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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Entstehungsgeschichte und Weiterentwicklung des Medizinstudiengangs an der Universität Witten/Herdecke – Beispiel einer „kontinuierlichen Reform“

Artikel Gesamtdarstellung Studiengang

  • corresponding author Katja Frost - Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Department für Humanmedizin, Witten, Deutschland
  • author Friedrich Edelhäuser - Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Department für Humanmedizin, Witten, Deutschland
  • author Marzellus Hofmann - Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Department für Humanmedizin, Witten, Deutschland
  • author Diethard Tauschel - Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Department für Humanmedizin, Witten, Deutschland
  • author Gabriele Lutz - Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Department für Humanmedizin, Witten, Deutschland

GMS J Med Educ 2019;36(5):Doc61

doi: 10.3205/zma001269, urn:nbn:de:0183-zma0012695

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2019-36/zma001269.shtml

Eingereicht: 10. Dezember 2018
Überarbeitet: 14. Juni 2019
Angenommen: 2. Juli 2019
Veröffentlicht: 15. Oktober 2019

© 2019 Frost et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Einleitung: Die Universität Witten/Herdecke wurde 1982 als erste deutsche Universität in freier, privater Trägerschaft gegründet. Neben den Wirtschaftswissenschaften, der Zahnmedizin, einem Zentrum für Biowissenschaften und dem Institut für das Studium fundamentale galt ein Hauptaugenmerk von Anfang an der Entwicklung eines modellhaften Medizinstudiums.

Methodik: Die Entwicklungsgeschichte des Medizinstudiums wird ausgehend von den Gründungsimpulsen und –idealen und deren Implementierung deskriptiv verfolgt. Phasen der Entwicklung, Transformationen und einflussnehmende Faktoren werden herausgearbeitet. Dazu werden auch externe Beurteilungen herangezogen.

Ergebnis: Bereits mit dem Start des ersten Jahrgangs Medizin 1983 wurde das „Modell Herdecke“ erstmals umgesetzt. In den seither vergangenen 36 Jahren hat sich das Curriculum der ärztlichen Ausbildung in Witten/Herdecke auf innere und äußere Anforderungen hin weiterentwickelt.

Die Anliegen der Gründer für eine Reform des Medizinstudiums und die Gründungsideale der Universität Witten/Herdecke wirkten durch einen kontinuierlichen Reformprozess der ärztlichen Ausbildung in Witten/Herdecke fort und manifestierten sich in insgesamt vier größeren Reformabschnitten vom ersten Modell- bzw. Reformstudiengang in Witten 1983 bis zum aktuellen Modellstudiengang MSG 2018 plus.

Zu den Besonderheiten gehören insbesondere die deutschlandweit erste systematische Einführung des Problem-orientierten Lernens, eine weit über die Anforderungen der ÄAppO hinausgehende klinische und praktische Ausbildung mit realen Patienten in klinischen und allgemeinmedizinischen Blockpraktika sowie die Einführung von PJ-Ausbildungsstationen. Ein Kernfaktor scheint auch die aktive Partizipation und Mitgestaltung von Studierenden zu sein.

Diskussion: Durch die geringe Größe können Reformideen in Witten/Herdecke schnell erprobt und flexibel umgesetzt werden. Dies ermöglichte einen „Laborstatus“ für die Erprobung von zukunftsfähigen Neuerungen. Trotz der „Kleinheit“ des Medizinstudiums in Witten/Herdecke wurde dabei auf einen „Modellcharakter“ der Konzeptionen geachtet und es gingen von dort Impulse für die Veränderung des Medizinstudiums in Deutschland aus.

Schlüsselwörter: Modellstudiengang, studentenzentrierte Ausbildung, studentische Mitgestaltung, Masterplan 2020, praxisorientierte Ausbildung


1. Einleitung

1.1. Gründung der Universität und Planung eines reformorientierten Medizinstudiums

Der Impuls zur Gründung der Universität Witten/Herdecke (UWH) als einer neu gedachten, von staatlichen Reglementierungen weitgehend unabhängigen, freien Universität reicht weit zurück. Er ging aus einer anthroposophischen Tübinger Studentengruppe hervor, die sich in den Jahren 1945/46 unmittelbar nach der Katastrophe des zweiten Weltkrieges gebildet hatte. Die ideelle Führungspersönlichkeit dieser Gruppe war und blieb bis zu seinem Tod im Juni 1983 Gerhard Kienle. Die Erfahrung der Barbarei des Krieges und das Wissen um die Grausamkeit einer Medizin, die Menschen zu verfügbaren Objekten der Wissenschaft gemacht hatte, verlangten nach Ansicht von Kienle einen eindeutigen Gegenentwurf: Zentrales Anliegen war der „Aufbau kulturell wirksamer Einrichtungen im Sinne eines freien Geisteslebens“ [1], die im Hinblick auf das Gesundheitswesen eine Ausrichtung der Medizin an der Würde und Individualität des (erkrankten) Menschen ermöglichen sollten.

Einen Meilenstein auf dem Weg zur Umsetzung einer reformorientierten ärztlichen Ausbildung stellte die Eröffnung des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke im November 1969 mit struktureller Betonung der interprofessionellen Zusammenarbeit auf Basis einer patientenzentrierten anthroposophischen Medizin dar [2]. Der Klinikimpuls wurde durch den Aufbau einer internationalen akademischen Zusammenarbeit begleitet:1973 fand in Herdecke ein Symposium mit dem Titel „Toward a Man-Centered Physiological Science and Medicine“ statt, an dem international renommierte Wissenschaftler teilnahmen [3] und [4], S. 506]. 1976 folgte die Gründung der „Freien Europäischen Akademie der Wissenschaften“ [[4], S. 509]. Davon ausgehend wurde begonnen, ein neues Medizinstudium zu entwickeln. So startete im gleichen Jahr 1976, noch ohne staatliche Genehmigung, ein von den damaligen Initiatoren bereits als “Modellstudiengang“ benannter Medizinischer Vorkurs [[4], S. 509]. Politischer Widerstand und formaljuristische Gründe verhinderten, dass die Universität bereits in diesen Jahren ihren Anfang nehmen konnte. Die Beteiligten verfolgten das gemeinsame Ziel jedoch mit großem Willenseinsatz weiter und konnten in den folgenden Jahren wichtige Entscheider in Politik und Wirtschaft von ihrer Idee überzeugen.

Kurz nach Eröffnung der Universität und noch vor dem Start des ersten Jahrgangs Medizin erkrankte Gerhard Kienle schwer und verstarb wenig später. Konrad Schily, von 1983-1999 und von 2002-2004 Präsident der Universität, wurde in der Folge die prägende Persönlichkeit für die Umsetzung des Universitätsvorhabens [5].


2. Umsetzung des Reformkonzepts

Auf der Grundlage der Leitideen der Universität hat in den zurückliegenden 36 Jahren von 1983 bis heute die Beteiligung aller Akteure und Interessengruppen, insbesondere auch der Studierenden und die Würdigung der damit einhergehenden unterschiedlichen Sichtweisen im immer wieder auch kontroversen Diskurs, einen kontinuierlichen und jeweils breit getragenen Reformprozess ermöglicht.

2.1. „Freiheit, Wahrheit und Verantwortung“ als Grundlage einer kontinuierlichen Entwicklung

Als begründende Fundamente und gleichzeitig methodisch leitende Ideale zur kontinuierlichen Entwicklung eines wissenschaftlichen Studiums an der UWH formulierte Gerhard Kienle auf dem Dekan-Symposium in München am 18.10.1982: „Wahrheit, Freiheit und soziale Verantwortung in ihrer vollen Unbedingtheit sind das Modell Herdecke.“ [[6], S. 354]:

  • Das Streben nach Wahrheit ist dabei als Ausdruck einer „unbedingten Liebe zur Sache“ verstanden [[6], S. 70-71].
  • Die Gewährleistung persönlicher Freiheit wird als Bedingung und Voraussetzung für wissenschaftliches Arbeiten in Forschung, Lehre und Studium benannt.
  • Die (soziale) Verantwortung besteht schließlich darin, alles Erkenntnisstreben so auszurichten, dass es für den anderen Menschen Nutzen bringen kann und den Wert und die Würde des Mitmenschen in der Gesellschaft stärkt und fördert.

Die zentrale Stellung dieser Grundwerte macht verständlich, dass in der Trias der grundlegenden curricularen Elemente Wissen, Fertigkeiten und Haltungen der Bereich der Werte und Haltungen ernst genommen und mit einem ausgeprägten Gewicht im Lehrplan fokussiert wurde.

2.2. Die Kontroverse als Motor einer förderlichen Entwicklung

Bald nach Gründung der Universität zeichnete sich ab 1985 erstmals ein Konflikt um die Einführung moderner Lehr- und Lernmethoden zwischen eher fächerübergreifenden Interessen des Dekanats und eher fächergeleiteten Interessen der Fachvertreter ab. Robert Wiedersheim, damals Dekan der medizinischen Fakultät, und vormaliger WHO-Abteilungsleiter für „health manpower development“ [7], moderierte den ihm notwendig erscheinenden Entwicklungs- und Veränderungsprozess und involvierte neben den Fachvertretern vor allem die Studierenden. Die dem Prozess implizite Kontroverse hielt Wiedersheim für unbedingt notwendig, um ein modernes und gleichzeitig in der Fakultät breit getragenes Curriculum entwickeln zu können. Er machte die Curriculum-Gestalter der Universität Witten mit einem internationalen Netzwerk von Reformuniversitäten - McMaster (Kanada), Maastricht (Niederlande), Linköping (Schweden) - und internationalen Foren zu Fragen der ärztlichen Ausbildung (AMEE, GMA) bekannt und suchte Kontakt zum „Murrhardter Kreis“ [8], [9].

Die Einbeziehung und Wertschätzung der unterschiedlichen Interessen und Perspektiven ist auch in den nachfolgenden Jahren ein maßgebliches Instrument der Wittener Entwicklungs- und Veränderungsprozesse geblieben.

2.3. Die Studierenden als Mit-Gestalter und Mitverantwortliche

Die „Wittener Didaktik“ wurde immer wieder maßgeblich durch Studierende gestaltet, in der Umsetzung unterstützt und weiterentwickelt. Studierende wurden und werden in Witten ermutigt und ermächtigt, für die Weiterentwicklung der Universität Verantwortung zu übernehmen.

Die allgemeine Bereitschaft zu Mitgestaltung und Verantwortungsübernahme gehört neben der Motivation zum Medizinstudium, der Eignung und dem Reflexionsvermögen zu den Kriterien im Wittener Auswahlverfahren. Beispielhaft zeigt sich übertragene Mitverantwortung in der Beteiligung der Studierenden aus höheren Semestern am Auswahlverfahren, in der Lehre, in der Curriculum-Entwicklung, sowie in der Gremienarbeit auf allen Ebenen. Die Studierenden stellen über die Studierendengesellschaft einen Teil der Gesellschafter der Universität und verwalten den gesamten Finanzierungsanteil der Studienbeiträge, der durch den umgekehrten Generationenvertrag ein während des Studiums beitragsfreies Studieren ermöglicht. Die Studierendengesellschaft ist das direkte „Sprachrohr der Studierenden in das höchste kaufmännische Gremium der Universität – ein Novum in Deutschland.“ [https://studierendengesellschaft.de/], [https://de.wikipedia.org/wiki/Umgekehrter_Generationenvertrag] [alle 24.04.2019]. Darüber hinaus gestalten Studierende Initiativen, mit denen sie in den Bereichen Bildung, Prävention, Gesundheitsversorgung, Gesundheitsmanagement und Entwicklungshilfe einen Beitrag zur regionalen und internationalen Gesundheits-Versorgung, Bildung und Weiterentwicklung leisten [https://www.uni-wh.de/studium/studentische-initiativen/] [24.04.2019].

2.4. Privatheit und Kleinheit

Mit dem Ziel, größtmögliche Freiheit in der Universitätsgestaltung zu haben, wurde in Witten der Weg der gemeinnützigen Privatheit beschritten. Dies ermöglicht jenseits staatlicher Gebundenheit, neue Ideen zu Inhalten und Methodik vergleichsweise schnell und unkompliziert auszuprobieren und umzusetzen. Dieser Weg führte jedoch auch dazu, dass ein teures Medizinstudium Jahr für Jahr neu erwirtschaftet werden muss und dadurch einen begrenzten ökonomischen Rahmen vorgab: „Kein Geld hatten wir schon immer“ (Konrad Schily).

Die Knappheit der Mittel erforderte 1995 auch die Verantwortungsübernahme der Studierenden für die Gesamtorganisation in Form eines Finanzierungsbeitrags. Dies führte zur Gründung der rein studentisch getragenen Studierendengesellschaft mit dem Ziel, über den „umgekehrten Generationenvertrag“ diesen Studienbeitrag eigenverantwortlich und unabhängig vom Einkommen der Eltern leisten zu können.

Ein weiteres Charakteristikum ist die Kleinheit, die einerseits Notwendigkeit angesichts der Finanzierbarkeit, andererseits aber auch gewollt war und ist, um die persönliche Auseinandersetzung zwischen Lernenden, Lehrenden und Mitarbeitern zu ermöglichen.


3. Ergebnisse

Die Wittener Modellstudiengänge 1983-2018

Allgemeines

Studierendenzahlen: Zu Beginn 1983 und in den Folgejahren wurden 24-27 Studierende einmal pro Jahr aufgenommen, später wurde auf 42 Medizinstudierende pro Jahr erhöht. Ab 2008 wurde die Zahl der Studierenden durch eine semesterweise Aufnahme verdoppelt. Seit dem Sommersemester 2019 werden 84 Studierende pro Semester, also 164 Studierende pro Jahr, in der Humanmedizin immatrikuliert.

Finanzierung: Die UW/H finanziert sich aus verschiedenen Quellen. Über den Finanzierungsbeitrag der Studierenden, wird mehr als ein Viertel der Einnahmen erwirtschaftet. Weitere wesentliche Einnahmequellen der UW/H sind Spenden und Fördergelder (17%), Umsatzerlöse aus der Zahnklinik (ca. 15%), die Forschungsförderung (ca. 9%) und die Zuwendungen des Landes Nordrhein-Westfalen. Seit 2016 erhält die UWH zudem Mittel aus dem Hochschulpakt III. Der Kontinuität von Spenden, Sponsoring und Drittmitteln kommt in Bezug auf die Langfristigkeit und Tragfähigkeit der Finanzierung eine herausgehobene Bedeutung zu.

Stipendien: Es gibt kein UWH-internes Stipendienprogramm, aber Unterstützungen für Auslandsaufenthalte von Studierenden. Viele Studierende, in der Summe ca. 11%, sind auf eigene Initiative hin Stipendiaten öffentlicher Förder- und Studienstiftungen.

3.1. Der erste „Wittener Modellstudiengang MSG 1983“ – Die Würde des erkrankten Menschen erkennen und achten

Für die Gestaltung und die inhaltliche Ausrichtung des Medizinstudiums in Witten/Herdecke hatte Gerhard Kienle in seinem Vortrag vor dem medizinischen Dekane-Kollegium 1982 gefordert: „Die Ausbildung zum Arzt der Zukunft erfordert (...) die Autonomie der Hochschule mit handlungs-, urteils- und entscheidungsfähigen Kernen, die in der Lage sind, ein wissenschaftliches Medizinstudium so zu gewährleisten, dass der Arzt darauf vorbereitet wird,

  • die Würde des Menschen erkennen und achten zu können,
  • erfolgreich persönliche Hilfe zu leisten und
  • selbstständige Urteilskraft zu entwickeln.“ [[6], S. 354]

Als grundlegende Rahmenbedingungen für den Erwerb dieser Befähigungen wurden

  • die Erfahrung tätiger ärztlicher Praxis,
  • die Schulung von Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit und
  • die Persönlichkeitsbildung der Studierenden

im Curriculum des Medizinstudiums in Witten/Herdecke verankert.

3.1.1 Die Erfahrung tätiger ärztlicher Praxis: Ausbildung im Kontext realer Patientenversorgung

Um die notwendige „individuelle Hilfeleistung“ [10] für Patienten nach Ende des Studiums erbringen zu können, zielt die Ausbildung in Witten darauf ab, die im ärztlichen Alltag tatsächlich erforderlichen ärztlich-professionellen Kompetenzen erfahrbar und lernbar zu machen. Der reale und damit authentische Kontext der Patientenbegegnung wird durch das integrierte Wahrnehmungspraktikum, das fortlaufende allgemeinärztliche Praktikum und die umfangreichen klinischen Blockpraktika (mit einem Gesamtumfang von 54 Wochen) umgesetzt.

3.1.2. Die Schulung von Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit

Neben der Erfahrung tätiger ärztlicher Praxis, ist die Befähigung zu einer kritischen Reflexion des eigenen Denkens und Erkennens als Grundlage ärztlicher Urteils- und Wissenschaftsfähigkeit als ein zweiter Grundpfeiler der Wittener Didaktik anzusehen. Einen Raum für eine gleichzeitig übende und reflektierende Denk- und Erkenntnistätigkeit bietet das fächerübergreifende Studium fundamentale, das einen Tag der Studienwoche während des gesamten Studiums belegt.

3.1.3. Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung

Die Bedeutung der „Persönlichkeitsentwicklung“ ist sowohl als Ausbildungsziel als auch auf der Ebene der interaktiven und von Austausch geprägten universitären Organisationsentwicklung die dritte Grundsäule des Medizinstudiums an der UWH. Wesentliche Umsetzungen erfolgen auch über das Studium fundamentale, durch künstlerische und reflexive Kurse, jedoch auch über die Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretischen, philosophischen und historischen Fragestellungen.

Auf der Ebene der Organisations- und Curriculums-Entwicklung sind individuelle Gestaltungsideen, persönliches Engagement und Tatkraft der Studierenden verankert. Diese Mitgestaltung der Studierenden und ein patientenzentriertes Curriculum dienen der Entwicklung von Fähigkeiten, vor allem aber auch von Werten und Haltungen, die notwendig sind, um mit berufsbezogenen und individuellen Herausforderungen adäquat und entwicklungsfördernd umgehen zu können.

3.2. Der zweite „Wittener Modellstudiengang MSG 1992“ – Etablierung des Problemorientierten Lernens (POL)

Neben der zu leistenden Aufbauarbeit verkörperte der zweite Dekan der Medizinischen Fakultät, Robert Wiedersheim (s.o.) ab 1985 auch den Impulsgeber und Moderator eines Prozesses, der sich mit der Frage der Entwicklung neuer Ansätze von Lehr- und Lernmethoden zur Überwindung der Trennung vorklinischer und klinischer Lehre befasste [[11], S. 6]. Etabliert wurden schrittweise neue Lehr- und Lernformate, die zur Überwindung der Trennung von Vorklinik und Klinik beitrugen, wie die den Anatomie- und Physiologie-Unterricht vom 1. Semester an begleitenden Kurse „Anatomie am Lebendigen“. Bereits 1992 wurde erstmals systematisch in Deutschland das Problemorientierte Lernen (POL), verknüpft mit klinischen Untersuchungskursen und klinischen Sprechstunden zu den jeweiligen POL-Patientengeschichten, eingeführt.

3.3. Der dritte Wittener, und erste offizielle, Modellstudiengang MSG 2000 – Ausbildung zur lebenslang lernfähigen Arztpersönlichkeit

Der in der Wittener Geschichte bereits dritte, in der „offiziellen“ Leseart erste Modellstudiengang, nutzte im Jahr 2000 die neuen gesetzlichen Möglichkeiten, um fächerübergreifende, longitudinale Formate (Kommunikation, Ethik, Wissenschaft und Medizinökonomie als fächerübergreifende Themenstellungen) zu etablieren und Staatsexamen ersetzende äquivalente Prüfungsformate umsetzen zu können. Außerdem wurde die Ausbildung in hausärztlichen Settings stärker akzentuiert. Die bisherigen zentralen Elemente der Ausbildung wurden beibehalten.

3.3.1. Eckpfeiler 1: Ausbildung in ambulanten allgemein- bzw. hausärztlichen Settings

Die bereits vorher etablierte Praxis regelmäßiger Praktika in haus- und allgemeinärztlichen Praxen wurde zu einem „Allgemeinärztlichen Adoptionsprogramm“ ab dem 1. Semester über insgesamt 5 Wochen weiterentwickelt. Die Studierenden erhielten abschnittsbezogene Aufgabenstellungen, die in einem Portfolio zu dokumentieren waren. Zu den POL Fällen wurden einmal pro Woche thematisch passende allgemeinärztliche Sprechstunden eingeführt.

3.3.2. Eckpfeiler 2: Longitudinale Lehrangebote

Entwickelt wurde ein kontinuierliches, longitudinales Lehrangebot in vier Integrierten Curricula zu den Themen Kommunikation, Wissenschaft und Forschung, Ethik sowie Gesundheitssystem und Gesundheitsökonomie.

Bereits bestehende ergänzende, fakultative Formate aus dem Bereich einer Integrativen Medizin wie ein Begleitstudium Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und ein studentisch initiierter homöopathischer Arbeitskreis rückten stärker ins Bewusstsein. Eine Vorbereitung auf das amerikanische Staatsexamen (USMLE) wurde neu systematisch angeboten.

Das Integrierte Begleitstudium Anthroposophische Medizin (IBAM), das 2004 eingeführt wurde, nimmt durch seine umfassende Ausgestaltung eines optionalen Angebotes, durch die Suche nach innovativen Ausbildungsformaten und durch seine Ausbildungsforschung eine Sonderrolle ein. Es sucht die Ergänzung der naturwissenschaftlichen Methodik in der Medizin durch eine idealistische Philosophie, eine spirituelle Sichtweise auf den Menschen [12] und deren Umsetzung in humanistisch geprägte Ausbildungsformate [13]. Der Beitrag der anthroposophischen Medizin zur Weiterentwicklung der ärztlichen Ausbildung und der Medizin insgesamt soll erarbeitet und erprobt werden [14]. Die Inhalte des IBAM knüpfen dabei eng an die Inhalte des zentralen Curriculums an und fügen sich longitudinal begleitend in das reguläre Medizinstudium ein [15].

3.3.3. Eckpfeiler 3: Universitätsinterne, äquivalente Prüfungsformate
  • Als Äquivalent zum ersten Abschnitt der ärztlichen Staatsexamen-Prüfung wurden drei schriftlich-fallbasierte (Modified Essay Question, MEQ) und zwei praktische (Objective Structured Clinical Examination, OSCE) Prüfungsformate etabliert.
  • Von den übrigen Prüfungen entfallen 48% der §27-Prüfungen auf MC-Klausuren und ca. 40% auf strukturierte mündlich praktische Prüfungen (Objective Structured Long Examination Record (OSLER); Objective Structured Clinical Examination (OSCE); Mini Clinical Examination, (Mini-CEX)). Der Rest entfällt auf Berichte und Freitext-Prüfungen.
  • Der zu Beginn jedes Semesters zu absolvierende Progress Test Medizin (Charité) wurde nun für alle Semester als formative Prüfung und internes Evaluationsinstrument eingesetzt.
3.3.4. Evaluation des MSG 2000

Mit der Genehmigung des Modellstudienganges Medizin durch das Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Landes NRW war die Auflage verbunden, den Studiengang fortlaufend zu evaluieren.

Der Modellstudiengang Medizin wurde 2009 entsprechend den Vorgaben des Gesundheitsministeriums NRW und der Evaluierungsordnung der UW/H durch eine internationale Expertenkommission extern evaluiert und daraufhin bis 2018 verlängert.

Regelmäßig wird der Modellstudiengang mittels CHE-Ranking evaluiert. Systematisch wurden in einer Studie von 2010 [16] CHE-Daten vergleichend ausgewertet. Damals wurden Medizin-Absolventen (Jahrgänge 1996-2002), die mindestens zwei Jahre nach dem Studium waren, vom CHE (Centre for Higher Education Development) online befragt. UWH Absolventen waren dabei älter, waren öfter im Ausland und waren häufiger in klinischen Ausbildungen. Neun Fragen, die sich auf die professionelle medizinische Praxis bezogen, wurden in die Befragung eingeschlossen und vergleichend ausgewertet. Die Absolventen der UWH beurteilten ihr Medizinstudium als besser in Bezug auf eigenständiges Lernen und Arbeiten, psychosoziale Kompetenzen, praktische medizinische Fähigkeiten, Teamarbeit, problemlösende Fähigkeiten und interdisziplinäres Denken. Als schlechter beurteilten sie medizinisches Wissen und Wissenschaftskompetenz.

Die Universität wurde 2005/06, 2011 und 2018 [17], [18], [19], [20] vom Wissenschaftsrat evaluiert. 2014 wurden vom Wissenschaftsrat Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Medizinstudiums in Deutschland auf Grundlage einer Bestandsaufnahme der humanmedizinischen Modellstudiengänge (WR 4017-14) herausgegeben. Manfred Prenzel fasst darin in einer übergreifenden Bewertung zusammen: „Insgesamt leisten die Modellstudiengänge einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung des Medizinstudiums in Deutschland“. „Die Einführung der Modellklausel hat einen kontinuierlichen Veränderungsprozess angestoßen und – auch im Hinblick auf die Reform von Regelstudiengängen – Kreativität und Gestaltungswillen an den Fakultäten freigesetzt. Die Modellklausel kann daher mit Blick auf die in sie gesetzten Erwartungen als Erfolg gewertet werden.“ [https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/pm_2114.pdf] Für die Zusammenschau wurden 9 Modellstudiengänge evaluiert; der größte Beobachtungszeitraum lag dabei für die Universität Witten/Herdecke vor [21].

Im Rahmen einer gesamt-universitären Begutachtung wurde der MSG 2000 vom Wissenschaftsrat positiv bewertet. Er sei beispielgebend und könne eine Vorreiterrolle für ganz Deutschland spielen, sagte Ratsvorsitzender Professor Wolfgang Marquardt [22].

2013 wurde der Modellstudiengang mit dem Fakultäten-Preis des Hartmannbundes, der durch eine bundesweite Online-Befragung unter Studierenden ermittelt wird, für die beste ärztliche Ausbildung ausgezeichnet [23].

Lehrveranstaltungen werden an der UW/H am Ende eines jeden Semesters von den Studierenden online evaluiert. Die Ergebnisse werden an die Dozenten und Dozentinnen zurückgespiegelt. Die Studierenden, die sich an der Evaluierung beteiligt haben, können ebenfalls die Ergebnisse einsehen. Der Prodekan für Lehre erhält die Rohdaten für weitere fakultätsinterne Auswertungen. Darüber hinaus werden die Evaluierungsergebnisse für die Führungsgespräche zwischen Dekan und Professorinnen und Professoren sowie bei der Weiterentwicklung der Studiengänge herangezogen.

Die oben genannten Verfahren werden durch semesterweise Feedbackgespräche mit Studierenden und die Auswertung von Logbüchern in klinischen Blockpraktika ergänzt. Die Ergebnisse werden den Lehr- und Prüfungsverantwortlichen rückgemeldet und in standortübergreifenden Fachgebietskonferenzen vorgestellt und diskutiert.

Bei internen Evaluationen 2013 bewerteten die Studierenden der UWH den Beitrag des Studium fundamentale zur persönlichen Entwicklung als gut, zur Befähigung bezüglich fachlicher und professioneller Themen als befriedigend.

3.4. Der vierte Wittener Modellstudiengang 2018plus – Gesundheit gemeinsam entwickeln

Die erneuten Reformüberlegungen für den MSG 2018plus wurden geleitet durch einen prozessorientierten Blick auf die grundlegenden Begriffe des medizinischen Systems [24]: Gesundheit, Krankheit, Leid und Heilung eines Menschen werden dabei nicht als statische Zustände, sondern als Dimensionen dynamischer Prozesse, die eine integrierende Sichtweise biologischer, seelisch-geistiger und gesellschaftlich-sozialer Vorgänge erfordern, angesehen. Dabei steht die Gesundheitsförderung der Krankheitsversorgung gleichberechtigt zur Seite.

Für die Konzeption eines zukunftsweisenden Medizinstudiums sollte deswegen eine multiprofessionelle, teambasierte, patientenzentrierte, prozessorientierte, noch stärker ambulant verankerte und Veränderung gestaltende integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung verankert werden [25], [26]].

3.4.1. Ausbildungsziele MSG 2018plus – Stufenweise Verantwortungsübernahme im realen Versorgungskontext

Für den Modellstudiengang 2018plus wurde das bisherige Ausbildungsziel der lebenslang lernfähigen Arztpersönlichkeit um die Handlungsfähigkeit ergänzt zur „lebenslang lern- und handlungsfähigen Arztpersönlichkeit“. Dem Curriculum soll damit nicht nur eine erfahrbare Erkenntnis- und Lernspirale, sondern insbesondere auch eine Handlungsspirale zugrunde gelegt werden – im Sinne einer Befähigung zu kreativem und gestaltungskräftigem Wirken [26].

Der Modellstudiengang (MSG) 2018plus integriert umfangreiche selbstgestaltbare Lernräume (longitudinale Patientenbegleitung, Mentoring, Peer-Teaching, Track-Angebote etc.) und eine grundlegende theoretische und klinisch-praktische Befähigung zur ärztlichen Handlungsfähigkeit. Konkret soll diese Handlungsfähigkeit über die bisherigen Elemente des Modellstudiengangs hinaus durch einen stufenweisen Aufbau der Verantwortungsübernahme in den realen Versorgungssettings der ambulanten und stationären Blockpraktika erzielt werden.

3.4.2. Verstärkung der fächerübergreifenden, longitudinalen Themenschwerpunkte

Im Vergleich zum MSG 2000 werden fächerübergreifende und longitudinal im Studium verankerte Themenschwerpunkte weiter ausgebaut. In dem vom Land NRW genehmigten und im Wintersemester 2018/2019 gestarteten neuen Modellstudiengang Medizin der UW/H (MSG) 2018plus werden sechs Themenschwerpunkte (TSP) ausgewiesen.

TSP 1: Ambulante Gesundheitsversorgung

Die ambulante Gesundheitsversorgung wurde im MSG 2018plus neu konzipiert. Der im MSG 2000 bewährte frühe Kontakt zur hausärztlichen Versorgung in den ersten Semestern des Studiums wird erweitert um weitere ambulante Einrichtungen, sog. „ambulante Lernorte“ (u.a. Pädiatrie-, Orthopädiepraxen, ambulante Rehabilitation, Gesundheitsamt) und eine „longitudinale Patientenbegleitung“. Interessierte Studierende haben darüber hinaus die Möglichkeit, das Thema Primärversorgung als eigene Schwerpunktsetzung in drei jeweils vierwöchigen Tracks „ambulante Gesundheitsversorgung“ (s. unten) zu vertiefen.

TSP 2: Berufliche Persönlichkeitsentwicklung – Innere Arbeit (IAP)

In diesem longitudinal angelegten Curriculum werden alle bisherigen Elemente zur Persönlichkeitsbildung integriert und erweitert. Ziel ist eine umfassende berufliche Persönlichkeitsentwicklung – einschließlich der Fähigkeiten zu Kommunikation, Reflexion, Team-Arbeit und Selbstentwicklung. Üben und Reflexion stellen dabei wichtige Erfahrungen und Lernziele auf dem Weg zu lebenslanger Weiterentwicklung und Selbstschulung dar.

TSP 3: Interprofessionelle Ausbildung (IPE)

Ein longitudinales Angebot interprofessioneller Lehrveranstaltungen mit Studierenden anderer Gesundheitsfachberufe greift das Ziel einer effektiven interdisziplinären Zusammenarbeit aller in die Gesundheitsversorgung involvierten Professionen auf. Hierzu werden sowohl in der Vorklinik als auch in der Klinik gemeinsame Lehrveranstaltungen (POL-Tutorien, U-Kurse und klinische Sprechstunden) mit Studierenden der Physiotherapie, Gesundheits- und Krankenpflege, Logopädie etc. konzipiert und umgesetzt.

TSP 4: Wissenschaftliches Arbeiten

Der Bereich „wissenschaftliches Arbeiten“ wird im MSG 2018plus deutlich ausgebaut. Zwei sechswöchige Fokus-Zeiträume zu diesem Schwerpunkt und weitere longitudinale Veranstaltungen konzentrieren und intensivieren die Ausbildung zu diesen Inhalten. Auch hier wird interessierten Studierenden die Möglichkeit geboten, im Sinne der eigenen Schwerpunktsetzung den Track Forschung (s. unten) zu belegen.

TSP 5: Gesundheitssystem und Versorgungsstrukturen

Mit der Zielsetzung, bestehende Versorgungsstrukturen, Institutionen und Akteure im Gesundheitswesen kennenzulernen, Ansätze zur Weiterentwicklung bestehender Versorgungsstrukturen (Best-Practice-Beispiele) zu explorieren und eigene (studentische) Modelle zur Verbesserung der Versorgung im Gesundheitswesen zu entwickeln und sich gegenseitig vorzustellen, wird ein interprofessionelles und explorierendes Unterrichtsangebot entwickelt und umgesetzt.

TSP 6: „Tracks“ im Sinne eines neigungsorientierten Wahlpflichtcurriculums

Jeweils drei- bis vierwöchige „Tracks“ sollen den Studierenden umfangreicher und systematischer als bisher die Möglichkeit zur individuellen Schwerpunktsetzung bieten. Aktuell sind Tracks zu folgenden fünf Schwerpunkten geplant: ambulante Medizin, klinische Medizin, Forschung, Digitalisierung im Gesundheitswesen, integrative Medizin.


4. Diskussion und Ausblick

Der erste Reformstudiengang der Universität Witten/Herdecke 1983 verfolgte ebenso wie der Modellstudiengang 2000 und der Modellstudiengang 2018plus das Ziel, innovative Wege in der Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten zu gehen und gleichzeitig einen Beitrag für eine medizinische Versorgung zu leisten, die sich an der Individualität und der Würde der einzelnen Patientinnen und Patienten und den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen ausrichten will.

Als Eckpfeiler einer so orientierten ärztlichen Ausbildung wurden in Witten/Herdecke herausgearbeitet:

1.
Die Erfahrung ärztlicher Praxis - verbunden mit einer stufenweisen Verantwortungsübernahme im realen Versorgungskontext,
2.
die Schulung von Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit, die neben naturwissenschaftlichen auch kultur- und geisteswissenschaftliche Erfahrungen und Erkenntnisse umfasst, sowie
3.
die Persönlichkeitsbildung der Studierenden, die in Lage versetzen soll, Fragen individueller und normativer Haltungen und Werte zu erfassen und zu reflektieren.

Die Frage nach der zeitgemäßen Umsetzung der Kernbedingungen für eine an der Würde des Anderen orientierte ärztliche Ausbildung stellt auch heute eine zentrale Herausforderung für das Gesundheitssystem und die medizinische Ausbildung dar, die derzeit im Zusammenhang mit zunehmender Ökonomisierung und Standardisierung der Medizin diskutiert wird [27], [28], [29].

Die Grundpfeiler einer entsprechenden Didaktik wurden neben der Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten, in der Ausrichtung an grundlegenden humanistischen Werten und Haltungen, wie der Gewährung und Sicherung individueller Freiheit in der Erkenntnisbildung und Handlungsbegründung, in der Suche nach Wahrheit, und in der Verpflichtung auf die eigene soziale Verantwortung gefunden [30], [31]. Diese institutionellen Ideale sind dabei im Laufe dieser Entwicklung unverändert von Bestand. Sie bieten immer wieder neu eine Orientierung für eine fortlaufende Weiterentwicklung der Ausbildung, orientiert an den Notwendigkeiten der sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen und Erfordernisse an die Medizin [32].

Die angestrebte Autonomie der Hochschule und entsprechend die Ungebundenheit von äußeren, auch staatlichen Vorgaben wird durch äußere Rahmenbedingen, durch das Landeshochschulgesetz, durch die Ausbildungsordnung, durch ministerielle Vorgaben, durch Wissenschaftsrat-Auflagen und staatliche Examina eingeschränkt und in einen allgemeinen Rahmen gesetzt. Die Auseinandersetzung mit diesen externen Einflüssen führt zu produktiver Spannung, zur intensiven Suche nach Kompromissen und vor allem auch zu Qualitätssicherung und Benchmarking.

Die stete Herausforderung der privatwirtschaftlichen Finanzierung führte zu einer breiten Gesellschafterstruktur, aber auch zur Mitübernahme der finanziellen und organisatorischen Verantwortung durch Studierende, eine damit verbundene hohe Identifikation der Studierenden mit der Institution und zu sozialer Verantwortungsübernahme für die zukünftige Generationen Studierender. Dies wurde vom Wissenschaftsrat 2011 gewürdigt und besonders hervorgehoben [[19], S.14]

Der Fokus auf die Würde und Individualität des Patienten führte von Anfang an zu einer curricularen Fokussierung auf eine patientenzentrierte Medizin und Ausbildung, jedoch auch zu einer auf das Individuum des Lernenden zentrierten Didaktik, die sich an selbstbestimmten und intrinsisch motivierten Lern-und Entwicklungsmodellen orientiert [33]. Die ursprünglich vor allem im Studium fundamentale angelegte Vermittlung dieser sogenannten Soft Skills und weiterer allgemeiner Fähigkeiten scheint jedoch nicht spezifisch genug auf die personalen ärztlichen Kompetenzen vorzubereiten. Diese Beobachtung führte zur Einrichtung integrierter longitudinaler Curricula im ersten offiziellen Modellstudiengang, darunter eines Strangs „Kommunikation und Ethik“. In der weiteren Verstärkung dieser Linie entstand im aktuellen MSG 18 der Themenschwerpunkt „Innere Arbeit und berufliche Persönlichkeitsentwicklung“ (s.o.)

Viele dieser Ansätze sind leichter möglich und einfacher gestaltbar durch die Kleinheit der Fakultät bzw. des späteren Departments für Humanmedizin, die noch immer überschaubare Anzahl der Studierenden, ein gutes Betreuungsverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden und die damit verbundene Intensität in der Kommunikation der Beteiligten. Diese Nähe und die damit verbundene persönliche Auseinandersetzung wurde an anderen Universitäten, wie zum Beispiel der University of Massachusetts durch die Einrichtung von „learning communities“, die longitudinalen Kontakt zwischen Studierenden und Dozierenden ermöglicht, hergestellt. Sie ist somit auch an größeren Universitäten umsetzbar.

Die unterschiedlichen Bedingungen für eine erfolgreiche Bewerbung (geringerer Fokus auf Abiturnoten, stärkere Frage nach sozialem Engagement, Reflexionsvermögen, Motivation für das Studium und für die spezielle Didaktik in Witten) führt dazu, dass das Curriculum in Witten/Herdecke nicht einfach mit dem an anderen Hochschulen verglichen werden kann. Im Vergleich der Studierenden sind Wittener Studierende älter und haben mehr Berufs- und Auslandserfahrung. Insgesamt scheint das Studium in Witten/Herdecke gut auf den Beruf vorzubereiten, vor allem in den Bereichen eigenständiges Lernen und Arbeiten, psychosoziale Kompetenzen, praktische medizinische Fähigkeiten, Teamarbeit, problemlösende Fähigkeiten und interdisziplinäres Denken und auch eine gute Berufszufriedenheit zu ermöglichen [16].

Im Sinne einer offenen Suche nach neuen Wegen für die Weiterentwicklung der medizinischen Ausbildung hat die UW/H in den vergangen 36 Jahren eine Entwicklung vollzogen, in deren Verlauf sie Teil eines Netzwerks medizinscher Fakultäten wurde, das gemeinsam an einer erfahrungs- und wissenschaftsbasierten Weiterentwicklung und Neuausrichtung der medizinischen Ausbildung arbeitet. In diesem Kontext steht die UW/H in Forschung und Lehre mit vielen regionalen und überregionalen, nationalen und internationalen Partnern in Verbindung [34]. Die geringe Größe und die nicht-staatliche Trägerschaft der UW/H eröffnen dabei Freiräume zur Erprobung von Lehr- und Curriculums-Konzepten, die staatlichen Bildungseinrichtungen als „Laborsituation“ für prototypische Umsetzungen dienen können [35]. In diesem Sinne versteht sich der neue Modellstudiengang 2018 plus als Entwurf einer zukunftsweisenden Ärzteausbildung, die wesentliche Ziele des Masterplan Medizin 2020 bereits modellhaft umsetzt und die in gemeinsamer Bemühung mit den anderen Fakultäten des Landes einen Beitrag zur Verbesserung der medizinischen Ausbildung und damit auch der Qualität der Patientenversorgung leisten will [36].


Anmerkung

Die Autoren Katja Frost und Friedrich Edelhäuser teilen sich die Erstautorenschaft.


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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