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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Die Geschlechterbrille – Entwicklung einer Lernhilfe zur Einführung in die Gendermedizin

Artikel Gendermedizin

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  • corresponding author Simone Weyers - Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Medizinische Fakultät, Centre for Health and Society, Institut für Medizinische Soziologie, Düsseldorf, Deutschland
  • author Anja Vervoorts - Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Medizinische Fakultät, Dekanat, Düsseldorf, Deutschland
  • author Nico Dragano - Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Medizinische Fakultät, Institut für Medizinische Soziologie, Düsseldorf, Deutschland
  • author Miriam Engels - Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Medizinische Fakultät, Institut für Medizinische Soziologie, Düsseldorf, Deutschland

GMS J Med Educ 2017;34(2):Doc17

doi: 10.3205/zma001094, urn:nbn:de:0183-zma0010947

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2017-34/zma001094.shtml

Eingereicht: 17. Oktober 2016
Überarbeitet: 4. Januar 2017
Angenommen: 3. Februar 2017
Veröffentlicht: 15. Mai 2017

© 2017 Weyers et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund und Ziel: Gendermedizin berücksichtigt biologische und soziale Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei der Häufigkeit und dem Verlauf von Erkrankungen, ihrer Diagnostik und Therapie. Studierende der Medizin sollten in der Lehre frühzeitig mit solchen Unterschieden vertraut gemacht werden. Hierzu gibt es bisher jedoch kaum Unterrichtsmaterial. Im Beitrag wird die Adaption und erste Erprobung der „Geschlechterbrille“ vorgestellt, einem deutschsprachigen Instrument, um Medizinstudierende mit der Gendermedizin vertraut zu machen.

Methode: Das kanadische Original „Gender Lens Tool“ wurde zunächst wortgetreu übersetzt, dann von (n=5) Dozent/innen exemplarisch durchlaufen und im Hinblick auf die wissenschaftliche Terminologie adaptiert. In einer studentischen Fokusgruppe (n=4) wurde die Geschlechterbrille im Rahmen eines Gruppeninterviews mit Hilfe qualitativer Methoden erprobt und bewertet. In einer Gesamtkohorte von (n=247) Studierenden des vierten Semesters wurde sie dann zur Pilotierung im Seminar zur Gendermedizin eingesetzt und mit Hilfe quantitativer Methoden beurteilt.

Ergebnisse: Die aus dem Prozess resultierende Geschlechterbrille bietet eine Struktur, mit der Studierende in Bezug auf eine spezifische Erkrankung Geschlechterunterschiede in „Häufigkeit, Diagnose, Verlauf, Therapie und Prävention“ analysieren können. Sie ermöglicht weiterhin eine strukturierte Recherche nach den Hintergründen von Geschlechtsunterschieden entlang der Dimensionen ‚biologische Unterschiede, Einstellungen und Verhaltensweisen, Familie und soziales Netzwerk, Arbeitsbedingungen, materielle Bedingungen und Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem‘. In den studentischen Fokusgruppen ergaben sich Hinweise zum didaktischen Vorgehen. Die männlichen und weiblichen Studierenden des vierten Semesters stimmten zu, dass die Geschlechterbrille zur Einführung in die Gendermedizin sinnvoll ist.

Diskussion: Erste Erfahrungen mit der für den deutschsprachigen Unterricht adaptierten Geschlechterbrille legen nahe, dass sie die Studierenden der Humanmedizin bei der Sensibilisierung für das Thema unterstützten kann.

Schlüsselwörter: Geschlechtersensible Medizin, Gendermedizin, Lehrmaterial


1. Einleitung

Es bestehen deutliche Geschlechterunterschiede in Bezug auf Lebenserwartung und Krankheitsgeschehen. Männer leben im Durchschnitt ca. fünf Jahre weniger als Frauen (77,7 vs. 82,7 Jahre) [1]. Entsprechend ist die vorzeitige Sterblichkeit bei Männern im Alter von 30 bis 64 Jahren doppelt so hoch wie bei Frauen. Diese Übersterblichkeit ist v.a. auf Unfälle, Suizide und Erkrankungen wie Herzinfarkt, Lungenkrebs und Leberzirrhose zurückzuführen [2]. Beim Krankheitsgeschehen finden sich Unterschiede mal zu Ungunsten der Männer, mal zu Ungunsten der Frauen. So erkranken Männer beispielsweise früher als Frauen an der koronaren Herzkrankheit. Demgegenüber werden Frauen häufiger auf Grund psychischer Erkrankungen behandelt oder berentet als Männer [3].

Unterschiede in Lebenserwartung, Krankheitshäufigkeit und -schwere haben vielfältige Ursachen. Zunächst sind die biologischen Unterschiede von Männern und Frauen zu bedenken, da sie körperliche Funktionen und Prozesse der Krankheitsentwicklung betreffen [4]. Jedoch erklären biologische Faktoren die Geschlechterunterschiede in Gesundheits- und Lebenserwartung nicht alleine. Es sind neben den biologischen auch soziale Determinanten an der Entstehung von Gesundheit und Krankheit von Männern und Frauen beteiligt. So unterscheiden sich beispielsweise Männer und Frauen in ihrem medizinischen Inanspruchnahmeverhalten, in ihren gesundheitsrelevanten Lebensstilen und in ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen [5]. Eine Studie an mehr als 11.000 Nonnen und Mönchen konnte etwa zeigen, dass sich die Lebenserwartung von Männern und Frauen angleicht, wenn sie ähnliche Lebens- und Arbeitsbedingungen haben [6].

Die Medizin sollte demnach biologische und soziale Unterschiede zwischen Männern und Frauen und ihre Bedeutung für Entstehung und Häufigkeit von Erkrankungen, für Prävention, Diagnostik und Therapie im Sinne einer zielgruppengerechten Versorgung berücksichtigen. Der medizinischen Ausbildung kommt eine Schlüsselrolle zu, indem sie Studierende befähigt, biologische und sozial konstruierte Geschlechterunterschiede zu erkennen und diese Erkenntnisse in der eigenen ärztlichen Tätigkeit zu nutzen [7]. Den Studierenden ist jedoch häufig die Bedeutung des Geschlechtes für die Entstehung von Krankheiten und das ärztliche Handeln nicht bewusst [8]. So zeigten auch eigene Befragungen von Studierenden zur Bedeutung der geschlechtersensiblen Medizin, dass diese häufig mit Gleichstellung verwechselt wird und Themen wie ungleiche Vergütung oder Karrierechancen betrifft [9].

Eine Medizin, die auf die besonderen Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten eingeht, ist in vielen Lernzielkatalogen der Medizin verankert. Derzeit gibt es jedoch kaum curriculare Konzepte oder Unterrichtsmaterialien zur Gendermedizin für die medizinische Ausbildung [10]. Auf diesem Bedarf aufbauend wurde im Jahr 2014 das Projekt ‘Männer, Frauen und Medizin’ durchgeführt. Es hatte zum Ziel, ein Konzept zur Einführung einer geschlechtersensiblen Medizin im Curriculum der Humanmedizin zu entwickeln.

Zunächst erfolgte eine Ist-Analyse, die sich an den Themen des internationalen Kompetenzkataloges für Geschlechterunterschiede in der Gesundheitsversorgung (APGO) [11] orientierte. Die Ist-Analyse ergab, dass praktisch alle Kompetenzen von mindestens einem Fach an der Fakultät gelehrt werden. Bei der Gegenabfrage mit den Studierenden wurde jedoch eine Diskrepanz zwischen Gelehrtem und Gelerntem deutlich. Vor allem in den vorklinischen Fächern spielt aus Sicht der Studierenden die geschlechtersensible Medizin kaum eine Rolle. Entsprechend hatte eine Studie zur Beschreibung der Lehrangebote am Projektstandort zuvor gezeigt, dass die meisten Studierenden nur wenig Berührung damit hatten [12].

Hieraus ergab sich vor allem ein Bedarf zur Sensibilisierung der Studierenden, damit diese die vorhandenen Lehrinhalte zu biologischen und sozialen Geschlechterunterschieden besser einordnen können. Im Vordergrund der Curriculumsentwicklung stand daher die Einführung eines Instrumentes zur Sensibilisierung der Studierenden im frühen Studienabschnitt. Die Literaturrecherche zu entsprechenden Lernhilfen ergab zwei Ergebnisse: eine medizinsoziologische Übung zum Geschlechterhabitus [13] sowie das aus dem Kanadischen Gender and Health Curriculum Collaborative Project stammende „Gender Lens Tool“, welches der detaillierten Betrachtung von Geschlechterunterschieden einzelner Krankheitsbilder und deren Ursachen dient [14]. Das Gender Lens Tool erschien vielversprechend, um einen ersten Zugang zur Geschlechtermedizin zu finden, so dass es für die weitere Entwicklung ausgewählt wurde.

Ziel des vorliegenden Beitrages ist, die Entwicklung der „Geschlechterbrille“ für den deutschsprachigen Raum zu beschreiben und die Ergebnisse der Erprobungen vorzustellen, die im Kontext der Lehre zur Medizinischen Soziologie durchgeführt wurden.


2. Projektbeschreibung und Ergebnisse

2.1. Übersetzung und gesundheitswissenschaftlicher Entwurf

Im Kanadischen Gender Lens Tool wird in Bezug auf eine spezifische Erkrankung auf der ersten Achse zunächst die Frage nach Unterschieden im Krankheitsaufkommen gestellt (incidence/prevalence, diagnosis/investigation, risk factors, natural history, treatment/response). Auf der zweiten Achse wird nach möglichen Ursachen für diese Unterschiede gefragt (biological vs. psychosocial: social, cultural, economic, political, educational) (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).

Dieses Instrument wurde zunächst wortgetreu übersetzt und in einer ersten Fassung einer Gruppe von Dozierenden (n=5; 2 männlich/3 weiblich) vorgelegt. Es wurde versuchsweise am Beispiel der Depression durchlaufen, diskutiert und im Hinblick auf die medizinische Terminologie und Diskussion in Deutschland adaptiert.

Hierbei wurde auf der ersten Achse auf die Risikofaktoren verzichtet, weil diese eher auf der Achse der Ursachen zu verorten sind. Stattdessen wurde der Aspekt der Prävention hinzugenommen, da deutliche Unterschiede im Präventionsverhalten zwischen Männern und Frauen bestehen [5], [15] und die Prävention auf derselben Ebene wie die Therapie angesiedelt sein sollte. Somit ergaben sich auf der Achse der Unterschiede die folgenden Bereiche: Inzidenz/Prävalenz, Diagnose, Krankheitsverlauf, Therapie und Prävention.

Auf der Achse „Ursachen“ wurde auf die Unterscheidung zwischen biologisch und psychosozial verzichtet, da diese Dichotomisierung u.E. nicht erschöpfend ist. Stattdessen wurden, in Anlehnung an das Modell der sozialen Determinanten [16], die folgenden Ursachen unterschieden: biologische Unterschiede, Einstellungen und Verhaltensweisen, Familie und soziales Netzwerk, Arbeitsbedingungen, materielle Bedingungen und Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem.

Infolge ist ein Instrument entstanden, das in drei Arbeitsschritten durchlaufen wird (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]). Zunächst wird eine Erkrankung ausgewählt (Zelle A). Zweitens wird geprüft, ob es bezüglich der ausgewählten Erkrankung Geschlechterunterschiede in Inzidenz/Prävalenz, Diagnose, Krankheitsverlauf, Therapie und Prävention gibt (Spalte B). Beispielfragen in Bezug auf eine spezifische Erkrankung sind:

  • Sind Männer häufiger von einer Erkrankung betroffen als Frauen und umgekehrt?
  • Variieren die Krankheitssymptome zwischen Männern und Frauen und welche Auswirkungen hat dies auf die Diagnose?
  • Sind Männer anders von Krankheitserregern betroffen als Frauen?
  • Weisen Männer eine andere Therapietreue auf als Frauen?
  • Nehmen Frauen Früherkennungsprogramme häufiger wahr als Männer?

Im dritten Schritt können Hypothesen darüber aufgestellt werden, welche Ursachen zu den Geschlechterunterschieden beitragen könnten (Zeile C). Beispielfragen in Bezug auf eine spezifische Erkrankung sind:

  • Beeinflusst der weibliche Menstruationszyklus die Wirksamkeit von Medikamenten?
  • Unterscheiden sich Jungen und Mädchen in ihren Ansichten über die Prävention von Erkrankungen?
  • Erfahren Männer und Frauen familiären Rückhalt zur Krankheitsbewältigung in unterschiedlichem Ausmaß?
  • Begünstigen die Arbeitsbedingungen von Männern die Entstehung der Krankheit in stärkerem Maße als die Arbeitsbedingungen von Frauen dies tun?
  • Unterscheiden sich Männer und Frauen hinsichtlich der wirtschaftlichen Ressourcen zur Krankheitsbewältigung?
  • Berichten Männer anders über Krankheitsbeschwerden als Frauen?
2.2. Erprobung in der studentischen Fokusgruppe

Erstmals wurde das Instrument mit einer Gruppe von Studierenden im Rahmen einer Gruppendiskussion erprobt. Hierzu wurden alle Studierenden der Medizinischen Fakultät mit Rundmails und gezielter persönlicher Ansprache zur freiwilligen Teilnahme eingeladen. Vier Studierende konnten rekrutiert werden (1 männlich/3 weiblich). Als Anreiz für die Teilnahme erhielten sie einen Buchgutschein.

Nach der Gruppendiskussion über die Relevanz der Gendermedizin und ihre derzeitige Vermittlung am Standort Düsseldorf wurde den Studierenden die Geschlechterbrille vorgelegt. Die Aufgabe war, diese anhand des Beispiels Depression in der Sitzung durchzuarbeiten und danach kritisch im Hinblick auf Sinnhaftigkeit und Praktikabilität zu beurteilen. Die Diskussion wurde aufgezeichnet und wortgetreu transkribiert. Die Daten wurden von zwei unabhängigen Personen mittels induktiver Inhaltsanalyse ausgewertet [17]. In einem offenen Codierungsverfahren wurden aus dem Textmaterial Kategorien gebildet und die Aussagen eingeordnet und abstrahiert. Dabei ergaben sich folgende Punkte:

Positive Kritik

Eigeninitiative: Die Studierenden berichteten, dass das Instrument zum gezielten Recherchieren und Diskutieren anrege und die selbständige Erarbeitung des Themas fördere.

Didaktisches Vorgehen: Die Studierenden präferieren als Lernort das Seminar, um Aspekte der Gendermedizin in der Gruppe zu erschließen. Als geeignete Settings für die Anwendung der Geschlechterbrille wurden zunächst die Unterrichtseinheiten der klinischen Fächer genannt. Später jedoch waren die Studierenden der Meinung, dass eine separate Unterrichtseinheit in den frühen Semestern sinnvoller sei. Mit Hilfe des Instruments könne man an wenigen Krankheitsbildern exemplarisch den „Geschlechterblick“ trainieren und sei in den klinischen Fächern für Geschlechteraspekte aufgeschlossen.

Inhalt: Sie hoben positiv hervor, dass die Geschlechterbrille hilft, ein medizinisches Thema (nochmal) unter dem Aspekt der Gendermedizin zu beleuchten. Hierbei würden auch neue Aspekte der Unterschiedlichkeit von Männern und Frauen deutlich, wie etwa im Bereich der Prävention und Therapie. Somit helfe das Instrument, eine sensible Haltung für den künftigen Umgang mit Patientinnen und Patienten zu erzeugen.

Verbesserungsvorschläge

Arbeitsauftrag: Die Studierenden meldeten zurück, dass der Arbeitsauftrag nicht vollkommen klar gewesen sei. Dies betraf zunächst die Abfolge der zu bearbeitenden Punkte. Des Weiteren tauchte die Frage nach der Informationsquelle auf, d.h. ob hinsichtlich der Morbiditätsunterschiede und -ursachen eigene Ideen oder die verfügbare wissenschaftliche Evidenz eingefügt werden sollten.

Platzprobleme: Zwar strukturiere die Tabelle die Anordnung von Morbiditätsunterschieden und -ursachen. Es ergäbe sich aber das Problem, dass die Studierenden sich dadurch bei der Bearbeitung eingeschränkt fühlen. Die Studierenden wünschten sich mehr Platz, um die Unterschiede zu benennen und die Stichworte zu den Ursachen zu formulieren.

Die studentischen Verbesserungsvorschläge zum Arbeitsauftrag aufgreifend, wurde eine detaillierte Aufgabenstellung ausformuliert (siehe Abbildung 3 [Abb. 3]), die Bearbeitungsabfolge der Fragen wurde mit A, B, C gekennzeichnet und es wurde ein zusätzliches Feld zur Benennung der Morbiditätsunterschiede eingefügt. Weitere Stichworte zu Ursachen können auf einem separaten Notizblatt Platz finden. An dem Raster wurde jedoch festgehalten, weil es u.E. die die vielen Facetten der „Geschlechtermedizin“ illustriert und den analytischen Blick schärft.

2.3. Erprobung im medizinsoziologischen Kerncurriculum

Nachfolgend wurde die Geschlechterbrille in der Gesamtkohorte der Studierenden des vierten Semesters eingesetzt, und zwar im Rahmen eines 90-minütigen Seminares mit dem Thema „Männer, Frauen und Medizin“. Lernziel der Veranstaltung war, dass die Studierenden Geschlechterunterschiede im Krankheitsgeschehen beschreiben und analysieren sowie das Konzept der Gendermedizin in Grundzügen erläutern können. Hierzu erläuterte der Dozent/die Dozentin zunächst Unterschiede in der frühzeitigen Mortalität und den Haupttodesursachen als auch Unterschiede in den epidemiologisch relevanten Erkrankungsbereichen. Die Studierenden arbeiteten dann am Beispiel der koronaren Herzkrankheit (KHK) die Geschlechterbrille entsprechend den Anweisungen in Abbildung 3 [Abb. 3] durch. Hierzu erhielten sie einen Papierausdruck. Angesichts der Zeitbegrenzung fokussierten sie bei Frage C auf Hypothesen zu Geschlechterunterschieden bei der Inzidenz/Prävalenz der KHK. Im letzten Teil der Veranstaltung präsentierten die Dozenten Evidenz zu Geschlechterunterschieden in den Ursachengruppen, die dann den zuvor aufgestellten Hypothesen gegenüber gestellt wurden. Am Ende des Seminars bewerteten die Studierenden die Geschlechterbrille anhand eines standardisierten anonymen Fragebogens. Anhand einer sechsstufigen Likertskala gaben sie an, inwiefern sie den Aussagen zustimmen, dass die Geschlechterbrille eine sinnvolle Einführung in die Gendermedizin ist; übersichtlich gestaltet ist; leicht anzuwenden ist; zum Nachdenken anregt.

Für die Auswertung wurden für jedes Item Mittelwert und Standardabweichung berechnet. Die Auswertungen wurden für die Gesamtstichprobe von 247 Studierenden als auch für Männer (78) und Frauen (130; 39 fehlende Geschlechtsangaben) getrennt ausgeführt. Mittels t-Test für unabhängige Stichproben wurde überprüft, ob sich die Bewertungen zwischen Männern und Frauen unterscheiden. Die Ergebnisse sind in Tabelle 1 [Tab. 1] aufgeführt.

Mit Werten zwischen 2,14 und 2,32 urteilten die Studierenden in der Gesamtstichprobe im Mittel, dass die o.g. Aussagen zur Geschlechterbrille „zutreffen“. Das entspricht im für die Studierenden vertrauten Evaluationssystem sinngemäß einer Beurteilung mit der Schulnote „Gut“. Es zeigten sich keine Geschlechterunterschiede in der Beurteilung des Instrumentes.


3. Diskussion

3.1. Zusammenfassung

Die hier präsentierte Lernhilfe beruht auf dem Gender Lens Tool aus dem kanadischen Gender and Health Curriculum Collaborative Project. Es wurde im oben beschriebenen Prozess übersetzt, exemplarisch durchlaufen und angepasst und in zwei Durchläufen von Studierenden beurteilt.

Die vorliegenden Ergebnisse geben einen ersten Eindruck davon, dass solch eine Reflexionseinheit im vorklinischen Unterricht eine sinnvolle Strategie zur Einführung der Geschlechtermedizin im Curriculum der Humanmedizin sein kann. Die Medizinische Soziologie kann für eine solche Unterrichtseinheit den Rahmen bilden. Hier sind entsprechende Inhalte Bestandteil des Gegenstandskataloges und mit dem scheinpflichtigen Unterricht werden alle Studierenden einer Kohorte erreicht.

3.2. Limitationen

Erste Erfahrungen im Kerncurriculum ergaben allerdings, dass sorgfältig darauf geachtet werden sollte, mit der Übung keine Stereotypen zu begünstigen. Annahmen, die in frühen Arbeitsschritten ad hoc aufgestellt werden, können sich auch als falsch herausstellen. Um diesen Prozess zu unterstützen, soll in einem nächsten Arbeitsschritt eine evidenzbasierte Materialsammlung erstellt werden.

In die weitere Entwicklung des Instrumentes sollte auch die Perspektive der Lehrenden systematisch einbezogen werden, v.a. der Gruppe der ärztlichen Dozenten. Damit sollte die Anschlussfähigkeit des Instrumentes zur Einführung in die Geschlechtermedizin an die Lehrinhalte des klinischen Abschnittes überprüft werden.

3.3. Ausblick

Der Nationale Kompetenzbasierte Lernzielkatalog Medizin, NKLM, sieht vor, dass Studierende den Gesundheitszustand von männlichen und weiblichen Patientengruppen erfassen und bei der Kommunikation, Therapie und Prävention geschlechterbezogene Belange identifizieren und adäquat berücksichtigen [www.nklm.de]. Die Geschlechterbrille kann hierzu im deutschsprachigen Raum eingesetzt werden. Die Studierenden können die Gendermedizin anhand einer Beispiel-Erkrankung im frühen Studienabschnitt „durchdeklinieren“, um in höheren Semestern für die klinischen Aspekte der Prävention, Diagnostik und Therapie bei Männern und Frauen aufgeschlossen zu sein. Das Instrument ist flexibel anwendbar und kann sowohl in Einzelveranstaltungen als auch in Unterrichtsreihen angewandt werden. Die Anregung soll Studierenden helfen, bereits vorhandene Lehrinhalte zu biologischen und sozialen Geschlechterunterschieden besser einzuordnen. Dies ist ein wichtiger Schritt in der Ausbildung zukünftiger Ärztinnen und Ärzte, die auch über das Studium hinaus eine geschlechtersensible Betrachtung im klinischen Alltag verinnerlichen.


Danksagung

Wir danken den Förderern und Koordinatoren des KomDiM-Programmes, welches Grundlage für das curriculare Projekt „Männer, Frauen und Medizin“ war; Dr. Anna Day des Kanadischen Gender and Health Curriculum Collaborative Projektes für die Überlassung des Gender Lens Tools; den Medizinstudierenden für ihr Engagement im Rahmen der Evaluation; Benjamin Brinkmann für die graphische Gestaltung der deutschen Geschlechterbrille.


Förderung

Gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (Förderkennzeichen 01PL11083C).


Aufklärung und Einwilligung

Die Aufklärung und Einwilligung der Teilnehmer wurde von der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät Düsseldorf für gut befunden (Studiennummer 5012).


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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