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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Nachruf auf Prof. h. c., Dr. med. et phil., Master of Public Health Robert Wiedersheim (1919 – 2005)

Nachruf Humanmedizin

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  • corresponding author Wilhelm Rimpau - Park-Klinik Weißensee, Abteilung Neurologie, Berlin, Deutschland

GMS Z Med Ausbild 2005;22(4):Doc63

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/zma/2005-22/zma000063.shtml

Eingereicht: 24. Oktober 2005
Veröffentlicht: 18. November 2005

© 2005 Rimpau.
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Gliederung

Nachruf

Prof. h. c., Dr. med. et phil., Master of Public Health Robert Wiedersheim [Abb. 1] (1919 - 2005), ein Weltenbürger und Pionier der Ärzteausbildung.

Noch im Rollstuhl sitzend hackte er unermüdlich Holz für das Kaminfeuer seines letzten Domizils im winzigen Bauernhaus in Weipertshausen am Starnbergersee, assistiert von seinen zwei jungen Kindern. So erinnern ihn Freunde aus den letzten Jahren. Am 9. Januar 2005 ist Robert Wiedersheim an den Folgen eines schweren Diabetes gestorben.

Sein Büro, eher ein Wohnzimmer als eine Amtstube, schmückt ein Poster mit der Abbildung junger dressierter Schüler der wilhelminischen Kaiserzeit in Schuluniform mit dem Spruch: "Wir sind die Schüler von heute, die in Schulen von gestern, von Lehrern von vorgestern, mit Methoden aus dem Mittelalter, auf die Probleme von übermorgen vorbereitet werden". Daneben hängt eine Weltkarte mit etwa 80 Stecknadeln und unterschiedlich farbigen Fähnchen, die über die Welt verteilt all jene inzwischen etablierten oder im Aufbau befindlichen "Medizinschulen" markieren, mit denen er verbunden ist und die zu den Reformfakultäten der letzten 40 Jahre zählen. Der junge Studienbewerber in Witten/Herdecke, der in dieser "Wohnstube" empfangen wird, fragt schließlich, ob er denn nun auch den Dekan sprechen könne. Bisher hatte er einen mächtigen Zahn eines Walfisches beschreiben und identifizieren müssen, den Robert als Trophäe aus seiner Zeit als Walfänger in Südafrika aufbewahrt. War dem erstaunten angehenden Mediziner das Thema zu ungemütlich, konnte er sich mit Robert auch über Musik unterhalten, nicht selten probieren beide auf dem in der Ecke stehenden Cello.

Sein Großvater war der Freiburger Anatom Robert Ernst Eduard Wiedersheim (1848-1923) verheiratet mit einer Genuesin, deren Familie ursprünglich aus der Bodenseeregion stammte. Sein Vater Walter war Allgemeinarzt in Lindau, seine Mutter, geborene Bless stammte aus Belgien, ihre Familienwurzeln liegen in Tours in Frankreich. Roberts Weltläufigkeit ist ihm in die Wiege gelegt. Am 14.4.1919 wird Robert Wiedersheim geboren. Seine Kindheit verbringt er in Kressbronn und Bad Schachen am Bodensee, dem Heimatort seiner großmütterlichen Familie Gruber. Er besucht kurz die Internatsschule Salem, wo er sich offenbar unglücklich fühlt und nur schwer in das Reglement einordnet. So legt er in Freiburg das Abitur ab. Mit dem Vater bereist er Italien. In Freiburg studiert er wenige Semester Chemie bis er zum Arbeitsdienst in der Oberpfalz eingezogen wird. Er folgt schließlich einer Empfehlung, dass Ärztekinder besser Medizin studieren sollten, um nicht zum Militär eingezogen zu werden. Nach den ersten Semestern in Freiburg studiert er in Prag, dorthin abkommandiert. Um nicht als "Kanonenfutter" verheizt zu werden, türmt er vor den anrückenden russischen Truppen 1945 nach Arlberg und schließlich zurück zum Bodensee. Er arbeitet als Krankenpfleger im Lindenberger Krankenhaus im Allgäu, bis er in französischer Gefangenschaft in einem Lager als Arzt (sic) eingesetzt wird. Er flüchtet aus diesem Lager und schließt sein Medizinstudium 1945 in Freiburg ab. Wenn Robert uns von seiner Kindheit, Schul- und Studienzeit in den Wirren der 20 bis 40er Jahre erzählt, so tritt uns ein junger Mensch entgegen, der sich nicht sonderlich von Autoritäten beeindrucken ließ und immer wieder irgendwelche Schlupflöcher gefunden hat, seinen Weg zu gehen.

Apropos Erzählung: auch dieser Epilog basiert fast ausschließlich auf Erzählungen aus seinem Munde, seiner Familie, Kollegen und Freunde. Wiedersheim hat praktisch keine Dokumente hinterlassen. Wir kennen wenige Veröffentlichungen und nicht das übliche Curriculum vitae, wie es etwa J. Steiger zum Tode von Hannes Pauli, einem engen Freund von Wiedersheim, vorlag (Med. Ausbild. 2004, 21, 46-48). Wie für viele Stationen seines beruflichen Lebens so mag auch der Beginn seiner Wittener Arbeit als Dekan für ihn charakteristisch sein. Als Pensionär der WHO hatte er die Bürokratie in der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen satt, las von der Gründung der ersten privaten Universität Witten/Herdecke in der Zeitung, fuhr dorthin, traf den Gründungspräsidenten Gerhard Kienle und besiegelte 1982 per Handschlag den Eintritt in die Medizinische Fakultät, der er bis 1990 als Dekan vorstand. Im Universitätsarchiv findet sich weder ein Arbeitsvertrag noch irgendein Dokument, welches üblicherweise Bewerbungsunterlagen entsprechen könnte. So erging es uns auch mit der Verwaltung der WHO in den U.S.A., Genf und Kopenhagen, wo Wiedersheim über Jahre tätig war: er hat wenig nachlesbare Spuren seines öffentlichen Auftretens hinterlassen - aber Menschen, die angeregt und begeistert von ihrem Freund, Lehrer und Weggenossen berichten können. Charles Engel, London, seit 1958 mit Wiedersheim bekannt, bereitete das erste Problem-Based Learning Curriculum der südlichen Hemisphäre in einer der vorbildlichsten Reformfakultäten in Newcastle in Australien vor und wandte sich 1977 an den Chief Medical Officer for Medical Education at the European Office der WHO Robert Wiedersheim. Er erhielt von ihm 2571 Papiere und Literaturstellen mit persönlichen Notizen vom Zeitraum 1946 bis 1955 ("specimen copy - not for sale") zur Erarbeitung eines Ausbildungskonzepts. Als der Autor im Auftrag der Fakultät in Witten 1994 zu Recherchen an nordamerikanischen Fakultäten Besuche machte, war seine Empfehlungsliste (einem Who is Who in der Ausbildungsreform) durch Robert präpariert und jedes Gespräch mit einem seiner alten Weggenossen begann mit der Frage nach Roberts Tätigkeit und Wohlergehen.

Der berufliche Werdegang beginnt 1945 als Assistent am Institut für Pharmakologie und Physiologie in Freiburg, wo er zum Dr. med. und Dr. phil. promoviert. 1952 wechselt er an das pharmakologische Institut der Universität in Kapstadt, Südafrika. Als Associate Professor geht er 1959 an die George Washington University Washington D. C., wo er sein Internship macht und im September 1960 Angestellter der WHO wird. Jetzt beginnt seine eigentliche Bemühung um die Reform des Medizinstudiums. In Haiti (September 1960 bis September 1962 Port au Prince) und der Dominkanischen Republik (September 1962 bis September 1964 Santo Domingo) werden medizinische Fakultäten durch die WHO gefördert und Wiedersheim ist verantwortlich für die Entwicklung der Lehrpläne. Vom Oktober 1964 bis Dezember 1972 ist Wiedersheim bei der WHO in Genf stationiert, unterbrochen durch einen Studien- und Lehraufenthalt an John Hopkins School of Public Health 1965/66 und einen mehrmonatigen Studienaufenthalt (Pädagogik) in Paris. Vom Januar 1973 bis zu seiner Pensionierung 1980 leitet Wiedersheim die Abteilung Health Manpower Development des Regionalbüros Europa der WHO in Kopenhagen.

Der jetzt 60-jährige Pensionär der WHO ist zu neuen Aufbrüchen bereit und hofft in Düsseldorf bei der Akademie für öffentliches Gesundheitswesen seine reichhaltigen Erfahrungen einzubringen. Später wird er uns eindrucksvoll vom staatlich verwalteten Geist durch deutsche Bürokratien als Horrorszenario erzählen, was einzigartig auf der Welt sei, von der er so viel erlebt hat. Schließlich wird aber der Handschlag zwischen Kienle und Wiedersheim ab November 1982 der Beginn einer Entwicklung frei von Bürokratie und frei für eine menschengemäße Medizin - nicht nur für Robert, sondern für uns, die wir mit der Aufnahme des Studienbetriebs und den ersten 25 Medizin Studierenden im April 1983 ein Wagnis eingingen. Unter seinem Dekanat - besser gesagt mit seinem freundschaftlichen und immer auch kritischen Rat, seinem unaufhörlichen Fragen, selten Anordnen, mit seiner Zuwendung und Liebe, seinem Mutmachen und Vertrauen - gelang es "aus dem Nichts" eine Fakultät zu bauen, die inzwischen das Experimentierstadium und den Modellcharakter hinter sich gelassen hat und die nicht zuletzt durch Robert Wiedersheim eine ebenso nationale wie internationale Anerkennung bei den Menschen und sogar einigen Bürokratien gefunden hat, die wissen, wovon sie reden. Wiedersheims Wirken für Witten/Herdecke lag in seiner Fähigkeit, Studierende und Kliniker, praktische Ärzte und Theoretiker in den weit gestreuten Einrichtungen der Fakultät auf eine Lehr- und Lern-Philosophie einzuschwören. Er gewinnt Dank seiner Überzeugungskraft, Beharrlichkeit, Bescheidenheit und ohne jede Bevormundung Dozenten aus umliegenden Krankenhäusern und Instituten für die neue Idee an der UW/H. Die Ärzteausbildung kann nur besser werden, wenn erkannt wird, dass "wasting of time, human beings und money" (so ein Freund Roberts) der staatlich verwalteten Fakultäten wirklich ein Ende finden muss. Wittten/Herdecke wie auch die nachfolgenden Reforminitiativen in Deutschland belegen, dass eine Neuorientierung der Ärzteausbildung gelingen kann. Es gilt, den berufenen, in gegenseitiger Verantwortung für einander ausgewählten Studenten in seinen Anliegen ernst zu nehmen und ihn auf seiner Reise zu einer reifen persönlichen Entwicklung und fachlichen Kompetenz zu begleiten. Seitens der Dozenten ist die Freude am Arztberuf und das persönliche Vorbild, Kollegialität und Gesprächsbereitschaft im Lehrbetrieb und die Gemeinschaft in der Fakultät, die ebenso wichtig ist, wie didaktische Kompetenz, fachliche Expertise und wissenschaftliches Niveau. Robert Wiedersheim war vielen Studierenden nie Autoritätsperson, eher väterlicher Freund und Ratgeber. Seinen KollegInnen in der Fakultät war er nicht der Vorgesetzte, sondern Mentor, Motor, Kraftquelle und vielen ein Freund. Wiedersheim hatte allein die größten Schwierigkeiten mit humorlosen Menschen. Wer ihn kannte, wird seinen Witz, Humor, Chuzpe und Charme nicht vergessen können.

Wiedersheims Credo für die Ärzteausbildung sind Lernziele, die sich die Fakultät zu eigen machen muss:

fähig werden,

• mit ungewöhnlichen Situationen fertig zu werden

• mit Veränderungen umzugehen

• die eigene Weiterbildung verantwortlich zu gestalten

• an Veränderungen mitzuwirken

• Kompetenz in Kommunikation zu entwickeln: Informationen austauchen, verhandeln, Rat geben und annehmen

• zu kooperieren.

Diese Lernziele können nicht in vacuo verwirklicht werden, sondern im Kontext berufsspezifischer Kompetenz. Wie man die Regeln und Fähigkeiten des Fußballspielens nur im Bewegen des Balls erlernt, so kann Medizin nur dann nachhaltig erlernt werden, wenn in der Praxis Wissen erworben, Fähigkeiten trainiert und Einstellungen überprüft werden. Seine Freunde H.G. Pauli, K. L. White und I. R. McWhinney haben 2001 in ihrem Beitrag (Med. Ausbild. 18, 191-205) "Medizinische Ausbildung, Forschung und wissenschaftliches Denken im 21. Jahrhundert" uns allen, Studierenden und Dozenten, ins Stammbuch geschrieben, was zu tun ist: fassen wir es an und tragen gegen alle Widerstände das Vermächtnis jener wirksam in die Zukunft, die zu Vorbildern und Vorreitern einer menschengemäßen Medizin in einer sich wandelnden Welt geworden sind.

Nach seinem Dekanat in Witten ist Wiedersheim über zwei Jahre 1990 bis 1992 Berater, Mitarbeiter und Motor des sich aus einem Studentenstreik in Berlin entwickelnden Reformstudienganges an der Charité. Wie in Witten/Herdecke ist auch hier seine behutsame Missionierungsart, seine Internationalität, seine Begeisterungsfähigkeit die Voraussetzung, manche der knorrigsten Positivisten in der Fakultät aufzuweichen und anzudocken an einen Lehrbetrieb, der zuerst nach dem Menschen fragt, der sich mit einem Gegenstand des Curriculums verbinden will, um schließlich wieder dort zu münden, wozu der Arztberuf angelegt ist, nämlich beim kranken Menschen.

1992 bis 1994 bleibt Wiedersheim Berater an der Universität Witten/Herdecke. Die Fakultät verleiht ihm im Juni 1994 die Ehrenprofessur.

Wieder steht für Robert ein Neubeginn bevor: aus einer jungen Freundschaft gehen die beiden 1995 und 2001 geborenen Kinder hervor. Gemeinsam lebt eine glückliche Familie in einem kleinen Dorf an Starnbergersee, zuletzt in liebevoller Pflege um ihren gebrechlichen Alten bemüht. Mögen seine jungen Kinder ihren älteren Stiefgeschwistern, die aus Roberts erster Ehe 1945, 1961 und 1964 stammen, darin folgen und die weite Welt mit wachen Augen erleben: im Libanon, England, Spanien, U.S.A. und Arabien finden sie familiäre Spuren. Damit mag sich der Kreis schließen, der Robert Wiedersheims Herkunft und Nachkunft prägt: Kulturen und Sprachen kennen lernen, Toleranz und Verständnis entwickeln, Offenbleiben und immer Neues wagen.

Den Medizinstudenten, die 1992/93 für ein Jahr auf Studien-Weltreise gingen, schreibt er ins Vorwort ihres in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt, erschienen Reiseberichts "Gesundheit und Krankheit in der Welt": "Die UW/H versucht seit ihrer Gründung die Motivation und den Einfallsreichtum der Studierenden während ihrer Ausbildung wach zu halten. Besonders notwendig ist das für die Medizinstudierenden, ist doch deren staatliche Reglementierung, wie, wann und was gelernt werden muss, für eine lebendige Entwicklung studentischer Persönlichkeiten und Initiativen ganz eindeutig hinderlich. .... .Welche auch ihre Motive waren, was zählt, ist eine Idee zu verwirklichen, Neues zu erfahren, zu lernen und Freude daran zu behalten. Durch die Vielfalt der lebendigen Wiedergabe, was und was nicht möglich ist für die verschiedenen Heilberufe, ist mit diesem Buch ein bisher selten aufgezeigter Bericht verfügbar." Versteht sich, dass auch diese Studierenden sich auf Wiedersheims weltweites Netz von Verbindungen stützen konnten. Aber nicht nur sie, fast alle Medizinstudierenden der UW/H verbringen Monate ihres Studiums in den U.S.A., Skandinavien, Israel, Afrika, Australien, England, den Niederlanden oder Frankreich. Inzwischen sind aus Wiedersheims weltweiten Verbindungen feste Bande entstanden, die alle Nachfolgenden immer fester knüpfen und erweitern. Wiedersheim hat ein externes Review der Fakultät angeregt, indem international anerkannte Fachleute regelmäßig das Curriculum und Outcome des Wittener Medizinstudiums überprüfen sollen.

Die weltweit vernetzte Community der Medizinreformer, etwa in der AMEE oder WFME und die Gesellschaft für Medizinische Ausbildung in Deutschland verliert mit Robert Wiedersheim einen manchmal auch unbequemen, nie angepassten, immer engagierten und offenherzigen Menschenfreund, Kommunikator par excelence und an vielen Medizinschulen zu Hause seienden Kollegen, Freund, Mentor, Fachmann - einfach einen großartigen Menschen. Charles Engel räumte ihm bei der Laudatio zur Ehrenprofessur einen Ehrenplatz unter den Pionieren des 20. Jahrhunderts im Felde menschlicher Unternehmungen ein. Welche Fakultät träumt nicht davon, einen der ihren zu den lebenslang Geweihten für die Medizin, Public Health und medizinische Ausbildung zu zählen, wie es Robert Wiedersheim war?