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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Fallvignetten für Simulationspersonen basierend auf realen Patientenerfahrungen im Rahmen von OSCE-Prüfungen: Workshop-Erfahrungen aus der interprofessionellen Ausbildung

Artikel Interprofessionelle Ausbildung

  • corresponding author Andrea Glässel - Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW), Fachstelle für Interprofessionelle Lehre und Praxis, Institut für Gesundheitswissenschaften (IGW), Winterthur, Schweiz; Universität Zürich, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte (IBME), Zürich, Schweiz
  • author Peter Zumstein - Berner Fachhochschule BFH, Gesundheit, Fachstelle für interprofessionelle Lehre Gesundheit, Bern, Schweiz
  • author Theresa Scherer - Berner Fachhochschule BFH, Gesundheit, Fachstelle für interprofessionelle Lehre Gesundheit, Bern, Schweiz
  • author Emanuel Feusi - Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW), Fachstelle für Interprofessionelle Lehre und Praxis, Institut für Gesundheitswissenschaften (IGW), Winterthur, Schweiz
  • author Nikola Biller-Andorno - Universität Zürich, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte (IBME), Zürich, Schweiz

GMS J Med Educ 2021;38(5):Doc91

doi: 10.3205/zma001487, urn:nbn:de:0183-zma0014872

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2021-38/zma001487.shtml

Eingereicht: 30. April 2020
Überarbeitet: 9. Januar 2021
Angenommen: 25. Februar 2021
Veröffentlicht: 15. Juni 2021

© 2021 Glässel et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Patient*innenorientierung (PO) ist in der Gesundheitsversorgung ein zunehmend gefordertes Ziel und hat für die Versorgungssituation, Forschungslage und für die Ausbildung von Gesundheitsberufen an Bedeutung gewonnen. In der Literatur zeigt sich, dass der Begriff PO nicht einheitlich definiert ist. Zentrale Aspekte für das Konzept der PO finden sich im integrativen Modell und seinen Dimensionen von Scholl und Kollegen aus 2014, die in den Kompetenzerwerb bei Objective Structured Clinical Examination (OSCE) Prüfungsformaten Eingang finden. Der Einbezug subjektiver Erfahrungen von Betroffenen wird als wichtiger Faktor für die kontinuierliche Verbesserung der Gesundheitsversorgung anerkannt. In der interprofessionellen Ausbildung der Gesundheitsberufe dienen sie als Ausgangspunkt in Bezug auf OSCE Prüfungen. Das Projekt „DIPEx“ „Database of Individual Patients’ Experiences“ steht dabei für die systematische Erhebung und Auswertung subjektiver Krankheitserfahrungen anhand wissenschaftlicher Methoden.

Ziel des Beitrags: Ziel des Interprofessionellen Ausbildungs-Workshops war es aufzuzeigen, wie

1.
PO anhand realer Erfahrungen aus systematisch erhobenen Narrativen im Rahmen des DIPEx-Projektes das Verfassen von Fallvignetten unterstützen kann, wie auch
2.
die Vorbereitung von Simulationspersonen für OSCE Prüfungen in den Gesundheitsberufen.

Methode: Interaktiver, moderierter Workshop mit zwei theoriegeleiteten Inputpräsentationen zur systematischen Entwicklung interprofessioneller Fallvignetten anhand von vier Schritten in Gruppenarbeit mit Synthesebildung in Form von Statements und abschliessendem Ausblick.

Ergebnisse: Mit Bezug auf die Ziele des Workshops umfasste die Synthese Ergebnisse auf zwei Ebenen:

1.
exemplarische Ergebnisse zu nicht explizit adressierten Zielen: Interprofessionelle Lehre ist voraussetzungsreich und verlangt vorab die Klärung von vier verschiedenen Perspektiven, die in die Fallentwicklung einbezogen werden;
2.
exemplarische Ergebnisse zu explizit adressierten Zielen: Das Zuhören und der Einbezug der realen Erfahrungen und Erzählungen von Betroffenen und ihren Angehörigen wurde als wichtiger Lernaspekt für PO in Bezug auf die Behandler*innen-Patienten-Beziehung gesehen.

Aus der Gruppenarbeit gingen fünf zentrale Statements zu expliziten Zielen für die Fallentwicklung unter Einbezug der PO hervor.

Fazit: Die kompetenzorientierte interprofessionelle Ausbildung der Gesundheitsberufe und PO kann von realen Patient*innennarrativen zu Gesundheit und Krankheit profitieren, indem Simulationspersonen in OSCE-Formaten Rollen realitätsnah und überzeugend darstellen können.

Schlüsselwörter: Patientenorientierung, Simulationspersonen, OSCE, reale Patient*innennarrative, interprofessionelle Ausbildung, Gesundheitsberufe


1. Hintergrund Patient*innenorientierung

Patient*innenorientierung (PO) ist in der Gesundheitsversorgung ein zunehmend gefordertes Ziel [1], [2]. Zudem hat das Thema in den letzten Jahren für die Versorgungssituation, Forschungslage und damit auch für die Ausbildung von Gesundheitsberufen an Bedeutung gewonnen. Allerdings zeigt sich in der Literatur, dass der Begriff Patient*innenorientierung konzeptionell nicht einheitlich definiert ist [3], [4], weil Modelle und Definitionen unterschiedliche Dimensionen einschliessen [5]. Einerseits weist PO auf ein gesellschaftlich gefordertes neues Patient*innenbild hin und stellt dabei mündige und informierte Patient*innen neben medizinische Expert*innen, die sich dafür aussprechen, die Patient*innenautonomie zu stärken [6]. Andererseits inkludiert der Begriff PO die Ausrichtung von Strukturen, Prozessen und Ergebnissen des gesundheitlichen Versorgungssystems, sowie das Respektieren von Interessen, Bedürfnissen und Wünschen individueller Patient*innen. Patient*innen erfahren Empathie, erhalten nutzbringende und erwünschte Leistungen und ihre Rechte und Pflichten werden ihnen zugestanden [7]. Zentrale Aspekte, wie beispielsweise die Dimensionen physische und psychische Unterstützung, Patient*inneninformationen, Empowerment, eine biopsychosoziale Sichtweise, die Behandler*innen-Patienten*innen-Kommunikation, wie auch die Behandler*innen-Patient*innen-Beziehung und andere bündelt das integrierte Modell zur PO von Scholl und Kollegen (2014) [5] (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).


2. Kompetenzorientierte Ausbildung der Gesundheitsberufe unter Einbezug von PO mit Simulationspersonen in der Vorbereitung auf „Objective Structured Clinical Examination“ Formate

Als theoretisch-konzeptionelle Grundlage zu PO findet das Modell von Scholl und Kollegen (2014) [5] Eingang in den Kompetenzerwerb. Damit ist PO ein Prüfungsgegenstand von Studierenden der Gesundheitsberufe. Kompetenzen sind in der berufsqualifizierenden Ausbildung für Gesundheitsberufe eine zentrale Bezugsgrösse, auf die Prüfungen und ihre Formate auszurichten sind. Der Begriff Kompetenz beschreibt dabei „die Fähigkeit, durch Erfahrung und Lernen erworbenes Wissen und Können in immer wieder neuen Handlungssituationen selbstständig, verantwortungsbewusst und situationsangemessen anzuwenden" ([8], S. 148). Spätestens mit dem im Jahre 2010 veröffentlichten Lancet Bericht von Frenk et al [9], hielt die Kompetenzorientierung in den Hochschulen für Gesundheit, Pflege und Medizin Einzug und ist seitdem mittels verschiedener didaktischer Zugänge angestrebt und umzusetzen. Um dem Anspruch der Kompetenzorientierung gerecht zu werden, rückt das Prüfungsformat „Objective Structured Clinical Examination genannt (OSCE)“ in den Vordergrund, welches in der Lehre der Gesundheitsberufe bereits hohe Akzeptanz gefunden hat [10]. Dabei steht die objektive, strukturierte Beurteilung der klinischen Kompetenz, sowie der Entscheidungskompetenz mit Bezug auf Handlungsaspekte im Mittelpunkt. Für eine hohe Standardisierung von Handlungsprozessen kommen im Rahmen von OSCE Simulationspersonen (SP) zum Einsatz, die heute ein integraler Bestandteil in der Lehre der Gesundheitsberufe sind [9]. Unter SP versteht man Schauspieler*innen, die auf Lehrkontexte für Patient*innen-Rollen geschult werden, um glaubwürdige Übungs-, Prüfungs- und Feedbackszenarien auf hohem Standardisierungsniveau zu ermöglichen. Im Rahmen des Kompetenzerwerbs sind SP damit gefordert konzeptionelle Grundlagen von PO auch in OSCE-Prüfungen einzubeziehen und dafür beispielsweise an die Dimensionen aus dem integrierten Modell von Scholl und Kollegen (2014) [5] anzuknüpfen. Dies könnte exemplarisch bedeuten, die Rollenbeschreibungen zu folgenden Aspekten auszugestalten:

1.
realitätsnahe Situationen in Bezug auf eine gute oder schlechte Behandler*innen-Patient*innen-Kommunikation überzeugend zu simulieren;
2.
eine biopsychosoziale Sichtweise auf die Funktionsfähigkeit für das Üben von patientenorientierten Zielformulierungen zu integrieren; oder
3.
Aspekte aufzunehmen, die die Behandler*innen-Patient*innen-Beziehung widerspiegeln und, oder weitere Aspekte.

Für das Ausfüllen der Rolle sollten sich SP in die Lage versetzen können, die Sicht des/der Betroffenen einzunehmen und vielfältige Symptome mit ihren lebensverändernden Folgen für die Betroffenen [5] kennen. Dabei kann der Einblick in subjektive Erfahrungen aus Patient*innen-Sicht und damit verbundene Lebens- und Krankheitsgeschichten die SP unterstützen. Individuelle, reale Erfahrungen aus Sicht der Betroffenen haben zunehmende Bedeutung [11]. Darüber hinaus wird das Zuhören und der Einbezug der Erfahrungen von Betroffenen und ihren Angehörigen als wichtiger Faktor für die kontinuierliche Verbesserung der Gesundheitsversorgung anerkannt. Erfahrungen werden meist in Form von Erzählungen geschildert und sind beispielsweise über das Internet zugänglich, wie im folgenden Projekt „DIPEx“ beschrieben.


3. Projekt DIPEx – Datenbank für reale Patient*innenerfahrungen anhand narrativer Interviews

Das Projekt „DIPEx“ steht für „Database of Individual Patients’ Experiences“, hat im Jahr 2000 seinen Ursprung in England, bei dem reale Patient*innen -Erfahrungen von der Health Experiences Research Group (HERG) der Universität Oxford erhoben, aufbereitet und im Internet unter [https://healthtalk.org/] zur Verfügung gestellt werden. Dem internationalen DIPEx-Forschungsverbund [http://www.dipexinternational.org/] gehören zwischenzeitlich 14 Länder an, unter anderem die Schweiz, Deutschland, USA, Japan, Niederlande, u.a. Dabei umfassen die DIPEx-Webseiten über 100 verschiedene Krankheiten oder Gesundheitsthemen. Die Besonderheit des Projekts liegt in der systematischen Erhebung, Auswertung und Präsentation subjektiver Erfahrungen zu Gesundheit und Krankheit anhand wissenschaftlicher Methoden, die innerhalb des Forschungsverbundes festgelegt, manualisiert und überprüft werden [http://www.krankheitserfahrungen.de/], [12]. Damit unterscheidet sich das Projekt von den aktuell vielfältigen Formen der Verwendung von Patient*innen-Narrativen in sozialen Medien wie Foren, Blogs oder kommerziellen Seiten im Internet [13]. Das übergeordnete Projektziel (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]) ist es, den vielfältigen Informationsbedürfnissen von Betroffenen und deren Betreuenden zu entsprechen, aber auch alle Akteure, so auch Studierende im Gesundheits- und Sozialwesen, mit der Perspektive von Patient*innen vertraut zu machen und darüber PO in ihren verschiedenen Dimensionen zu stimulieren [14], [15].


4. Ziel des Beitrags

In diesem Beitrag werden Ausschnitte eines Workshops skizziert, welcher anlässlich einer Tagung zur Interprofessionellen Ausbildung (IPA) an der Berner Fachhochschule (BFH), in Kooperation mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Winterthur im Februar 2020 durchgeführt wurde. Ziel des Workshops war es aufzuzeigen,

1.
wie PO anhand realer Patient*innen-Erfahrungen aus systematisch erhobenen Narrativen aus dem DIPEx-Projekt das Verfassen von Fallvignetten1, sowie
2.
die Vorbereitung von Simulationspersonen für „OSCE“ Prüfungen in den Gesundheitsberufen unterstützen kann.

5. Methode

Der 90-minütige IPA-Workshop mit dem Titel: „Lernsituationen mit Fallbeispielen: interprofessionelle Auseinandersetzung förderliche Vermittlung zur Arbeit mit Fällen“, bestand aus den folgenden sechs Schritten und wurde durch zwei Co-Moderator*innen (AG&PZ) geleitet:

1.
Begrüssung, Ablauf zum Vorgehen, Abruf von Erfahrungen der Teilnehmenden zur Fallentwicklung
2.
Input 1: Theoretische Einführung in die Fallentwicklung für SP und konzeptionelle Rahmung zu PO
3.
Input 2: Vorstellung Projekt DIPEx unter Einbezug des theoretischen Konzeptes zur PO
4.
Arbeit in Kleingruppen zu Statements der IPA als Grundlage zur Fallentwicklung
5.
Ergebnispräsentation und Synthese
6.
Ausblick und Abschluss
Input 1: Einführung in die Fallentwicklung für SP und konzeptionelle Rahmung zu PO

In die systematische Fallentwicklung für OSCE mit SP anhand von vier Schritten führte die 15-minütige Inputpräsentation ein. Dabei prüft OSCE auf der Lernpyramide von Miller [16] anhand verschiedener Stationen und in strukturierter Weise auf Stufe des „shows how“, an denen Studierende ihre zu überprüfenden Kompetenzen unter Einbezug von PO zeigen sollen [17]. Der Ausgangspunkt dafür war die Entwicklung einer interprofessionellen Fallvignette mit Bezug auf selektive Dimensionen der PO aus dem integrativen Modell von Scholl et al 2014 [5]. Dazu wurden für die Ausgestaltung der Rollen von SP zunächst mündlich im Plenum und anschliessend schriftlich in den Kleingruppen Kurzbeispiele erarbeitet:

1.
wie das Einbeziehen einer biopsychosozialen Sichtweise für die Formulierung der Therapieziele, oder
2.
förderliche und hinderliche Aspekte zur Behandler*innen-Patient*innen-Kommunikation (siehe Kapitel 1 und 2).
Input 2: Vorstellung Projekt DIPEx unter Einbezug des theoretischen Konzeptes zur PO

Wie in Kapitel 3 eingeführt, skizzierte die 15-minütige Inputpräsentation zunächst Kerninhalte des Projekts inklusive eingespielter Videobeispiele von DIPEx Germany, sowie den interaktiven Austausch zu zwei Studien aus der Lehre mit DIPEx [18], [19]. Das Einholen subjektiver Erfahrungen aus Patient*innen-Sicht [20], [21], via Text, Video- oder Audiobeitrag diente zur Kontextualisierung des Fallgeschehens für die Teilnehmenden. Reale Patient*innen-Narrative zeigen dabei die Verbindung zu den Dimensionen der PO aus dem Modell von Scholl et al (2014) [5] auf und dienen als Vorbereitung auf die Rolle der SP für OSCE. Die oben genannten Kurzbeispiele aus Input 1 wurden auf gezeigte Videobeispiele bezogen. Anschließend folgte die Einführung in den Auftrag zur Gruppenarbeit.

Interaktive Gruppenarbeit mit Ergebnispräsentation und Synthese

Es wurden zwei Kleingruppen mit jeweils fünf Personen gebildet inklusive der beiden Co-Moderatoren. Aufgabe war es, die Inhalte aus Input 1 und 2 zu diskutieren und anhand von Leitfragen für eine interprofessionell ausgerichtete Fallvignette gemeinsam zu reflektieren. Aus der Reflexion galt es Statements für die Fallentwicklung auf Flip Chart festzuhalten. Nach der moderierten Ergebnispräsentation folgte eine gemeinsame Synthese aus den beiden Gruppen. Daraus wurden die Schritte für den nächsten IP-Workshop zur Fallentwicklung im Herbst 2020 abgeleitet.


6. Ergebnisse

Die Ergebnisse des IP-Workshops zeigen, dass die acht Teilnehmenden (fünf weiblich) aus vier Gesundheitsberufen (Physiotherapie, Ergotherapie, Hebammenwesen und Pflege) mit der Entwicklung interprofessionell angelegter Fälle vielfältige Erfahrungen hatten. Allerdings betraten sie Neuland in Bezug auf die strukturierte Vorgehensweise zur Fallentwicklung für OSCE-Prüfungen und in der Zusammenarbeit mit SP, mit der Ausnahme von einem Teilnehmer.

Die Synthese des Workshops umfasst Ergebnisse auf den folgenden zwei Ebenen:

Ebene 1 in Bezug auf Ergebnisse, die nicht explizit die Ziele des Workshops adressierten.

Ebene 2 in Bezug auf Ergebnisse, die explizit die beiden Ziele des Workshops adressierten:

  • Ziel 1: PO anhand realer Patient*innen-Erfahrungen aus systematisch erhobenen Narrativen zu unterstützen.
  • Ziel 2: Die Vorbereitung von Simulationspersonen für «OSCE» Prüfungen in den Gesundheitsberufen zu unterstützen.

Ebene 1: Ergebnisse, die nicht explizit die Ziele des Workshops adressierten: Dies betraf setting- spezifische Voraussetzungen zum Workshop und zu den Teilnehmenden, die vorab keine Erfahrungen zur gemeinsamen Arbeit an Fallvignetten für OSCE mitbrachten.

1.
Interprofessionelle Lehre ist voraussetzungsreich und verlangt vorab die Klärung von Perspektiven, die in die Fallentwicklung einbezogen werden. Folgende vier Perspektiven wurden dazu diskutiert: die Perspektive der Studierenden, die Perspektive der Dozierenden, die Perspektive der Patient*innen und die Perspektive der Simulationspersonen.
2.
Bevor die Entwicklung einer neuen Fallvignette aktiv aufgenommen werden kann, braucht es eine gemeinsame Klärung von Begriffen und Handlungsschritten zur Fallentwicklung, wie ein gemeinsames interprofessionelles Verständnis zu PO, Prüfungsinhalten, Zielen und Kompetenzen. Der theoretisch-konzeptionelle Rahmen zu PO war hierzu hilfreich und diente als Ausgangsbasis für die Ausrichtung auf PO.

Ebene 2: Ergebnisse, die explizit die Ziele des Workshops adressierten:

1.
Das Zuhören und der Einbezug der realen Erfahrungen und Erzählungen von Betroffenen und ihren Angehörigen wurde als wichtiger Lernaspekt für PO in Bezug auf die Behandler*innen-Patienten-Beziehung gesehen. Darüber hinaus wird dies als bedeutender Faktor für die kontinuierliche Verbesserung der Gesundheitsversorgung anerkannt.
2.
Es war wichtig, Kenntnisse, über systematisch und nicht systematisch erhobene Narrative erhalten zu haben und das Wissen, wo systematisch erhobene Narrative verfügbar sind.
3.
Videobeiträge zu den realen Narrativen vermitteln dabei auf einfache Weise einen ersten Eindruck zur Person und zur Situation. Dabei sind für Simulationspersonen auch in kurzen Filmsequenzen non-verbale Zeichen, wie der Blick, Gestik oder die Köperhaltung hilfreiche Orientierungspunkte zur späteren Ausgestaltung der Rolle.
4.
Fünf zentrale Statements gingen aus der Gruppenarbeit zu expliziten Zielen für die Fallentwicklung unter Einbezug der PO hervor. Diese sind in Tabelle 1 [Tab. 1] zusammengefasst.

7. Diskussion

Der IP-Workshop diente einerseits als Grundlage für das Verfassen interprofessionell ausgerichteter Fallvignetten für die Gesundheitsberufe unter Einbezug theoretischer Konzepte zur PO. Andererseits sollte er SP in der Vorbereitung auf kompetenzorientierte Prüfungsformate, wie für OSCE-Prüfungen, unterstützen. Für das Verfassen der Fallvignetten wurden reale Patient*innen-Erfahrungen aus systematisch erhobenen Narrativen vorgeschlagen. Patient*innen-Narrative dienen als sogenannte „Role Models“ damit SP Praxisnähe vermitteln, überzeugend in die Facetten der Rollen schlüpfen und die Patient*innenperspektive darstellen können. Die Absicht besteht darin, reale Patient*innen-Erfahrungen in die Rolle der Fallvignette lebensnah zu integrieren. Die lebensnahe Darstellung verleiht den SP ein höheres Mass an Glaubwürdigkeit, Überzeugungskraft und Identifikation mit der Rolle. Video- und Audiobeiträge der DIPEx-Webseiten [https://healthtalk.org/], [http://www.krankheitserfahrungen.de/] und künftig [https://dipex.ch/] liefern dazu eine Vielzahl realer Vorlagen, um diese direkt in das Drehbuch der Vignette minutengenau einzubetten (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]). „Als Verfasserin (…) einer Rolle, kann man es sich einfacher machen, wenn man sich von einer Person aus dem beruflichen oder persönlichen Lebensumfeld (…) inspirieren lässt.“ ([10], S.37).

Erste Ergebnisse einer RCT-Studie konnten zeigen, dass Medizinstudierende von realen Patient*innen-Narrativen profitieren und in Bezug auf ihre Kommunikationsfähigkeit kompetenter abschnitten als Studierende der Vergleichsgruppe, die Inhalte durch Fachexperten vermittelt bekamen [18]. Ergebnisse aus interprofessionellen Lernsettings (Physiotherapie und Soziale Arbeit) stützen diese ersten Anhaltspunkte [19]. Narrative Interviews stellen dabei einen möglichen Zugang zu Erfahrungen dar. Sie öffnen die Perspektive auf PO hinsichtlich des inneren Erlebens von Krankheit, den Erfahrungen mit dem Versorgungssystem, den Behandlungserfolgen oder auch -misserfolgen sowie der Krankheitsbewältigung [22]. In Bezug auf ein Stärken der PO konnten Charon 2007 und Shao-Yin et al. 2020 zeigen, dass die Fähigkeit des aktiven Zuhörens als eine zentrale Einflussgrösse für die Behandler*innen-Patient*innen-Beziehung zu betrachten ist, die unter anderem mit Wertschätzung, Respekt und Empathie einhergeht [23], [24]. Video-, Audio- oder Textbeiträge von systematisch erhobenen online Patient*innen-Narrativen können die Lehrenden und SPs darin unterstützen, diese Fähigkeit bei den Studierenden zu stärken, um diese als Teilkomponente für narrative Kompetenz herauszubilden und entsprechend zu prüfen, beispielsweise mit OSCE-Formaten [24], [25].

Unter den Limitationen des Workshops ist anzuführen, dass es sich um eine erste Einführung in das Thema handelte. Dabei wurden die verschiedenen theoretischen Konzepte wie zur PO, oder auch zum methodischen Vorgehen innerhalb des Schreibprozesses für eine Fallvignette nicht vertieft eingeführt. Die Zusammensetzung der interprofessionellen Gruppe der Teilnehmenden war zufällig. Es stand ein begrenztes Zeitfenster zur Verfügung, um für den Auftrag des Workshops Inhalte und Fragen zu diskutieren und die Ergebnisse in Form von Statements zu verschriftlichen. Für eine erneute Durchführung wurde vorgeschlagen, das Zeitfenster für die Gruppenarbeit um wenigstens 45 Minuten zu erweitern. Anschlussaufträge und Wünsche für einen Aufbau-Workshop wurden festgehalten.


8. Fazit

Dieser IP-Workshop legte den Grundstein, um ein erstes gemeinsames Verständnis für die Erarbeitung künftiger Fallvignetten für OSCE-Prüfungen zu entwickeln. Das theoretische Konzept zur PO diente dabei als gemeinsamer Ausgangspunkt. Eine Fortsetzung dieses Workshops ist bereits in Vorbereitung und folgt in Form eines „online Ateliers“ als Schreibwerkstatt zur Fallentwicklung. Die kompetenzorientierte interprofessionelle Ausbildung in den Gesundheitsberufen (inkl. Mediziner*innen) kann für die Patient*innenorientierung von der Einbettung realer Patient*innen-narrative zu Gesundheit und Krankheit profitieren, indem Simulationspersonen in OSCE-Formaten Patient*innen-Rollen überzeugend und realitätsnaher darstellen können.


Anmerkung

1 Die Anleitung zur Verschriftlichung der Fallvignetten wird in einem separaten Beitrag beschrieben.


Danksagung

Wir möchten uns bei den hochmotivierten Teilnehmer*innen bedanken, die im Workshop angeregt und konstruktiv die Leitfragen zur Fallentwicklung diskutierten, ihre Überlegungen dazu mit uns offen teilten und präsentierten. Ausserdem bedanken wir uns bei Brigitta Spiegel-Steinmann (Fachstelle Interprofessionelle Lehre und Praxis, ZHAW) und Dr. Francesco Spöring (Berner Fachhochschule, Interprofessionelle Lehre, BFH) für deren Unterstützung bei der Planung und Durchführung dieser Tagung an der BFH am 27. Februar 2020. Wir danken Dr. David Stamm für die Hilfe bei der Übersetzung dieses Manuskripts vom Deutschen ins Englische. Ein Dank gilt auch den anonymen Reviewern, die durch ihre kritischen Anmerkungen zur Verbesserung dieses Manuskripts beigetragen haben.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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