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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Ein Jahr Allgemeinmedizin während der COVID-19-Pandemie – Darstellung und Evaluation der digitalen medizinischen Ausbildung

Artikel Allgemeinmedizin

  • corresponding author Piet van der Keylen - Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Allgemeinmedizinisches Institut, Universitätsklinikum Erlangen, Erlangen, Deutschland
  • author Nikoletta Zeschick - Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Allgemeinmedizinisches Institut, Universitätsklinikum Erlangen, Erlangen, Deutschland
  • author Anna-Lena Langer - Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Allgemeinmedizinisches Institut, Universitätsklinikum Erlangen, Erlangen, Deutschland
  • author Thomas Kühlein - Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Allgemeinmedizinisches Institut, Universitätsklinikum Erlangen, Erlangen, Deutschland
  • author Marco Roos - Universität Augsburg, Medizinische Fakultät, Lehrstuhl für Allgemeinmedizin, Augsburg, Deutschland

GMS J Med Educ 2022;39(3):Doc29

doi: 10.3205/zma001550, urn:nbn:de:0183-zma0015509

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2022-39/zma001550.shtml

Eingereicht: 28. Februar 2022
Überarbeitet: 21. April 2022
Angenommen: 5. Mai 2022
Veröffentlicht: 15. Juli 2022

© 2022 van der Keylen et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund und Lehrsituation: Die SARS-CoV-2-Pandemie wirkte sich didaktisch stark auf den medizinischen Lehrbetrieb aus. In Erlangen wurde die Vorlesung Allgemeinmedizin asynchron und digital im Inverted Classroom-Konzept angeboten. Inhalte waren über eine Lernplattform verfügbar. Die Vermittlung erfolgte mit kommentierten Videos, vertiefenden Materialien und Kontrollfragen. Ein Forum ermunterte zu Diskussion und Feedback und sammelte Vertiefungsaspekte für eine fallbasierte Videosprechstunde. Ziel der Arbeit ist die Evaluation und kritische Auseinandersetzung mit dem digitalen Lehrkonzept während der SARS-CoV-2-Pandemie.

Methodik: Zwei Semesterkohorten evaluierten die Veranstaltung. Es wurden der Gesamteindruck der Veranstaltung, didaktische Elemente, deren Eignung und die künftig gewünschte Vorlesungsform quantitativ erfragt. Freitextantworten wurden mittels qualitativer Inhaltssynthese ausgewertet.

Ergebnisse: Im Gesamteindruck bewerteten die Studierenden (N=199) die Vorlesung durchschnittlich als „sehr gut“ (M=1.41, SD=.57). Digitale Methoden wurden als geeignet für die Unterstützung des Selbststudiums empfunden und die digitale Anwendung als problemlos bewertet (M=1.18, SD=.50). Gewünschte künftige Lehrformate waren Blended Learning-Konzepte (79.4%). Gelobt wurden Organisation, Struktur und inhaltliche Darstellung. Kritisch gesehen wurde der Zeitfaktor zum Absolvieren der Veranstaltung. Die Studierenden forderten mehr praxisnahes und vertiefendes Arbeiten.

Diskussion und Implikationen: Die Ergebnisse verdeutlichten die hohe Akzeptanz digitaler Lehre und unterstreichen die Forderung nach zukünftigen Blended Learning-Konzepten. Besonders gilt es, den Zeitaufwand und Praxisnähe digitaler Selbstlernmechanismen seitens der Studierenden besser zu berücksichtigen.

Schlüsselwörter: digitale Lehre, COVID-19, Allgemeinmedizin, Inverted Classroom, Blended Learning


1. Hintergrund

1.1. Auswirkungen der Pandemie

Die SARS-CoV-2-Pandemie hat in Deutschland Rahmenbedingungen generiert [1], die Potential für nachhaltige Veränderungen im medizinischen Lehrbetrieb und Didaktik bieten können. Eine Herausforderung lag in der nachhaltigen Transformation etablierter Lehrveranstaltungen in ein modernes, digitales Format in kurzer Zeit. Obwohl der Masterplan Medizinstudium 2020 und der Wissenschaftsrat schon lange auf die Dringlichkeit einer Digitalisierung der medizinischen Lehre hinweisen [2], [3] hat, hat erst die SARS-CoV-2-Pandemie den notwendigen Druck erzeugt, konkret zu handeln. Auch die medizinischen Fakultäten sind sich der Bedeutung der Digitalisierung des Gesundheitssystems sowie den Auswirkungen auf das medizinische Curriculum bewusst [4].

1.2. Lehrsituation

Erlangen verankert die Allgemeinmedizin im 1. klinischen Semester als Vorlesung mit zwei Semesterwochenstunden (SWS). Inhaltliche Kernelemente sind primärmedizinisches Arbeiten bei akuten Beratungsanlässen im Niedrigprävalenzbereich, die Versorgung von Patient*innen mit häufigen (chronischen) Erkrankungen und Methoden der (auch digitalen) Informationsgewinnung im Sinne evidenzbasierter Medizin. Präpandemisch war die Lehrsituation der Allgemeinmedizin im Stil einer Präsenzvorlesung inhaltsvermittelnd organisiert und erfolgte anhand von Konsultationsanlässen. Inhalte wurden bereits zuvor über die ILIAS-Lernplattform bereitgestellt. Diese Lernplattform und ihre digitalen Möglichkeiten nutzend, wurden im Sommersemester 2020 die „Vorlesung Allgemeinmedizin“ und das klinische Wahlfach „Kluge Entscheidungen im klinischen Alltag“ erstmals vollständig digital angeboten [5], [6]. Didaktische Leitidee war die Digitalisierung allgemeinmedizinischer Lehre auch curricular zu forcieren [7]. Zudem zeigen auch andere Fächer innerhalb des medizinischen Curriculums Bestrebungen digitale Lehre mittels Inverted Classroom Modellen zu transformieren [8], [9], [10]. Neben einer Veränderung der Lehrmethode wurden Lernziele in ihrer Komplexität von einer eher inhaltsvermittelnden Ebene auf eine reflektierend-vertiefende transformiert. Damit wird die Heterogenität medizinischer Handlungsweisen in der Allgemeinmedizin, jenseits reinem Inhaltswissens und der Leitlinien, besser vermittelt. Die vorliegende Arbeit stellt ein asynchrones, vollständig digitales Konzept für die allgemeinmedizinische curriculare Lehre vor. Primäre Forschungsfragen der Arbeit sind:

  • Wie bewerten Studierende das vorgestellte Konzept?
  • Welche Verbesserungspotentiale ergeben sich und welches digitale Format wird von den Studierenden künftig gewünscht?

So sollen Ansätze für eine Weiterentwicklung nach SARS-CoV-2 erarbeitet werden.


2. Konzept und Methoden

Die Vorlesungsinhalte wurden asynchron angeboten, d.h. die Kommunikation und Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden fand zeitlich versetzt statt. Auf Basis einer Pilotierungsarbeit [6] wurden didaktische und inhaltliche Anpassungen (v.a. Verbesserung des Videomaterials, reine audio-kommentierte Präsentationen wurden nun zusätzlich videokommentiert und mit weiterführenden Inhalten, wie Links und QR-Codes versehen) für die hier vorgestellten Folgesemester (Wintersemester 2020/2021 und Sommersemester 2021) vorgenommen.

2.1. Digitale Umsetzung

Die Zeitslots der vormals 90-minütigen Vorlesungen wurden als videokommentierte Aufzeichnungen angeboten. Dafür wurde jede Vorlesung in drei bis fünf kleinere, kürzere und inhaltlich abgrenzbare Themenblöcke (10 bis 30 Minuten, „segmenting principle“) [11] unterteilt und mittels audio- oder videokommentierter Präsentation (.mp4) über die ILIAS Lernplattform [https://www.studon.fau.de] zur Verfügung gestellt. Die Gesamtdauer der Videoinhalte sollte dabei pro Vorlesung nun maximal 45-60 Minuten betragen, um die Inhaltsvermittlung zu reduzieren und im Sinne des Inverted Classroom-Konzepts der Auseinandersetzung mit den Inhalten und höheren Lernzielkomplexitäten mehr Raum zu geben. Die Inhalte des gesamten Semesters waren ab dem zweiten Online-Semester bereits zu Beginn des Semesters verfügbar, um ein noch individuelleres, zeit- und ortsunabhängigeres Lernen zu ermöglichen. Um einzelne Themenblöcke zu vertiefen, wurden aktivierende Aufträge für das Selbststudium in die Lernplattform integriert. So sollte einer digitalen Passivität bereits bei der Inhaltsvermittlung entgegengewirkt werden. Der oft unvermeidlich theoretische Inhalt wurde auf Patientenfälle angewendet oder es erfolgte eine reflektierende Auseinandersetzung mit Leitlinienempfehlungen oder Forschungsarbeiten. Nach dieser Art der Inhaltsdarstellung wurden, über die Lehrplattform, digitale Übungsfragen zur Selbstkontrolle bereitgestellt. Diese waren mit einer Feedback- und Erklärungsfunktion ausgestattet. Um möglichen inhaltlichen Unklarheiten im Selbststudium zu begegnen, wurde ein interaktives Forum über die Lehrplattform angeboten, in dem eine Eigendiskussion der Studierenden, Feedbackmöglichkeiten und Austausch und Interaktion mit den Dozierenden angeboten wurde. Wöchentlich wurde zudem eine reflektierende Videosprechstunde mit den Dozierenden angeboten (universitätsinterne Zoom-Plattform). Dieser 45 bis 60-minütige Live-Termin diente mehreren didaktischen Grundideen:

1.
Der Möglichkeit der persönlichen Distanzüberbrückung zu den Dozierenden („personalization principle“) [12].
2.
Der Möglichkeit einer optionalen Lern- und Zeitstruktur als Hilfe für Studierende, die eine Lernumgebung ohne Zeit- und Ortsverpflichtung als unzureichend empfinden.
3.
Dem Vertiefen der Inhalte (und nicht deren Wiederholung) im Sinne der Prüfungsvorbereitung.

So entstand eine digitale Variante eines Inverted Classroom-Konzepts [13]. Diese bot nun die Möglichkeit des reflexiven Lernens in asynchroner, orts- und zeitunabhängiger Umgebung, ein hochindividuelles Lerntempo mit stetig wiederkehrenden Kontaktpunkten zu den Dozierenden über ein betreutes Forum und virtuellen Präsenzsprechstunden. Abbildung 1 [Abb. 1] zeigt das didaktische Lehrkonzept.

2.2. Evaluation

Nach Abschluss der Vorlesung erfolgte eine anonyme Evaluation über die interne Lernplattform durch die Studierenden. Diese enthielt selbstentwickelte Items, die auf das entwickelte digitale Konzept der Veranstaltung jenseits der summativen Gesamtevaluation durch die Fakultät abgestimmt waren. Es wurden der Gesamteindruck der Veranstaltung, die Bewertung der didaktischen Elemente und Methoden, die Klarheit der digitalen Instruktionen sowie die künftig gewünschte Präsenzform erfragt. Das Antwortformat folgte dem Schulnotenprinzip (Note 1-6) oder einer 5-stufigen Likert Skala („stimme voll und ganz zu“ bis „stimme überhaupt nicht zu“). Zuletzt waren auch Freitextantworten zu weiteren, gewünschten digitalen Elementen und einer offenen Kritik möglich. Die offene, qualitative Freitextevaluation bestand aus zwei Fragen:

1.
Welche weiteren digitalen Elemente würden Sie sich für die Vorlesung in Zukunft wünschen?
2.
Welche sonstigen, offenen Wünsche haben Sie (Feedback, weitere Verbesserungsvorschläge)?

Die quantitative Auswertung erfolge durch Export der Daten aus der Lernplattform in ein Excel-Format zur Aufbereitung und Darstellung (Excel 2019, Microsoft Systems, Redmond, WA, USA). Die Freitextantworten wurden mittels qualitativer induktiver Inhaltssynthese [14] durch Kategorienbildung mit Hilfe der Software QCAmap [https://www.qcamap.org] aufbereitet.


3. Ergebnisse

3.1. Quantitative Evaluation

Den Gesamteindruck der Vorlesung nach deutschen Schulnoten (Rücklaufquote N=199/343; 58,0%, siehe Abbildung 2 [Abb. 2]) bewerteten die Studierenden durchschnittlich als „sehr gut“ (M=1.41, SD=.57). Digitale Elemente und Methoden wurden als überwiegend geeignet für die Unterstützung des Selbststudiums empfunden. Am besten bewertet wurden die digitalen Vorlesungsvideos (M=1.19, SD=.49) im Vergleich zum noch ausbaufähigen Forum (M=2.11, SD=1.05). Die Instruktionen für die digitale Anwendung wurden als überwiegend klar (M=1.42, SD=.72) und problemlos bewertet (M=1.18, SD=.50). Die vorranging gewünschten künftigen Lehr- und Lernformate für die Vorlesungsreihe Allgemeinmedizin waren „Schwerpunkt digital mit vertiefenden Präsenzphasen“ (42.7%; N=85) und „Schwerpunkt Präsenz nur digital unterstützt“ (36.7%; N=73). Lediglich 3.5% der Studierenden wünschten sich eine reine Präsenzveranstaltung.

3.2. Qualitative Evaluation

Abbildung 3 [Abb. 3] zeigt die nach induktiver Inhaltssynthese aufbereiteten Kategorien, Subkategorien und Einzelaspekte der Freitextkommentare der beiden offenen Fragen. Es wurden zwei Hauptkategorien „Lob“ und „Kritik und Verbesserungsvorschläge“ gebildet. Pro Hauptkategorie entstanden jeweils drei Subkategorien, welche wiederum jeweils bis zu drei Einzelaspekte berücksichtigten. Dabei konnten die Einzelaspekte nach Anzahl ihrer Nennungen in einer absteigenden Rangfolge gewichtet werden.


4. Diskussion

Die quantitative Evaluation zweier Semesterkohorten in der Allgemeinmedizin zeigt die sehr gute Akzeptanz asynchroner, digitaler Lehre seitens der Studierenden in Pandemiezeiten. Besonders prominent war die Forderung nach Blended Learning Lehrkonzepten. Rein digitale oder reine Präsenzveranstaltungen wurden für die zukünftige Lehre in der Allgemeinmedizin kaum gefordert. Die qualitativen Aussagen untermauern die quantitative Evaluation vor allem in den Subkategorien Organisation, Struktur und Inhalt. Es wurde aber auch konkretes Verbesserungspotential für das Lehrkonzept aufgezeigt. Dabei ist als profundeste Kritik seitens der Studierenden der als zu hoch empfundene Zeitaufwand zu nennen. Außerdem zeigt sich in distanzierten Lehr- und Lernzeiten die Forderung nach noch mehr inhaltlicher Auseinandersetzung und aktiver Übung mit den Inhalten. Nur nachrangig spielen technische Aspekte wie die Forderung nach einer individuellen Abspielgeschwindigkeit von Video- und Tonmaterial eine Rolle.

4.1. Faktor: Zeit

Obschon asynchrone und digitale Lehre den Studierenden viel Flexibilität, ein individuelles Lerntempo und örtliche Ungebundenheit im klinischen Lehrbetrieb ermöglicht, bietet das Konzept Potential zur Verbesserung. Der Hauptkritikpunkt seitens der Studierenden war der erhöhte Zeitfaktor zur Bearbeitung der Veranstaltung. Sowohl Erarbeitungs- wie auch Vertiefungsphasen sind bei der Aufwandsberechnung zu berücksichtigen, um Studierende nicht mit einer „digital on top“ Maßnahme zusätzlich zu belasten. Betrachtet man den zeitlichen Aufwand für die Inhaltserarbeitung (45-60 min.), die Vertiefung durch die Sprechstunde (45-60 min.), sowie für die Eigenvertiefung durch Übungen und Kontrollfragen (5-15 min.), erscheint die Arbeitslast deutlich höher als zwei SWS. Lehrdidaktisch sollte jedoch nicht nur der reine Zeitaufwand gegeneinander aufgewogen werden, sondern auch die effektiv genutzte Zeit der Studierenden. Das vorgestellte Konzept verlegt den wesentlichen Anteil des vertiefenden Selbststudiums und der Prüfungsvorbereitung in eine Phase gemeinsam mit den Dozierenden, mit digitaler Anbindung und Anleitung. Somit kann das Selbststudium nicht nur flexibel strukturiert, sondern für die Studierenden auch die Vorbereitungsphase auf die Klausur zeiteffektiv entlastet werden. Besonders die passive Inhaltsvermittlung birgt bei der Digitalisierung Potential für Demotivation [15] und muss sich hin zum aktivem Umgang mit Inhalten, einer reflexiven Vertiefung und einer praxisnahen Anwendung verschieben. Lernportale der Fakultäten sollten zudem gängige Individualisierungsfunktionalitäten (z.B. für individuelle Abspielgeschwindigkeiten) implementieren, um die digitale Lehre auch technisch zu stärken.

4.2. Anwendungsorientiertere Lehre

Ein Wunsch nach praxisnäherer Lehre zeigt sich in Forderungen nach mehr Leitlinienarbeit, Übungs- oder Kontrollfragen gemeinsam mit den Dozierenden und Praxisbeispielen. Einerseits verdeutlicht dies Entwicklungspotential für die Vermittlung allgemeinmedizinsicher Lehrinhalte anhand von konkreten Arbeitssituationen im Handlungsfeld. Andererseits zeigt der Wunsch nach dem aktiven und reflexiven Umgang mit Informationen auf, dass der theoretischen Informationsvermittlung noch zu viel Zeit zugesprochen wird. Dies ist besonders relevant, weil eine reflexive Vertiefung Übungspotential während des Semesters bietet und so die Prüfungsvorbereitungszeit im Selbststudium maßgeblich entlasten kann. Auch hier entstehen Stellschrauben für ein effektiveres Nutzen studentischer Lernzeit durch das vorgestellte Konzept.

4.3. Physische Distanzen überbrücken

Das Konzept bietet die Chance, Studierende zu motivieren und Flexibilität im digitalen medizinischen Curriculum zu gewähren [16]. Der physischen Distanz kann durch eine digitale Sprechstunde oder ein asynchrones Forum proaktiv begegnet werden und so motivierende Selbstlernstrategien begünstigen. Die evaluierte Wertschätzung (im Sinne des von den Studierenden erlebten menschlichen und digitalen Engagements in diesem Konzept während der Pandemie) zeigt, dass eine emotionale Anbindung der Studierenden an ein asynchron und digital gelehrtes klinisches Fach erzeugt werden kann [17]. Digitale Lehre kann dabei auch in Lehrveranstaltungen mit Patient*innenkontakt erfolgreich Einsatz finden [18], [19].

4.4. Selbststudium forcieren

Studierende bewerten verschiedene digitale Elemente differenziert in ihrer Eignung für das Selbststudium. Die inhaltsvermittelnden kommentierten Videos und die Kontrollfragen werden am geeignetsten für das Selbststudium empfunden. Vertiefende und reflexive Elemente wie weiterführende Literatur und Videosprechstunde schneiden dahingehend ein wenig schlechter ab. Das interaktive Forum wird zwar noch immer von mehr als 70% der Studierenden als geeignet empfunden, fällt aber in der Eignung für das Selbststudium als digitale Methode deutlicher ab. Hier ergeben sich wichtige Implikationen für die digitale Lehre nach dem Inverted Classroom-Konzept innerhalb der Medizin:

1.
Studierende der Medizin sollten frühzeitig mit dem Inverted Classroom-Konzept konfrontiert werden, stehen doch besonders im 1. klinischen Semester immer noch rein inhaltsvermittelnde Lernziele der klinischen Fächer im Fokus der Studierenden. Die Verschiebung zu geeigneten Selbstlernstrategien sollte bereits frühzeitig erfolgen, sind diese eine wichtige Grundlage für die spätere ärztliche Fort- und Weiterbildung.
2.
Hierfür müssen digitale Elemente bezüglich ihrer Eignung für das Selbststudium überprüft werden. Besonders digitale Elemente wie die Sprechstunde und das Forum müssen deutlichen und spürbaren Mehrwert für die Studierenden im Hinblick auf Vertiefung und Prüfungsvorbereitung bieten. Sonst werden diese als rein digitale Vermittlung von Inhalten on top wahrgenommen. Die offene Kommunikation von Erwartungen, Lehrkonzept und didaktischer Methode kann dabei den Studierenden helfen zufriedener mit der digitalen Lehre zu sein [20].
4.5. Quo vadis – Blended Learning in der Medizin?

Die neue Normalität [21] bedingt eine Überprüfung aller vorklinischen und klinischen Disziplinen auf ihr Digitalisierungspotential hin. Wie unsere Voruntersuchung, die vorliegende Arbeit und eine weitere Studie zeigen, liegt der Fokus digitaler Lehrkonzepte künftig besonders auf Blended Learning Unterrichtskonzepten [6], [17]. Dozierende sahen sich jedoch zunächst mit einem erhöhten Zeitaufwand für die Erarbeitung digitaler Konzepte konfrontiert, was sich in einer zusätzlichen Belastung äußerte [22], [23]. Die Anerkennung digitaler Lehre (z.B. Lehrdeputatsberechnung, digitale Didaktikausbildung) seitens der Fakultäten sind ein wichtiger Schritt zur Anerkennung und Förderung dieser Lehrleistungen. Dies ist auch notwendig, damit der erhöhte Arbeitsaufwand für Studierende wie Dozierende in den Pilotierungssemestern nicht abschreckend wirkt und zu einer postpandemischen Rückkehr zu den gewohnten, rein inhaltsvermittelnden Formaten in der Medizin führt. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass Studierende mit einem strukturierten und offen kommunizierten asynchronen, digitalen Lehrkonzept im Inverted Classroom Modell in der Allgemeinmedizin sehr zufrieden waren. Für die Zukunft wünschen sie sich Blended Learning-Konzepte. Die digitale Flexibilität soll erhalten bleiben, die Phasen der Inhaltsvermittlung zu Gunsten der praxisnahen, vertiefenden Arbeit gemeinsam mit den Dozierenden gekürzt werden.


5. Limitationen

Die vorliegende Arbeit berichtet eine Evaluation zweier Semesterkohorten in der Allgemeinmedizin an einer bayerischen Universität im Studiengang Humanmedizin. Die Untersuchung kann daher zunächst nur einen Bericht des Status quo für das Fach der Allgemeinmedizin wiedergeben. Ein valider Vergleich des Konzepts innerhalb der eigenen Fakultät und mit anderen Universitäten ist aufgrund der Heterogenität der Lehrkonzepte nicht durchführbar. Bei der freiwilligen Evaluation kann zudem eine Stichprobenverzerrung durch unterschiedliche Teilnahmebereitschaft nicht ausgeschlossen werden.


Anmerkungen

Erstautorenschaft/Beteiligung der Autor*innen

Die Autor*innen Piet van der Keylen und Nikoletta Zeschick haben gleichermaßen zur vorliegenden Arbeit beigetragen und teilen sich die Erstautorenschaft.

PK und NZ waren verantwortlich für die Manuskripterstellung, Erhebung und Auswertung der Daten und Entwicklung der Evaluation. AL war verantwortlich für die Extraktion, Aufbereitung und Präsentation der Daten. TK und MR revidierten und überarbeiteten das Manuskript. MR und NZ entwickelten die Evaluation. PK, MR und TK waren gemeinsam verantwortlich für die Entwicklung und Durchführung der Lehridee. Die vorliegende Arbeit wurde unter (teilweiser) Erfüllung der Voraussetzungen zur Erlangung des Doktorgrads Dr. rer. biol. hum. für NZ erstellt.

Datenverfügbarkeit und Datenschutz

Alle erhobenen Primärdaten können in anonymisierter Form bei den Autor*innen angefragt werden. Durch die anonyme Erhebung mit einer internen und passwort- und zugriffsgesicherten Lehrplattform war zu jeder Zeit sichergestellt, dass nur Teilnehmer*innen der distinkten Veranstaltung evaluieren konnten. Zu keiner Zeit war eine Rückverfolgung zu einzelnen Teilnehmer*innen technisch möglich.


Danksagung

Wir bedanken uns herzlich bei den Studierenden der „Corona-Kohorten“, die für die Evaluation und damit die Durchführung der vorliegenden Arbeit zur Verfügung standen. Die Autor*innen bedanken sich bei der medizinischen Fakultät für die Beratung zur digitalen Umsetzung im Rahmen der Pandemiebedingungen.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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