-Web-API dynamisch vom Web-Server kontrolliert und mit den Stimuli und mit Informationen aus dem Benutzerprofil gefüllt. Umgekehrt werden über diese Schnittstelle die Testergebnisse aus den Spielszenen zum Web-Server geschickt. Die dazu notwendige Logik wird dort in Form von Java Servlets [8] vorgehalten. Die Anwendungsdaten, d.h. die statische bzw. die benutzerabhängige Zuordnung der Stimulus-Pools zu den Spielszenen, die Testergebnisse sowie die Benutzerprofile werden in einer MySQL-Datenbank gespeichert (Abbildung 7 [Abb. 7]).

Datenmodell

Das Datenmodell des Gesamtsystems bezieht sich auf die Benutzerdaten, die statischen Testdaten sowie die Repräsentation der dynamisch in den Diagnose- bzw. Therapiesitzungen entstehenden Testergebnisse, welche in einer MySQL-Datenbank verwaltet werden. Das Datenmodell zur Repräsentation der Testergebnisse ist in Abbildung 8 [Abb. 8] wiedergegeben. Die Kinder, die das System nutzen, sind als Probanden repräsentiert. Sie sind stets einem Zugang (Benutzerkonto) zugeordnet. Die Zugänge sind passwort-geschützt und werden durch das ZNL vergeben. Es sind Kindergarten- und Privatzugänge vorgesehen. Eine Änderung der Zuordnung zu einem Zugang oder das Löschen eines Probanden sind möglich. Probanden können Diagnose- bzw. Therapiesitzungen zugeordnet sein. Diagnosesitzungen sind in sich abgeschlossen und finden zu einem bestimmten Zeitpunkt statt. Die Ergebnisdaten sind Antworten eines Probanden auf eine Sequenz von Stimuluspaaren und eine Beurteilung dieser Antworten. Therapiesitzungen sind eine Folge von Einzelsitzungen, in denen schrittweise die Spielszenen mit den ihnen zugeordneten Stimuluspaaren in den verschiednen Schwierigkeits-Levels durchgearbeitet werden. Dabei sind diese Stimuluspaare im Testdatenmodell z. T. fest den Szenen zugeordnet, z. T. ergeben sie sich dynamisch und adaptiv aus dem Verhalten des Probanden.


Ergebnisse einer Pilotstudie

Pilotstudie

Die Entwicklung der Systeme ist weitgehend abgeschlossen. Das auditive Diagnosesystem wurde in einer Pilotstudie evaluiert. Dabei standen als Forschungsfragen im Vordergrund, ob das Instrument als Testverfahren für den Einsatz bei Kindergartenkindern grundsätzlich geeignet ist, und ob die Testergebnisse plausibel und mit Ergebnissen aus der Literatur vereinbar sind. Die Pilotstudie wurde an 8 städtischen Kindergärten in Ulm durchgeführt. Die Stichprobe bestand aus 96 Kindern im letzten Kindergartenjahr (57 m/39 w). 72 Kindern hatten Deutsch als Muttersprache. Die Kinder wurden in jeweils ca. 10 minütigen Einzeltests in einem separaten Raum an einem Laptop mit Kopfhörer getestet. Eine Psychologin bediente das System, das Kind antwortete mündlich.

Insgesamt zeigte sich ein schnelles Aufgabenverständnis der Kinder in der computervermittelten Darbietung und eine hohe Motivation: Kein Kind brach den Test aus Langeweile ab, einzelne Kinder wollten "das Spiel" noch einmal spielen. Wie zu erwarten lag der Anteil falscher Antworten bei verschiedenen Itempaaren deutlich über dem Anteil falscher Antworten bei gleichen Itempaaren (vgl. Abbildung 9 [Abb. 9]). Falsche Antworten waren bei den ungleichen Teststimuluspaaren deutlich häufiger als bei den ungleichen Kontrollstimuluspaaren, was ebenso zu erwarten war (vgl. Abbildung 10 [Abb. 10]). Stimuluspaare mit Konsonantenverbindungen konnten deutlich schwerer unterschieden werden als Stimuluspaare mit Einzelkonsonanten. Fazit: Die Ergebnisse sind plausibel. Die Schwierigkeit der Items spiegelt sich in den Fehlerzahlen wider. Kontrollitems können zur Überprüfung der Aufmerksamkeit herangezogen werden.

Validierungs- und Normierungsstudie

Von Oktober – Dezember 2005 wurde eine Validierungs- und Normierungsstudie des Diagnosesystems durchgeführt, an der 280 Kindergartenkinder im letzten Kindergartenjahr vor der Einschulung teilnahmen. Die Ergebnisse dieser Studie liegen noch nicht vollständig vor. Ziel ist zum einen, das Diagnosesystem zu validieren, indem die Ergebnisse, die die Kinder in unserem computergestützten Diagnosetool erzielen, mit denen in einem etablierten Papier- und Bleistifttest zur Phonemdiskrimination verglichen werden. Des weiteren ist geplant, aus den Daten vorläufige Normen zur Interpretation der Testergebnisse zu gewinnen. Die Implementierung des auditiven Fördersystems und dessen Integration in das Web-Portal ist weitgehend abgeschlossen. Die Validierung der Fördermaterialien steht noch aus.


Danksagung

Das Projekt CASPAR wird 2005-06 gefördert durch das Schwerpunktprogramm für die Fachhochschulen: "Innovative Projekte / Kooperationsprojekte" Baden-Württemberg


Literatur

1.
Schulte-Körne G, Remschmidt H. Legasthenie - Symptomatik, Diagnostik, Ursachen, Verlauf und Behandlung. Deutsches Ärzteblatt. 2003;100(7):A396-406.
2.
Tallal. Experimental studies of language learning impairments: From research to remediation. In: Bishop DB, Leonard LB, eds. Speech and language impairments in children. Hove: Psychology Press; 2000.
3.
Scientific Learning Fast For Word Family of Products. http://www.scilearn.com/
4.
Krammer S, Vogt K, Steinbrink C, Mayer J, Halici Ö, Kruse S, Bernauer J. Computergestützte Diagnostik und Therapie von Störungen der Phonemdiskrimination im Projekt CASPAR. In: Rexer H, Friedrich M, Frankhänel A, Thorn K, Hrsg. Tagungsband 9. DVMD-Fachtagung. Alius Verlag; 2006. p. 424-9.
5.
Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen ZNL. http://www.znl-caspar.de.
6.
Flash Professional 8. http://www.adobe.com/de/products/flash.
7.
ActionScript 2.0. http://www.adobe.com/de/devnet/flash/actionscript.html.
8.
Hunter J. Java Servlet Programming. O'Reilly; 2000.