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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Skepsis gegenüber fortschreitender VR-Technologie – die studentische Akzeptanz von VR als Lehr- und Prüfungsmedium in der Medizin

Artikel Virtual Reality

  • corresponding author Steffen Walter - Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Sektion Medizinische Psychologie, Ulm, Deutschland
  • author Robert Speidel - Universität Ulm, Medizinische Fakultät, Kompetenzzentrum eEducation in der Medizin, Ulm, Deutschland
  • author Alexander Hann - Universitätsklinikum Würzburg, Medizinische Klinik und Poliklinik II, Gastroenterologie, Würzburg, Deutschland
  • author Janine Leitner - Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Sektion Medizinische Psychologie, Ulm, Deutschland
  • author Lucia Jerg-Bretzke - Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Sektion Medizinische Psychologie, Ulm, Deutschland
  • author Peter Kropp - Universitätsmedizin Rostock, Institut für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Rostock, Deutschland
  • author Jakob Garbe - Universitätsklinikum Halle, Klinik für Innere Medizin I, Halle, Deutschland
  • author Florian Ebner - Helios Amper-Klinikum Dachau, Dachau, Deutschland

GMS J Med Educ 2021;38(6):Doc100

doi: 10.3205/zma001496, urn:nbn:de:0183-zma0014967

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2021-38/zma001496.shtml

Eingereicht: 27. Januar 2021
Überarbeitet: 17. Mai 2021
Angenommen: 25. Juni 2021
Veröffentlicht: 15. September 2021

© 2021 Walter et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Das hohe didaktische Potenzial von VR steht im Kontrast zur studentischen Einschätzung, dass die Technologie nur eine relativ geringe Bedeutung für die gegenwärtige und zukünftige Lehre hat. Diese Diskrepanz wurde differenziert untersucht, um die Weiterentwicklung und Implementierung von VR zielgruppenorientiert auszurichten.

Methodik: Von Januar bis Juli 2020 wurden Medizinstudierende (N=318) gebeten, zehn Videos online anzusehen und anhand von Akzeptanzindikatoren (z.B. Spaß und Fairness) zu bewerten. Am Beispiel der Geburtshilfe demonstrierten die Videos fünf teils visionäre Funktionsgrade der VR-Technologie (z.B. haptisches und adaptives Feedback) in zwei Einsatzszenarien (Lehre und OSCE-Prüfung). Die einzelnen und aggregierten Indikatoren wurden mit nicht-parametrischen Testverfahren zwischen den Einsatzszenarien, Funktionsgraden und Geschlechtern verglichen. Darüber hinaus wurden Zusammenhänge zwischen der Akzeptanz und den Faktoren Fachsemester, Alter, Computeraffinität und VR-Vorerfahrung analysiert.

Ergebnisse: Über alle Funktionsgrade hinweg wurde VR in der Lehre eher akzeptiert als in der OSCE-Prüfung. Die Vergleiche zwischen den Funktionsgraden offenbarten außerdem, dass der marktreife Status Quo von VR signifikant besser angenommen wurde als die visionären Funktionen. Diese Skepsis gegenüber der fortschreitenden VR-Technologie war bei der Vision autonomer VR-Prüfungen und unter weiblichen Studierenden mit geringer Computeraffinität am stärksten ausgeprägt.

Schlussfolgerung: Die Ergebnisse legen nahe, dass die Vorbehalte der Studierenden auf mangelnde Erfahrungswerte mit der VR-Technologie zurückzuführen sind. Damit die angehenden Ärzte die Technologie kennenlernen und zukünftig kompetent im Klinikalltag anwenden können, sollte VR nicht nur als Lehrmedium sondern auch als Lerngegenstand curricular eingeführt werden. Praktische Prüfungen in VR empfehlen sich dagegen erst, wenn sich die Technologie in der Lehre etabliert und als verlässlich erwiesen hat.

Schlüsselwörter: Virtuelle Realität, virtueller Patient, medizinische Ausbildung, Zukunft, Akzeptanz


1. Das didaktische Potenzial der virtuellen Realität

Träges Wissen ist in der Medizin nicht nur unbrauchbar, sondern lebensbedrohlich. Ärzte müssen Fachwissen durchdringen und Fertigkeiten automatisieren, um in Belastungssituationen die richtige Diagnose zu stellen und adäquat zu reagieren. Um dieses Kompetenzniveau sicherzustellen, wurde 2015 der Nationale Kompetenzbasierte Lernzielkatalog Medizin (NKLM) eingeführt [http://www.nklm.de]. Für Studierende ist das praxisorientierte Absolventenprofil des NLKM nur erreichbar, wenn sie in ihrer Ausbildung ausreichend Gelegenheit haben, anhand authentischer Problemstellungen aus dem Klinikalltag praktisch zu üben [1]. Das Üben am Patienten ist dafür aus organisatorischen, finanziellen und ethischen Gründen ungenügend [2]. Beispielsweise räumt jeder vierte Medizinstudierende mindestens einen Fehler in der Ausbildung ein, der potenziell die Gesundheit eines Patienten gefährdete [3].

In der medizinischen Ausbildung werden deshalb Simulationen eingesetzt, mit denen beispielweise die klinische Entscheidungsfindung und sensomotorische Fertigkeiten gefahrlos trainiert werden können. Unter Simulationen werden Lernumgebungen verstanden, in denen Studierende den Handlungsverlauf von möglichst authentischen Szenarien beeinflussen können [4], [5]. Die in der Medizin am häufigsten angewendete Simulationsmethode sind Rollenspiele mit Schauspielpatienten [6] oder Simulationspuppen. Da diese jedoch räumlich, zeitlich und personell gebunden sind [7], werden vermehrt auch computerbasierte Simulationen verwendet, die flexibel einsetzbar sind und eine automatische Leistungsbeurteilung ermöglichen [2]. Der Lerngegenstand ist hierbei in der Regel ein „virtueller Patient“, der als interaktives Video [8] oder Animation [9], [10] dargestellt wird. Die Studierenden können die virtuellen Patienten je nach Simulation zur ihrer Krankheitsgeschichte befragen, körperlich untersuchen oder behandeln. Da sie bei der Übung meist vor einem konventionellen Bildschirm sitzen und in ihren Aktionsmöglichkeiten beschränkt sind, weisen diese Simulationen einen relativ hohen Abstraktionsgrad auf.

Ein Lösungsansatz für dieses Defizit sind moderne Simulationen in der virtuellen Realität (VR). Mit einer VR-Brille tauchen Studierende in eine computergenerierte Welt ein, die ihnen den Eindruck vermittelt, physisch in der Lernumgebung präsent zu sein. Durch diese Immersion, die unter anderem durch die hohe Bewegungs- und Interaktionsfreiheit entsteht [11], ähnelt das individuelle Erleben und Verhalten in VR-Simulationen dem in einer realen Situation [12]. Das eröffnet die Möglichkeit, in VR erfahrungsbasiert zu lernen [13], [14] und somit einen nachhaltigen Lerneffekt zu erzielen. Zwar ist die Qualität der bisherigen Forschung zu diskutieren (u.a. geringe Stichprobengröße, fehlende Kontrollgruppen und lückenhafte Studienberichte), doch quantitative [15], [16] und qualitative [17] Metaanalysen bescheinigen den didaktischen Mehrwert von VR weitgehend. Mit Blick auf gesundheitsbezogene Aus- und Weiterbildungen zeigt sich etwa, dass das Lernen in der virtuellen Realität effektiver sein kann als in anderen digitalen (z.B. Videos und Online-Kurse) und traditionellen (z.B. Bücher und Vorlesungen) Lehrformaten [16].

Angesichts der vom NKLM geforderten Kompetenzorientierung trifft VR in der Medizin auf großes Interesse. Bereits jede vierte Studie im Forschungsfeld VR weist einen medizinischen Bezug auf [18]. Auch der medizindidaktische Einsatz nimmt zu. An der Universität Ulm steht den Studierenden beispielweise ein medizinisches VR-Lab zur Verfügung, in dem sie virtuelle Patienten diagnostizieren und behandeln können. In Deutschland sind solche Angebote noch die Ausnahme [19], [20], im englischsprachigen Raum ist VR dagegen weiter verbreitet und teils schon fester Bestandteil des Curriculums [21]. Dabei reizt der aktuelle Stand der Technik nicht das Potenzial der Technologie aus. Schreitet die technische Entwicklung weiter voran, wird die bisher vorwiegend audiovisuelle Stimulation in VR [22] voraussichtlich mit haptischem Feedback [23], [24] ergänzt. Dadurch können nicht mehr nur kognitive (z.B. Prozessabläufe im OP-Bereich) sondern auch sensomotorische Fertigkeiten (z.B. körperliche Untersuchungen) geschult werden. Außerdem wird der Einsatz von künstlicher Intelligenz aller Wahrscheinlichkeit nach adaptives Feedback zur erbrachten Leistung [25], [26] sowie eine natürliche, mündliche Kommunikation mit virtuellen Patienten [9], [10] ermöglichen. Letzteres würde es schließlich erlauben, auch soziale Fertigkeiten (z.B. Gesprächsführung mit Patienten) alleine in VR zu trainieren. Die angeführten Referenzen sind Pilotprojekte, zeichnen jedoch bereits eine Vision der zukünftigen medizinischen Ausbildung, in der holistische Lernerfahrungen in VR fester Bestandteil des Curriculums sind.

Ob und in welcher Form diese Vision realisiert wird, ist nicht zuletzt davon abhängig, wie die Studierenden die Technologie und ihre zukünftigen Funktionen annehmen. In aktuellen, an deutschen Hochschulen durchgeführten Umfragen bescheinigen sie VR nur eine geringe bis moderate Bedeutung für sowohl die gegenwärtige als auch die zukünftige Lehre [19], [27]. Das Ziel dieser Studie ist es, eine differenziertere Einschätzung der Medizinstudierenden zu erhalten, um die Diskrepanz zwischen didaktischem Potenzial und subjektiv wahrgenommener Bedeutung zu ergründen. Die Erkenntnisse sollen dazu beitragen, die technische Weiterentwicklung und curriculare Implementierung von VR zielgruppenorientiert auszurichten. Die folgenden Fragen leiteten das Studienvorhaben und gliedern die Darstellung der Ergebnisse:

1.
Unterscheidet sich die Akzeptanz von VR zwischen den Einsatzszenarien Lehre und OSCE-Prüfung?
2.
Unterscheidet sich die Akzeptanz von VR zwischen unterschiedlichen, teils visionären Funktionsgraden?
3.
Unterscheidet sich die Akzeptanz von VR zwischen den Geschlechtern?
4.
Bestehen Zusammenhänge zwischen der Akzeptanz von VR und dem Fachsemester, dem Alter, der Computeraffinität und der VR-Vorerfahrung?

2. Methode

Um diese Fragestellungen zu untersuchen, wurden Medizinstudierende aus dem deutschsprachigen Raum gebeten, freiwillig und ohne Entlohnung an der online durchgeführten Studie teilzunehmen (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]). Der Großteil der Studierenden war an der Universität Ulm eingeschrieben und wurde zweimalig via E-Mail zur Studie eingeladen. 7.7% der Adressaten sind dem Aufruf gefolgt und haben an der Studie teilgenommen. An den restlichen Universitäten wurden die Studierenden über Campus-Webseiten und Fachschaften in sozialen Medien auf die Studie aufmerksam gemacht. Die anonyme Datenerhebung dauerte jeweils ca. 15 bis 20 Minuten und wurde vom 02. Januar bis zum 31. Juli 2020 durchgeführt. Auf Anfrage entschied die Ethikkomission der Universität Ulm, dass das Studienvorhaben unbedenklich sei und keinem Ethikvotum bedürfe.

Ein Einladungslink leitete die Studierenden zur Online Studie, bei der sie aufgefordert wurden, zehn kurze Videos anzusehen. Die auf YouTube abrufbaren Videos demonstrieren und erklären fünf Funktionsgrade der VR-Technologie aus der Perspektive des Anwenders (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]) in zwei verschiedenen Einsatzszenarien (Lehre und OSCE-Prüfung) (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Der dargestellte Funktionsgrad steigert sich in beiden Szenarien sukzessive und kumulativ von marktreifen (visuelle und audiovisuelle Stimulation) bis hin zu visionären Funktionen (Haptik, mündliche Kommunikation und adaptives Feedback/autonome Prüfung). Als Anwendungsbeispiel wurde die Geburtshilfe ausgewählt, da Studierende wegen der Intimität rund um Schwangerschaft und Geburt selten im realen Kreißsaal hospitieren und üben können.

Nach jedem Video wurden die Studierenden angehalten, den demonstrierten Einsatz von VR anhand von Akzeptanzindikatoren (z.B. vermutete Lernkurve und Innovationskraft) zu beurteilen (siehe Tabelle 3 [Tab. 3]). Dazu beantworteten die Studierenden Items auf 6-stufigen-Skalen des Likert-Typs („trifft nicht zu“ bis „trifft maximal zu“). Da die Items untereinander hochsignifikant korrelierten (siehe Anhang 1 [Anh. 1]), wurden sie zusätzlich aggregiert und gemittelt, um für jedes Video einen übergreifenden Akzeptanzwert zu erhalten.

Um die Akzeptanzindikatoren einzeln und aggregiert zwischen den (1) Einsatzszenarien und zwischen den (2) Funktionsgraden zu vergleichen, wurden Wilcoxon-Rang-Tests sowie Friedman-Tests mit anschließenden Dunn-Bonferroni Post-hoc-Tests durchgeführt. Mittelwertsvergleiche zwischen den (3) Geschlechtern wurden mit Mann-Whitney-U-Tests angestellt. Abschließend wurden die (4) Zusammenhänge zwischen der übergreifenden Akzeptanz und den Variablen Fachsemester, Alter, Computeraffinität („Sie lieben es mit Computern umzugehen.“) und VR-Vorerfahrung („Sie haben bereits in irgendeiner Form Erfahrungen mit VR-Erlebnissen gemacht.“) anhand von Spearman-Korrelationen analysiert.


3. Ergebnisse

3.1. Akzeptanz der Funktionsgrade zwischen Lehre und OSCE-Prüfung

Der in den Videos dargestellte Einsatz von VR wurde über alle Funktionsgrade hinweg signifikant mehr in der Lehre als in der OSCE-Prüfung akzeptiert (siehe Tabelle 4 [Tab. 4]).

3.2. Akzeptanzunterschiede zwischen den Funktionsgraden

Sowohl in der Lehre (Χ2(4)=97.41, p<.001, n=318) als auch in der OSCE-Prüfung (Χ2(4)=138.07, p<.001, n=318) unterschied sich die Akzeptanz von VR signifikant zwischen den Funktionsgraden. Die Post-hoc-Testung (siehe Tabelle 5 [Tab. 5]) präzisierte, dass in beiden Einsatzszenarien der audiovisuelle Funktionsgrad signifikant am besten angenommen wurde. Als zweite Präferenz stellte sich die visuelle Stimulation heraus, die jedoch nur in der OSCE-Prüfung signifikant besser beurteilt wurde als die komplexeren Funktionsgrade Haptik, mündliche Kommunikation und autonome Prüfung. Letzteren haben die Studierenden im Rahmen der OSCE-Prüfung signifikant am geringsten bewertet. Ein differenzierter Blick auf die einzelnen Akzeptanzindikatoren zeigt, dass alle Items bei der audiovisuellen Stimulation signifikant am höchsten ausfielen (siehe Abbildung 2 [Abb. 2], siehe Anhang 1 [Anh. 1], Tabelle A1 und Tabelle A2). Die Ausnahme ist die visuelle Stimulation, die bei den Indikatoren Innovationskraft und Fairness nur deskriptiv geringer bewertet wurde.

3.3. Akzeptanzunterscheide zwischen den Geschlechtern

Die männlichen Studierenden wiesen in allen Funktionsgraden und Einsatzszenarien deskriptiv eine höhere, übergreifende Akzeptanz auf als die weiblichen Studierenden. Bei den Videos zum OSCE-Prüfungsszenario wurde dieser Geschlechtsunterschied bei den Funktionsgraden audiovisuelle Stimulation (U=10048.00, Z=-2.00, p=.045, dCohen=.23) und autonome Prüfung (U=9950.50, Z=-2.12, p=.034, dCohen=.24) signifikant. Darüber hinaus fiel auch die Computeraffinität bei den männlichen Studierenden höher aus (U=7206.50, Z=-5.79, p<.000, dCohen=.67).

3.4. Zusammenhang zwischen übergreifender Akzeptanz und Kontrollfaktoren

Die Akzeptanzwerte korrelieren über die Einsatzszenarien hinweg stark zwischen den Funktionsgraden (r=.493 bis .851) und moderat mit der individuellen Computeraffinität (r=.229 bis .372) (siehe Anhang 1 [Anh. 1], Tabelle A3). Die Kontrollfaktoren Alter, Fachsemester und VR-Vorerfahrung wiesen hingegen keinen signifikanten Zusammenhang mit der studentischen Akzeptanz auf.


4. Diskussion

Das hohe didaktische Potenzial von VR steht im Kontrast zur studentischen Einschätzung, dass die Technologie nur eine relativ geringe Bedeutung für die gegenwärtige und zukünftige Lehre hat. Diese Diskrepanz wurde in der vorliegenden Studie differenziert untersucht, um die technische Weiterentwicklung und curriculare Implementierung von VR zielgruppenorientiert auszurichten. Mit diesem Ziel „vor Augen“ wurde die studentische Akzeptanz zwischen unterschiedlichen (1) Einsatzszenarien und (2) Funktionsgraden verglichen. Außerdem wurde überprüft, ob bezüglich der Akzeptanz (3) Geschlechterunterschiede oder (4) Zusammenhänge

mit den Faktoren Fachsemester, Alter, Computeraffinität und VR-Vorerfahrung bestehen.

Wie in vorangegangen Umfragen [19], [27] fiel die Akzeptanz für den Einsatz von VR allgemein moderat aus. Mit Verweis auf die angestellten Vergleiche greift diese pauschale Aussage jedoch zu kurz. So zeigte sich über alle Funktionsgrade hinweg, dass VR eher in der Lehre akzeptiert wird als in der OSCE-Prüfung. Dieser Umstand lässt vermuten, dass die Studierenden Zweifel daran haben, ob die neuartige VR-Technologie praktische Leistungserhebungen verlässlich unterstützen oder in Zukunft gar automatisieren kann. Mit Verweis auf das Technology Acceptance Modell [28] lässt sich die geringe Akzeptanz von autonomen VR-Prüfungen vermutlich auf die fehlende Kontrolle über das System zurückführen. Die Vergleiche zwischen den Funktionsgraden offenbaren weitere Vorbehalte gegenüber der Technik. Der marktreife Status Quo von VR (visuelle und audiovisuelle Stimulation) wurde in beiden Einsatzszenarien signifikant besser angenommen als die Funktionen, die sich noch in der Entwicklung befinden (Haptik, mündliche Kommunikation und adaptives Feedback/autonome Prüfung). Medizinstudierende scheinen demnach technologischen Innovationen, die sich noch nicht praktisch bewährt haben, skeptisch gegenüberzustehen. Diese Skepsis ist bei autonomen VR-Prüfungen und unter weiblichen Studierenden am stärksten ausgeprägt.

Da es bisher wenig empirische Argumente für die visionären VR-Funktionen gibt, ist diese Zurückhaltung besonders in Prüfungsszenarien nachvollziehbar, die unmittelbar für den Studienerfolg relevant sind. Im Detail sind die Ergebnisse jedoch kontraintuitiv. Mit steigendem Funktionsgrad nahmen bei den Studierenden nicht nur die vermutete Umsetzbarkeit, sondern auch die Innovationskraft, Simulationsqualität, Sinnhaftigkeit und Lernkurve ab. Gleiches gilt für die einsatzspezifischen Faktoren Spaß, Lernkurve und Fairness. Diese Angaben stehen im Widerspruch zum Potenzial, das den technischen Neuerungen zugesprochen wird. Während das haptische Feedback vor allem die Immersion und Qualität der Simulation verbessern soll, verspricht die Integration von künstlicher Intelligenz in VR individuelle Lern- und Prüfungserfahrungen mit natürlich anmutenden virtuellen Patienten. Diese Potenziale spiegeln sich nicht in der Einschätzung der Medizinstudierenden wider. Ein Grund für diese kontraintuitive Bewertung mag die menschliche Tendenz sein, das Gewöhnliche (audiovisuelle Stimulation) anzunehmen und das Unbekannte (z.B. autonome Leistungsbeurteilung) zu meiden [29]. Diese Grundeinstellung zeigt sich bereits wesentlich im positiven Zusammenhang zwischen Akzeptanz und Computeraffinität. Da sich der Einsatz von haptischem Feedback und KI noch in der Entwicklung befindet und somit grundsätzlich unbekannt ist, lässt sich die studentische Skepsis gegenüber den visionären Funktionsgraden möglicherweise auf fehlende Erfahrungswerte zurückführen.

Im gleichen Sinne lässt sich womöglich auch die verhaltene Akzeptanz des marktreifen Status Quo erklären. In einer studiengangsübergreifenden Umfrage von Weisflog und Böckel [19] erachteten Studierende VR für ihr Studium wichtiger, wenn ihnen die Technologie an ihrer Hochschule zur Verfügung stand. 2019 traf das in Deutschland jedoch nur auf etwa 4% der Studierenden zu. Auch im privaten Bereich beschränkt sich der Einsatz von VR – trotz steigendem Hard- und Software-Absatz – derzeit noch auf eine technikaffine Minderheit [https://www2.deloitte.com/de/de/pages/presse/contents/zukunftsperspektiven-fuer-virtual-augmented-reality.html]. Folglich hatte bisher nur ein kleiner Teil der Studierenden die Möglichkeit, den gegenwärtigen Stand der VR-Technik praktisch anzuwenden und mögliche Vorbehalte abzubauen. Dieser Erklärungsansatz wird jedoch nicht von der in der Studie gemessenen VR-Vorerfahrung gestützt. Das entsprechende Item hat vermutlich zu wenig Aussagekraft über den individuellen Kenntnisstand der VR-Technologie, da die Qualität und Quantität der abgefragten VR-Erlebnisse nicht erhoben wurden.

Bemerkenswert ist auch die durchweg hohe Korrelation zwischen den Akzeptanzindikatoren (siehe Anhang 1 [Anh. 1], Tabelle A3). Die hohe interne Konsistenz legt nahe, dass viele Medizinstudierende eine gefestigte Meinung zum VR-Einsatz haben, die die Antworten über die Einsatzszenarien und Funktionsgrade hinweg bedingt hat. Die Übertragbarkeit dieser Erkenntnisse muss jedoch kritisch diskutiert werden. Die geringe Rücklaufquote von 7,7% in Ulm schränkt die Repräsentativität der Stichprobe ein. Außerdem bezogen sich die Videodemonstrationen ausschließlich auf die Geburtshilfe, sodass die Akzeptanzwerte nur indirekt auf andere Anwendungsfelder schließen lassen. Letztlich muss bei der Interpretation der Ergebnisse auch berücksichtigt werden, dass die die Studierenden nur Videos über den Einsatz von VR bewerteten, da die höheren Funktionsgrade noch keine Marktreife erreicht haben. Entsprechend der Annahme, dass die Akzeptanz von VR mit steigendem Bekanntheitsgrad zunimmt, sollte die Bewertung bei einer praktischen Demonstration positiver ausfallen.

Die Studienergebnisse verdeutlichen nichtsdestotrotz, dass bei der Weiterentwicklung und curricularen Implementierung von VR die Bedenken und Technikkenntnisse der Studierenden berücksichtigt werden müssen. Damit aus dem Potenzial von VR reale Lerneffekte resultieren, sollte die Technologie nicht nur als Lehrmedium sondern auch als Lerngegenstand im Medizinstudium eingeführt werden. Die Möglichkeit, die Anwendung von VR angeleitet zu erlernen und kritisch zu diskutieren, fördert auch die Medienkompetenz angehender Ärzte, die im zukünftigen Klinikalltag womöglich mit VR arbeiten werden (z.B. simulationsbasierte Planung von chirurgischen Eingriffen). Ob sich VR in Zukunft auch für die Durchführung praktischer Prüfungen anbietet oder die studentische Skepsis künftig weiterhin begründet ist, sollte wissenschaftlich geprüft werden, sobald sich die Technologie in der Lehre etabliert und als verlässlich erwiesen hat.


5. Schlussfolgerung

Die differenzierte Untersuchung der studentischen VR-Akzeptanz offenbarte,

dass sich die subjektiv gering wahrgenommene Bedeutung von VR in einer Skepsis gegenüber aufkommenden Technologien begründet. Medizinstudierende scheinen zu wenig Kenntnisse über VR zu haben, um dessen didaktisches Potenzial adäquat einzuschätzen. Damit die angehenden Ärzte die Technologie kennenlernen und zukünftig kompetent im Klinikalltag anwenden können, sollte VR nicht nur als Lehrmedium sondern auch als Lerngegenstand curricular eingeführt werden. Die Durchführung praktischer Prüfungen in VR empfiehlt sich dagegen erst, wenn sich die Technologie in der Lehre als verlässlich erwiesen hat.


Autoren

Die Autoren S. Walter und R. Speidel teilen sich die Erstautorenschaft.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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