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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Anforderungsanalyse ärztlicher Kompetenzen: Eine qualitative Erhebung

Artikel Ärztliche Kompetenzen

  • corresponding author Anike Hertel-Waszak - Universität Münster, Medizinische Fakultät, Institut für Ausbildung und Studienangelegenheiten (IfAS), Münster, Deutschland
  • author Britta Brouwer - Universität Münster, Medizinische Fakultät, Institut für Ausbildung und Studienangelegenheiten (IfAS), Münster, Deutschland
  • author Eva Schönefeld - Universität Münster, Medizinische Fakultät, Institut für Ausbildung und Studienangelegenheiten (IfAS), Münster, Deutschland
  • author Helmut Ahrens - Universität Münster, Medizinische Fakultät, Institut für Ausbildung und Studienangelegenheiten (IfAS), Münster, Deutschland
  • author Guido Hertel - Universität Münster, Institut für Psychologie, Lehrstuhl für Organisations- und Wirtschaftspsychologie, Münster, Deutschland
  • author Bernhard Marschall - Universität Münster, Medizinische Fakultät, Institut für Ausbildung und Studienangelegenheiten (IfAS), Münster, Deutschland

GMS J Med Educ 2017;34(4):Doc43

doi: 10.3205/zma001120, urn:nbn:de:0183-zma0011200

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2017-34/zma001120.shtml

Eingereicht: 17. April 2016
Überarbeitet: 12. Dezember 2016
Angenommen: 11. Januar 2017
Veröffentlicht: 16. Oktober 2017

© 2017 Hertel-Waszak et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Mit einer qualitativen Erhebung wurden die Anforderungen an Ärztinnen/Ärzte in unterschiedlichen Arbeitsbereichen und Fachgebieten sowie aus unterschiedlichen Perspektiven erfasst. Diese Erhebung fand im Rahmen eines arbeitsplatzanalytisch-empirischen Ansatzes der Anforderungsanalyse statt.

Methodik: Es wurden 74 leitfadengestützte Interviews zu erfolgskritischen Ereignissen und Verhalten bei der Arbeit als Ärztin/Arzt aus verschiedenen Bereichen (klinisch-theoretisch, klinisch-praktisch, niedergelassen) und Fachgebieten und aus drei unterschiedlichen Perspektiven (Ärztinnen/Ärzte, nicht-ärztliches Personal, PatientInnen) geführt und analysiert. Auch der Nationale Kompetenzbasierte Lernzielkatalog Medizin (NKLM) wurde integriert.

Ergebnisse: Die Ergebnisse dieser qualitativen Phase ergaben elf relevante Anforderungen, die wiederum in drei übergreifende Bereiche zusammengefasst werden können: interpersonale, arbeitsbezogene und selbstbezogene Kompetenzbereiche. Die ärztliche Perspektive und die Perspektive des nicht-ärztlichen Personals enthielten jeweils alle elf Anforderungen. Bei der PatientInnen-Perspektive fehlten eine interpersonale und zwei selbstbezogene Kompetenzen. Nahezu alle Verhaltensweisen sind auch im NKLM enthalten, umgekehrt enthält der NKLM auch Verhaltensweisen die sich nicht in den Ergebnissen der Interviews wiederfanden.

Schlussfolgerung: Die verhaltensbasierten Interviews ergaben ein Anforderungsprofil, das in seiner Struktur sehr gut zu anderen Kompetenzmodellen für berufliche Tätigkeiten passt. Zwischen den unterschiedlichen in den Interviews befragten Berufsgruppen ließen sich überwiegend Gemeinsamkeiten feststellen. Die Perspektive der PatientInnen zeigte jedoch auch interessante Unterschiede zu den Perspektiven der Ärzte/Ärztinnen und des nicht-ärztlichen Personals. Die verhaltensbasierten Aussagen aus den Interviews können unmittelbar für die Gestaltung von Übungen für Auswahl- und Entwicklungskontexte sowie für fachgebietsspezifische Potenzialanalysen genutzt werden. In zukünftigen Schritten sollen die Ergebnisse der qualitativen Phase in Form einer quantitativen Studie mit einer repräsentativen Stichprobe repliziert und erweitert werden. Das leitende Ziel ist die Definition von relevanten Kompetenzen sowohl für die Auswahl und Entwicklung von Studierenden der Medizin als auch für die Gestaltung von Potenzialanalysen im Rahmen der Personalentwicklung in verschiedenen medizinischen Fachgebieten.

Schlüsselwörter: Qualitative Anforderungsanalyse, ärztliche Kompetenzen, Auswahl von Medizinstudierenden, Kompetenzentwicklung, medizinische Ausbildung, Potenzialanalysen


1. Einleitung

Die Erforschung, welches Wissen, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber auch Haltungen und Einstellungen Ärzte benötigen, um erfolgreich ihrer Arbeit nachzukommen, ist nicht neu. Bislang veröffentlichte Anforderungsanalysen zu ärztlichen Kompetenzen basieren dabei hauptsächlich auf erfahrungsgeleitet-qualitativ oder aber theoriegeleiteten Ansätzen. Erfahrungsgeleitet-qualitative Ansätze nutzen Expertenbefragungen z. B. in Form von Workshops oder Interviews (siehe z. B. [1], [2], [3]). Theoriegeleitete Ansätze nutzen bestehende Taxonomien wie Interpersonelle Kompetenzen [4], [5] und Konzepte wie Emotionale Intelligenz [6] als Ausgangsbasis, oder stützen sich auf Ausführungen zu wünschenswerten, dem ärztlichen Handeln zugrundeliegenden Haltungen [7], [8], [9]. Allerdings zeigen Validierungsstudien dieser theoriegeleiteten Ansätze (bspw. Libbrecht et al. [6], Lievens und Sackett [5] und Lievens [4]), dass trotz signifikanter Effekte der angenommenen Konstrukte nennenswerte Anteile der Varianz in den untersuchten Kriterien (bspw. die Beurteilung von interpersonalen Leistungen im Studium, spätere Leistungen im Beruf als Ärztin/Arzt) nach wie vor der Aufklärung bedürfen.

Die aktuelle Studie basiert demgegenüber auf einem arbeitsplatzanalytisch-empirischen Ansatz (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]), der u. a. von Schuler [10] als Methode der Wahl für Vorhaben der Auswahl und Entwicklung bezeichnet wird. Ähnlich wie bei erfahrungsgeleitet-qualitativen Varianten werden im ersten Schritt qualitative Interviews geführt, relevante Dokumente in der Analyse berücksichtigt sowie Experten einbezogen. Die qualitative Phase wird dann in eine quantitative Phase überführt, indem auf der Grundlage der qualitativen Analyse ein standardisierter Fragebogen erstellt wird. Auf diesem Weg kann in Bezug auf wesentliche ärztliche Anforderungen eine Datenbasis generiert werden, die zu empirisch fundierten Ergebnissen führt. Dieses systematische empirische Vorgehen und die damit einhergehende Belastbarkeit und Generalisierbarkeit von Aussagen in Kombination mit der konzeptuellen Breite des Vorgehens verleihen diesem Ansatz Vorteile gegenüber rein erfahrungsgeleitet-qualitativen oder theoriegeleiteten Ansätzen.

Erste Ansätze in Richtung des arbeitsplatzanalytisch-empirischen Vorgehens beschäftigen sich mit Kompetenzen für ein erfolgreiches Medizinstudium. So ließen Harris und Owen [11] 105 BefragungsteilnehmerInnen 47 Aussagen zu nicht-kognitiven Anforderungen danach einschätzen, wie wichtig oder unwichtig sie deren Ausprägung für neue Medizinstudierende fanden. Reiter und Eva [12] identifizierten über eine Literaturrecherche sieben Anforderungen, für die 292 BefragungsteilnehmerInnen eine Rangfolge gemäß der wahrgenommenen Wertigkeit im Medizinstudium bildeten. Im Unterschied zu diesen existierenden Studien thematisieren wir in unserem Projekt ärztliche statt studentische Kompetenzen, um nicht nur Erkenntnisse für die Auswahl sondern auch für die Entwicklung von Medizinstudierenden ableiten zu können. Zudem können dadurch auch Potenzialanalysen zur Passungsprüfung zwischen individueller Person und ärztlichem Fachgebiet entwickelt werden.


2. Methoden

Die qualitative Befragung wurde in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Universität Münster (OWMs) im Rahmen eines Seminars im Masterstudiengang Psychologie durchgeführt. Neben den nachfolgend näher beschriebenen strukturierten Interviews zu kritischen Ereignissen im Arztberuf nach der Critical Incident Technique [13] und der darauf aufbauenden Ableitung von Anforderungen und Kompetenz-Clustern wurde auch der Nationale Kompetenzbasierte Lernzielkatalog Medizin NKLM [http://www.nklm.de] berücksichtigt. Der NKLM basiert auf einem intuitiv-erfahrungsleiteten Ansatz und beschreibt sehr ausführlich die zu leistenden Rollen von Ärztinnen/Ärzten. Der Katalog entstand unter Beteiligung von ca. 200 Expertinnen und Experten sowie aller Fachgesellschaften in der Medizin (AWMF). Nach einer Entwicklungsdauer von fünf Jahren wurde der NKLM auf dem Medizinischen Fakultätentag (MFT) 2015 beschlossen. Damit stellt der NKLM eine sehr reiche Informationsquelle und guten Vergleichsstandard für die qualitative Phase dieses Projekts dar.

In der aktuellen Studie wurden im November und Dezember 2015 insgesamt 74 strukturierte Interviews von 19 geschulten Psycholog/inn/en (mind. Bachelorabschluss) durchgeführt (siehe Leitfaden im Anhang 1 [Anh. 1]). Interviewt wurden sowohl Ärztinnen/Ärzte als auch nicht-ärztliches Personal und PatientInnen jeweils aus unterschiedlichen Bereichen (klinisch-theoretisch, klinisch-praktisch, niedergelassen) und Fachgebieten (siehe Tabelle 2 [Tab. 2] für eine genaue Darstellung). Auf diese Weise wurde eine gewisse Repräsentativität der Ergebnisse für den Beruf als Ärztin/Arzt angestrebt. Die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven (sowohl Binnen- als auch Außensicht) auf erfolgskritisches Verhalten im Arztberuf sollte zudem zu einem noch vollständigeren Bild der Anforderungen führen, und eventuell bestehende „blinde Flecken“ einzelner Perspektiven erkunden.

Die Ergebnisse der Interviews wurden in einem Workshop im Rahmen des Seminars an der Universität Münster zusammengeführt. Zunächst fand eine Deduktion aller in den Interviewergebnissen enthaltenen kritischen Verhaltensweisen statt. Diese Verhaltensweisen wurden dann beim sogenannten Clustering nach dem Mehraugenprinzip auf der Basis psychologischer Grundlagen zu Anforderungsdimensionen bzw. Kompetenzen zusammengefasst und benannt. Abschließend wurden diese Kompetenzen dann einem übergeordneten Kompetenzbereich (interpersonal, arbeitsbezogen, selbstbezogen) zugeordnet. Beide Schritte wurden auch von Ärzten nachvollzogen und damit überprüft.


3. Ergebnisse

Die inhaltliche Analyse des Verhaltens in den erfolgskritischen Ereignissen (insgesamt 121) erfolgte sowohl getrennt für die einzelnen Perspektivgruppen (Ärztinnen/Ärzten, nicht-ärztliches Personal und PatientInnen) als auch gruppenübergreifend. Über alle Perspektivgruppen hinweg ergab die Analyse der erfolgskritischen Verhaltensweisen ein Anforderungsprofil mit elf verschiedenen Kompetenzen (siehe Tabelle 3 [Tab. 3]). Auf der Basis ihrer jeweiligen konzeptionellen Nähe ließen sich die elf entwickelten Kompetenzen dann in die übergeordneten Bereiche interpersonale, arbeitsbezogene und selbstbezogene Kompetenzen einteilen. Diese Einteilung korrespondiert sehr gut mit bestehenden psychologischen Kompetenzmodellen in anderen beruflichen Kontexten, bspw. im Zusammenhang mit Führung oder Teamarbeit (bspw. [14]) und mit Kompetenzmodellen aus der Bildungsforschung ([bspw. [15]). Bei letzterem Modell führen Lehmann und Nieke Sozial-, Methoden- und Selbstkompetenz sowie Fachkompetenz als Bedingungsfaktoren von Handlungskompetenz an.

Bezogen auf die einzelnen Kompetenzen zeigten sich nur geringe Unterschiede zwischen den drei Perspektivgruppen. Die Ärztinnen/Ärzte und das nicht-ärztliche Personal nannten Verhaltensweisen, die sich auf alle elf Kompetenzen bezogen. Bei der Perspektive der PatientInnen fehlten dagegen Verhaltensweisen, die die Kompetenzen Teamorientierung, Belastbarkeit und Kritikfähigkeit spiegelten.

Im Rahmen des Seminars an der Universität Münster wurde auch ein Vergleich zwischen den Interviewergebnissen und den Inhalten des NKLM durchgeführt, bei dem zwei Psychologinnen (eine davon mit zusätzlichem Abschluss in der Medizin) die interviewbasierten Verhaltensweisen zunächst unabhängig voneinander dem NKLM zuordneten. Die verschiedenen erfolgskritischen Verhaltensweisen wurden dabei teilweise unterschiedlichen NKLM-Inhalten zugeordnet, was auf einige Redundanzen innerhalb des NKLM schließen lässt. Nach Diskussion von unterschiedlichen Zuordnungen erarbeiteten die beiden Psychologinnen dann eine gemeinsame Lösung. Diese Lösung zeigte, dass nur wenige erfolgskritische Verhaltensweisen aus den strukturierten Interviews nicht explizit im NKLM wiedergefunden werden konnten. Es handelte sich dabei um die folgenden Verhaltensweisen: Einarbeitung neuer Mitarbeiter, Teammitglieder loben, eigenständige Suche nach einem Mentor, die Arbeit nicht an der Zuständigkeitsgrenze niederlegen, Berücksichtigung von Diagnosen anderer KollegInnen, freundliches Reagieren auf Anfragen von KollegInnen, Ehrlichkeit/ keine Beschönigungen, Fokus in kritischen Fällen komplett auf PatientIn richten, keine „Abzocke“ von Privatpatienten, und Umsetzen beschlossener Veränderungen. Die Inhalte des NKLM wiederum gehen in ihrer Fülle weit über die Inhalte der Interviews hinaus.


4. Diskussion

Die qualitative Analyse auf der Grundlage leitfadengestützter Interviews ergab insgesamt elf Kompetenzanforderungen des Arztberufs. Alle elf Kompetenzen fanden sich sowohl in der Gruppe der befragten Ärztinnen und Ärzte als auch in der Gruppe des befragten nicht-ärztlichen Personals. Bei der Perspektive der befragten PatientInnen hingegen fehlten solche Verhaltensweisen, die auf die Kompetenzen Teamorientierung, Belastbarkeit und Kritikfähigkeit zurückgeführt werden können. Dieses Ergebnis spricht interessanterweise für einen blinden Fleck in der PatientInnensicht. Es ist jedoch ebenfalls denkbar, dass PatientInnen Verhaltensweisen, die diesen Anforderungen zuzuordnen sind, lediglich deswegen nicht beschreiben, da sie in ihrer Rolle als PatientIn deutlich seltener Situationen erleben, in denen solche Verhaltensweisen direkt beobachtbar sind. Somit wird das erfolgreiche Handeln aus Sicht der/des PatientIn dann auf eine für ihn/sie direkt sichtbare Verhaltensweise zurückgeführt, der durchaus eine Verhaltensweise, die den nicht genannten Anforderungen zuordenbar ist und die dem Patienten/der Patientin verborgen geblieben ist, unmittelbar vorausgegangen sein kann. Die/der Ärztin/Arzt ist z.B. nur in der Lage, alle relevanten Informationen im Rahmen des „Informationsmanagements“ zu berücksichtigen, wenn er aufgrund seiner vorhandenen Teamorientierung diese zuvor bei den Teammitgliedern erfolgreich abrufen konnte. Der Patient kann ggf. jedoch nur beschreiben, dass er in der Visite einen umfassend informierten Arzt erlebt hat, der alle relevanten Informationen integrieren und nutzbar machen konnte.

Natürlich müssen diese explorativen qualitativen Ergebnisse, nicht zuletzt angesichts der begrenzten Anzahl an interviewten Personen und befragten Fachgebiete, weiter repliziert und vertieft werden. Auch sind die Ergebnisse der Interviews durch die lokale Konzentration der Studie auf den Einzugsbereich Münster begrenzt. Entsprechend sind quantitative Studien in Form von standardisierten Fragebögen mit einer größeren Anzahl an TeilnehmerInnen und größerer Repräsentativität in Bezug auf Fachgebiete und Orte vorgesehen, in denen auch etablierte Modelle wie der NKLM und das Fleishman Job Analyse System (F-JAS) [16] einfließen sollen. Eine Begrenzung des qualitativen Teils besteht darüber hinaus in dem Fokus auf erfolgskritische Ereignisse, da es auch denkbar ist, dass unkritische Ereignisse sich in Kompetenzen niederschlagen, z.B. aufgrund ihrer Auftretenshäufigkeit. Dieses wird im quantitativen Teil aufgefangen und erweitert, da dort die Ausprägung von Kompetenzen sowohl für übliche als auch spezielle Aufgaben eingeschätzt werden soll.

Insgesamt nehmen wir das Ergebnis des qualitativen Teils bezogen auf die unterschiedlichen Perspektiven zum Anlass, bei der quantitativen Befragung zunächst nur Ärztinnen/Ärzte zu befragen, da sie im Vergleich zur Gruppe der PatientInnen ihr eigenes Anforderungsprofil erschöpfender zu überblicken scheinen.

Grundsätzlich bietet ein arbeitsplatzanalytisch-empirischer Ansatz zur Entwicklung von Anforderungen in verschiedenen Bereichen des Arztberufs verschiedene Vorteile. Im ersten qualitativen Schritt des Ansatzes wird zunächst sichergestellt, dass keine zentralen Verhaltensweisen bzw. Anforderungsdimensionen übersehen werden. Ein Vergleich mit bestehenden Anforderungs- und Kompetenz-Systemen kann zudem die bisherigen Ergebnisse in übergreifende theoretische und medizin-praktische Rahmenmodelle integrieren. Durch den folgenden quantitativen Schritt wird schließlich die Grundlage für belastbare Aussagen geschaffen werden. Nach Abschluss der geplanten quantitativen Phase und mit Erhalt der fachgebietsübergreifenden und -spezifischen ärztlichen Anforderungen entsteht eine breite Datenbasis zur Ableitung von Kompetenzen. Eine wichtige Fragestellung besteht in diesem Zusammenhang darin, ob und inwiefern sich die relative Bedeutung der entwickelten Kompetenzen im Verlauf der beruflichen Karriere als Ärztin/Arzt verändert. Beispielsweise ist es denkbar, dass im Studium oder zu Beginn der ärztlichen Tätigkeit andere Kompetenzen entscheidend sind als bspw. in leitender Position oder als niedergelassene Ärztin/Arzt. An dieser Stelle muss entsprechend diskutiert werden, inwiefern ärztliche Kompetenzen bereits in der Auswahl zum Studium genutzt werden können, da sie doch im Laufe des Studiums erst erworben werden sollen. Dies scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Dieser lässt sich dann auflösen, wenn die Rangfolge der Studierenden, gebildet nach ihrer Ausprägung in den fokussierten Kompetenzen zu Beginn des Studiums über die Studiendauer hinweg stabil bleibt und wenn sich der spätere, auch berufliche Erfolg zuverlässig vorhersagen lässt. Genau diese Fragen beschäftigen Lievens und Sackett [5]. Die Ergebnisse ihrer Studie zu den interpersonalen Kompetenzen „Beziehungsaufbau und -erhalt“ sowie „Umgang mit Informationen“ sprechen dafür, dass sich die Rangfolge der Studierenden bezüglich der Ausprägung in diesen Kompetenzen selbst nach Kompetenztrainings im Studium kaum verändert. In diesem Fall fügen sich also Auswahl und Entwicklung so zusammen, dass das Potenzial der zugelassenen Medizinstudierenden optimal genutzt werden kann. Es gilt zu bedenken, dass nicht alle Kompetenzen, die gefunden wurden und zukünftig gefunden werden, das gleiche Maß an Zeitstabilität aufweisen werden. Stattdessen ist davon auszugehen, dass manche Kompetenzen besser erlernbar sind als andere, in der Persönlichkeit stärker verankerte Kompetenzen es je sein können. Bei persönlichkeitsnahen Kompetenzen, zu denen z.B. Belastbarkeit zählen könnte, werden im Verlauf des Studiums eher der Erkenntnisgewinn und die Reflexion der eigenen Kompetenzausprägungen sowie die Entwicklung entsprechender alternativer Handlungsstrategien als die Arbeit an der Kompetenz selber eine zunehmende Rolle spielen. Die Berücksichtigung in der Auswahl könnte einen entsprechend hohen eigenen Beitrag leisten. Zu welcher Kategorie die einzelnen Kompetenzen zählen, ist in weiteren Schritten zu klären, wenn das übergreifende Kompetenzprofil und die für die jeweiligen spezifischen Fachgebiete gültigen Kompetenzprofile quantitativ ermittelt wurden.

Neben der Ableitung relevanter Anforderungsdimensionen bietet die Methode der kritischen Ereignisse zusätzlich die Möglichkeit, die detaillierte verhaltensbezogene Beschreibung kritischer Ereignisse für die Konzeption von Auswahl- und Entwicklungsmethoden zu nutzen, wie bspw. Multiple-Mini-Aktionen (MMA – für einen Überblick siehe [17] und [18]), Items in Situational-Judgement-Fragebögen [19] und Potenzialanalyse-Übungen. Bei der Entscheidung für die Art und Gestaltung von Auswahlverfahren, Entwicklungsangeboten und Potenzialanalysen werden Standards wie z.B. Objektivität, Reliabilität, Validität, Akzeptanz und Kosteneffizienz zugrunde gelegt werden müssen [20]. Ähnlich wie in früheren Studien (bspw. [21], [4], [3]) wird die Nützlichkeit eingesetzter Verfahren zu prüfen sein.


5. Schlussfolgerungen

Die qualitative Analyse ärztlicher Anforderungen mittels der Critical Incident Technique und darauf aufbauender Verhaltensanalysen ergab elf relevante Kompetenzen für Ärztinnen und Ärzte, die sich in drei verschiedene Kompetenzfelder einordnen lassen - interpersonal, arbeitsbezogen und selbstbezogen. Dabei decken die von Ärzten und nicht-ärztlichem medizinischem Fachpersonal geschilderten Verhaltensweisen alle elf identifizierten Kompetenzdimensionen ab. Die erfolgskritischen Verhaltensweisen aus Sicht der befragten PatientInnen hingegen beziehen sich nur auf acht dieser Kompetenzdimensionen während Verhaltensweisen zu den Kompetenzen Belastbarkeit, Teamfähigkeit und Kritikfähigkeit fehlten. Grundsätzlich soll der in dieser Studie eingesetzte arbeitsplatzanalytisch-empirische Ansatz der Anforderungsanalyse der Medizin als Fach förderliche und zukunftsträchtige Aktionen ermöglichen. Die möglichen Entwicklungs- und Karrierepfade in und nach dem Studium weisen einen hohen Grad an Vielfältigkeit auf. Vor diesem Hintergrund ist die Unterscheidung in übergreifende und spezifische ärztliche Kompetenzen wichtig. Die Ableitung übergreifender bereichs- und fachgebietsunabhängiger Kompetenzen – quasi der kleinste gemeinsame Nenner der Anforderungen aus den verschiedenen ärztlichen Fachgebieten – kann, bei gleichzeitiger Annahme von Zeitstabilität der Kompetenzen, für die Auswahl von Medizinstudierenden genutzt werden. Die Ableitung differenzieller bereichsspezifischer Anforderungen ermöglicht zudem die Unterstützung bei der Beratung und Begleitung unterschiedlicher Karrierewege in der Medizin. In Curricula zur Entwicklung und Begleitung von Studierenden auf Ihrem Weg zum Arztberuf spielen sowohl übergreifende als auch spezifische Kompetenzen eine Rolle. Anforderungsgestützte Potenzialanalysen können angehenden Ärztinnen und Ärzten helfen, speziell den Weg einzuschlagen, der am besten zu ihr oder ihm passt. Durch eine hohe Passung zwischen Person und Job werden Leistung und Zufriedenheit der späteren Ärztinnen und Ärzte wesentlich unterstützt (s. bspw. [22]). Die Gültigkeit und damit Nützlichkeit der gewählten Methoden wird über die Zeit nachgewiesen werden müssen. Mit dem geschilderten Vorgehen kann allerdings eine gute Basis geschaffen werden.


Danksagung

Wir danken den TeilnehmerInnen des Personalausauswahl-Seminars im Masterstudiengang WS 2015/16 unter Leitung von Prof. Dr. Guido Hertel am Institut für Psychologie der Universität Münster für die Unterstützung bei der Umsetzung der qualitativen Phase unseres gemeinsamen Projekts, namentlich Da-eun Ahn, Jan Hendrik Beste, Leonie Frank, Eva Götting, Karin Hammeke, Pia Holzgreve, Astrid Janich, Lena Juds, Jennifer Hildebrand, Laura Krebs, Suzana Milicevic, Sophie Morawietz, Antonia Neumann, Jens Paschmann, Christian Pill, Meike Reuter, Lisa Rößler, Olena Skorozhenina, Luisa Tamm und Sandra Regehr (Tutorin)


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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