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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Interprofessionelle Ausbildung auf dem Weg zum Arzt und Physiotherapeuten in einem kompetenzorientierten Curriculum

Artikel Interprofessionelle Ausbildung

  • corresponding author Oliver Sander - Heinrich-Heine-Universität Duesseldorf, Poliklinik, Funktionsbereich & Hiller Forschungszentrum für Rheumatologie, Düsseldorf, Deutschland
  • Regine Schmidt - Universitätsklinikum Düsseldorf Ausbildungszentrum, Fachbereich Physiotherapie, Düsseldorf, Deutschland
  • Gerd Rehkämper - Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Institut für Anatomie I, Düsseldorf, Deutschland
  • Tim Lögters - Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Klinik für Unfall und Handchirurgie, Düsseldorf, Deutschland
  • Christoph Zilkens - Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Orthopädische Klinik, Düsseldorf, Deutschland
  • Matthias Schneider - Heinrich-Heine-Universität Duesseldorf, Funktionsbereich & Hiller Forschungszentrum für Rheumatologie, Düsseldorf, Deutschland; Heinrich-Heine-Universität Duesseldorf, Medizinische Fakultät, Studiendekanat, Düsseldorf, Deutschland

GMS J Med Educ 2016;33(2):Doc15

doi: 10.3205/zma001014, urn:nbn:de:0183-zma0010142

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2016-33/zma001014.shtml

Eingereicht: 13. August 2015
Überarbeitet: 20. Oktober 2015
Angenommen: 25. November 2015
Veröffentlicht: 29. April 2016

© 2016 Sander et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Einleitung: Interprofessionelles Lernen ist sinnvolle Voraussetzung eines zukünftigen interprofessionellen Handelns. Strukturelle Änderungen in der Ausbildung bieten die Möglichkeit, neue Konzepte einzuführen. Rheumatische und muskuloskelettale Erkrankungen (RMD) werden von Medizinern und Physiotherapeuten vorgebeugt und behandelt.

Projektbeschreibung: Ein komplexes, longitudinales interprofessionelles Lehr- und Lernkonzept für angehende Mediziner und Physiotherapeuten wurde für alle Qualifikationsstufen der Ausbildung (Anatomie, körperliche Untersuchung, Krankheitslehre, Therapie) entwickelt. Große Abschnitte der Lehre zu RMD werden gemeinsam bestritten. Die Lernzufriedenheit wird kontinuierlich und vergleichend evaluiert. Der Lernerfolg wird in praktischen Prüfungen und Klausuren überprüft.

Ergebnis: Die interprofessionelle Lehre wurde vor 2 Jahren für 420 Studierende im 1. Studienjahr und 360 Studierende im 4. Studienjahr sowie 40 angehende Physiotherapeuten im 1. und 3. Ausbildungsjahr eingeführt und bis jetzt fortgesetzt. Die dokumentierte Lehr- und Lernzufriedenheit ist hoch und liegt deutlich über dem Durchschnitt aller Lehrbereiche (Zufriedenheit RMD Note 2,4, Durchschnitt aller 3,3) . Die Bestehensquote der Abschlussprüfungen liegt bei 94%. Alle Befragten befürworten die Fortsetzung der interprofessionellen Lehre.

Schlussfolgerung: Interprofessionelle Lehre zu RMD kann für angehende Mediziner und Physiotherapeuten in verschiedenen Qualifikationsstufen erfolgreich umgesetzt werden.

Schlüsselwörter: Interprofessionelles Lernen, Physiotherapie, Erkrankungen des Bewegungsapparates, Patient Partner


1. Einleitung

Die nahezu regelhafte Notwendigkeit interprofessionellen Handelns in der medizinischen Versorgung steht einer in den staatlichen deutschen Lehreinrichtungen weitgehend fehlenden Umsetzungen in der Ausbildung der verschiedenen Disziplinen gegenüber. Basierend auf den internationalen Erfahrungen [1] wird der Ruf nach der Entwicklung von interprofessionellen Ausbildungskonzepten in Deutschland immer lauter und eine Evaluation solcher neuen Konzepte ist essentiell. Ein umfassendes Positionspapier mit Beispielen bisheriger Konzepte im europäischen Vergleich und Empfehlungen für eine Umsetzung im deutschsprachigen Raum wurde unlängst in dieser Zeitschrift veröffentlicht [2] aber auch auf der Fachberufekonferenz der Bundesärztekammer diskutiert [3], [http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/62214/Interprofessionelles-Lernen-soll-zu-einer-besseren-Versorgung-fuehren]. Neben organisatorischen Hemmnissen wie unterschiedlichen Zuständigkeiten für die Ausbildung unterschiedlicher Gesundheitsberufe stehen die Lehrkonzepte in der mehr praxisorientierten Ausbildung an den Fachschulen der akademischen Ausbildung der Mediziner mit einem langen theoretischen Vorlauf gegenüber.

Die erfolgreiche interprofessionelle Lehre bedarf einer grundlegenden konzeptionellen Entwicklung unter Beteiligung der beteiligten Fachdisziplinen. Etablierte Routine und Bedenken gegen interprofessionelle Lehre müssen überwunden werden, um erfolgreiche Projekte umzusetzen [1], [4]. Mit der Einführung eines kompetenzorientierten Curriculum zum Wintersemester 2013/14 an der Heinrich-Heine Universität hat sich durch eine komplette Neustrukturierung der Ausbildung die Möglichkeit ergeben, interprofessionelle Lehre zu integrieren.

Rheumatische und muskuloskelettale Erkrankungen (RMD) stellen eine große Herausforderung in der alltäglichen Versorgung dar. Sie sind für die häufigsten Verordnungen von Medikation, Krankschreibungen und vorzeitigen Berentungen verantwortlich, schränken die Lebensqualität deutlich ein und behindern die Partizipation [5], [6]. RMD haben oft vielfältige Ursachen und Therapiekonzepte, nicht selten mehrere gleichzeitig. Dennoch ist die universitäre Lehre in Deutschland in diesem Bereich nicht befriedigend, die bekannten Defizite konnte bisher nicht ausgeglichen werden [7], [8].

Für die Studierenden bietet der Bewegungsapparat sich durch persönliche Erfahrungen (z.B. Verletzungen), gute klinische Untersuchbarkeit (Anfassen, Begreifen) und häufig einfache mechanische Erklärungen gut für den Einstieg in die Lehre an. Physiotherapeuten und Ärzte sind an der Behandlung der RMD gleichermaßen beteiligt, haben aber in der Regel andere Zugänge und Therapiewege. Physiotherapie wird im Medizinstudium oft als eine weniger wichtige Therapie angesehen und kommt in der medizinischen Ausbildung selten in den Fokus. Physiotherapeuten sehen den Arzt oft primär als Verordner und die Kommunikation beschränkt sich in der Regel auf wenige Wörter oder Indikationsschlüssel. Wer einmal die Erfahrung interprofessioneller Visiten und Fallbesprechungen gemacht hat, weiß, dass eine gemeinsame Beurteilung und Therapieplanung deutlich effektiver ist.

Erkrankte und auch Menschen, die RMD vorbeugen möchten, sind nicht nur als passive Empfänger einer Behandlung anzusehen sondern als aktive Teilhaber anzuerkennen, die durch ihr Verhalten aktiv vorbeugen und behandeln können. Auch sie müssen geschult werden und können in die Ausbildung integriert werden.

RMD haben verschiedene Ursachen: Die wesentlichen sind angeborene Störung, Alter, Verletzung und Entzündung. Neben Knochen und Gelenken sind Sehnen und Bänder, Muskeln, Faszien, Nerven, Gefäße, Haut, Stoffwechsel und das Immunsystem nötig, um Bewegung zu erhalten. Auch die Selbstwahrnehmung und Motivation sich selbst angemessen zu bewegen sind zentrale Faktoren zum Erhalt der Vitalität.

Kompetenzorientierte Lehre zu RMD ist daher sinnvollerweise interdisziplinär, interprofessionell und in enger Kooperation mit den Patienten umzusetzen, das Curriculum der Medizinischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität hat in Kooperation mit der Schule für Physiotherapie und den Patientenselbsthilfegruppen am Universitätsklinikum hierfür Raum geschaffen und ein gemeinsames Lehr- und Lernkonzept entwickelt und umgesetzt.


2. Projektbeschreibung

Die Veränderungen im Medizinstudium waren grundlegend. Vorklinik und Klinik wurden durch Qualifikationsstufen ersetzt, Kompetenzen und übergeordnete Lernziele wurden entwickelt. Die Lehre wird nun nicht mehr fachspezifisch gereiht sondern interdisziplinär Themen untergeordnet.

Im Folgenden soll die inhaltliche und formale Einbindung der RMD in die Lehre unter dem besonderen Aspekt der interprofessionellen Ausbildung dargestellt werden.

Die Lehre zu RMD wurde durch die Rheumatologie gemeinsam mit Unfallchirurgie und Orthopädie in den unterschiedlichen Qualifikationsstufen konzeptiert und wird gemeinsam angeboten. Die Entwicklung des Lehrkonzeptes verlief über 4 Jahre unter gleichberechtigter Beteiligung aller interessierten Fächer unabhängig von der Profession. Die Vorschläge wurden durch die Unterrichtskomissionen der Fakultät geprüft und in den Lehrplan aufgenommen. Die Lehrenden und Vertreter der Studierenden treffen sich regelmäßig, zumindest dreimal im Lehrjahr, um die Lehre weiter zu optimieren, Unsicherheiten abzubauen und die Interprofessionalität zu stärken Ein Koordinator steht für kurzfristige Problemlösungen zur Verfügung.

Die Physoptherapieschule stellte den Lehrplan so um, dass ein Teil der Lernenden eines Lehrjahres für die interprofessionelle Lehre zur Verfügung standen, während die anderen ihre praktische Ausbildung fortsetzten.

Die interprofessionelle Lehre wurde mit Einführung des kompetenzorientierten Curriculums in Düsseldorf zum Wintersemester 2013/14 begonnen. 420 Studierende des 1. Studienjahres, 360 Studierende des 4. Studienjahres und jeweils 40 angehende Physiotherapeuten des 1. und 3. Lernjahres werden seitdem jährlich integriert. Eine Fortsetzung ist geplant, zum Wintersemester 2016/17 erreichen die 2013 eingeschlossenen Studierenden die 2. Qualifikationsphase.

2.1. Erste Qualifikationsstufe

Die Untersuchung des gesunden Bewegungsapparates wird bereits im 1. Studienjahr vermittelt. Im Block „Der Mensch-Fokus Bewegung“ wird die makroskopische Anatomie des Menschen theoretisch und praktisch (Präparierkurs) an die Studierenden herangetragen. Dabei werden physikalische Grundbegriffe integrativ erläutert und durch eine enge Kooperation mit der Physiotherapieschule frühzeitig physikalische Therapiekonzepte den Studierenden in praktischen Übungen vorgestellt. Schulter, Hand, Knie, Rücken und Fuß bilden Themenschwerpunkte, die in einer Woche interdisziplinär und interprofessionell behandelt werden (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Inhalte der praktischen Erfahrung sind dabei die Erkennung des Normalen, der Variabilität des Normalen aber auch erste Abweichungen vom Normalen, z.B. Fehlhaltung des Rückens, Beckenschiefstand, etc.. Orthopäden und Unfallchirurgen erklären häufige und typische Verletzungen, die auf physikalischen Grundlagen basieren und die Anatomie besser verstehen lassen. Gleichzeitig werden Konzepte zum Erhalt des gesunden Bewegungsapparates vorgestellt (Rückentraining, Training zur Stabilisierung der Knie, …). Hierzu konnten erfahrene Physiotherapeuten und renommierte Trainer (z.B. eines ortsansässigen deutschen Leistungszentrums) gewonnen werden (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).

Tutoren (fortgeschrittene Lernende der Physiotherapie (PT) und Medizinstudenten höherer Qualifikation) erklären den Erstsemestern die Untersuchungstechniken am Menschen und üben sie. Physiotherapeutische Behandlungen werden in Arbeitsstationen erfahren. Angehende Physiotherapeuten haben die Möglichkeit, an der makroskopischen Anatomie zu partizipieren.

Die Erhebung der Anamnese wird im 2. Semester durch Allgemeinmediziner vermittelt. Patienten der regionalen Morbus Bechterew Selbsthilfegruppe stehen dabei als Übungspersonen zur praktischen Anwendung den Studierenden zur Verfügung. Anschließend können die angehenden Mediziner in einem ersten Hausarztpraktikum die Anamnese und Untersuchung des Bewegungsapparates anwenden. Eine standardisierte Dokumentation wurde dafür entwickelt (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]). Die beteiligten Hausärzte haben an einem Training zu den Untersuchungstechniken durch studentische Tutoren teilgenommen.

Die angehenden Physiotherapeuten unterstützen die regelmäßigen REHA-Sport Veranstaltungen der Selbsthilfegruppen und sammeln Erfahrung in der Anleitung von Gymnastikgruppen. Eine Beteiligung interessierter Medizinstudenten an den REHA-Sport Veranstaltungen im Rahmen eines noch zu ergänzenden Wahlcurriculums ist geplant.

Im 3. Studienjahr wird den Studierenden der Medizin tiefergehendes Wissen zu klinischer Diagnostik, Differentialdiagnostik, ärztlichem Handeln und Immunologie (Infektion und Abwehr) vermittelt. Da diese nur einen partiellen Bezug zu RMD haben und für den angehenden PT nicht relevant sind, wurde auf eine Beteiligung der angehenden Physiotherapeuten verzichtet.

2.2. Zweite Qualifikationsstufe

Ab dem 4. Studienjahr werden mehrere 4 wöchige Praxisblöcke mit Unterricht „am Krankenbett“ (Ambulanz oder Operationssaal) angeboten, von denen auch einer in mit RMD befassten Fachbereichen stattfindet. Diese wurden bereits in dieser Zeitschrift bereits vorgestellt [9]. Die Lernenden der PT hospitieren wie die angehenden Mediziner in der Rheumaambulanz.

Die durch einen festen Stundenplan strukturierte Ausbildungsphase der 2. Qualifizierungsstufe zur RMD ist ein 4 wöchiger Studienblock „Bewegungsapparat“. Die Lernenden der PT des 3. Lehrjahres nehmen gleichberechtigt an dem kompletten Studienblock teil. Sie schreiben auch gemeinsam die gleiche Abschlussklausur (Multiple Choice). Die 60 Unterrichtsstunden Lehre teilen sich auf in 24 Stunden Vorlesung (für jeweils 90 Studierende, 10 Lernende der Physiotherapie) und 36 Stunden Seminar (in Gruppen von 15 Studierenden und 2 Lernende der Physiotherapie) sowie einer Woche zum Eigenstudium an Fällen (CASUS) und Prüfungsvorbereitung.

Wochenweise werden Schwerpunkte auf Altern des Bewegungsapparates, Unfälle und Entzündungen gelegt. Der Unterricht baut auf Fälle auf, die zu Wochenbeginn an Kleingruppen initiiert werden. Neben den Kernfächern werden wichtige Aspekte durch z.B. Humangenetik, Neuropathologie, Mikrobiologie, Psychosomatik, Epidemiologie in Seminaren vermittelt und zum Wochenabschluss erfolgt eine Zusammenfassung unter allgemeinmedizinischer Sichtweise (siehe Abbildung 3 [Abb. 3]).

Die angehenden Physiotherapeuten bieten auch in diesem Studienblock ein doppelstündiges Seminar als Parcours an. Geschulte Patienten, die in der Rheumaliga organisiert sind, stehen in einem Seminar für die spezielle Untersuchung, Umsetzung im Alltag und Information zu Krankheitsverarbeitung, Hilfsmitteln etc. zur Verfügung https://www.rheuma-liga.de/aktivitaeten/projekte/detailansicht/news/patient-als-partner/]. Anhand von Schauspielpatienten werden belastende Kommunikationssituationen (belastende Aufklärungsgespräche) geübt und reflektiert.

2.3. Dritte Qualifikationsstufe

Die Studierenden treffen im praktischen Jahr mit den auf den Stationen praktisch eingesetzten angehenden Physiotherapeuten zusammen und haben die Möglichkeit, die Patienten im Rahmen des stationären Aufenthaltes (gemeinsam) zu betreuen. Studierende und Lernende werden gleichzeitig als Tutoren für die nachfolgenden Semester eingesetzt.

2.4. Evaluation

Die Lehre wird durch die Studierenden regelmäßig verpflichtend evaluiert und durch das Studiendekanat ausgewertet. Eine themengleiche Interventions- und Kontrollgruppe stand aus organistorischen Gründen nicht zur Verfügung.

Ergänzend wurden Lehrende und Lernende des 2. Durchgangs im Sommersemester 2015 ebenfalls anonymisiert zu Ihren Erwartungen und Erfahrungen mit interprofessioneller Lehre sowie der Perspektive des Lehrkonzeptes befragt.

Bestehensquoten in den zentralen Prüfungen zu Fragen der RMD können mittelfristig zur Evaluation des Lernerfolges der angehenden Mediziner dienen.

Die Begeisterung angehender Mediziner für RMD können mittelfristig durch Bewerberzahlen in den entsprechenden Weiterbildungsstätten gemessen werden.

In der Rheumatologie gibt es durch die Kerndokumentation der kooperierenden Rheumazentren auf Patientenebene generiert langfristig prospektiv angelegte und regional auswertbare Daten zur Nutzung und Umsetzung verschiedener Therapien, so der PT bei Rheumapatienten, Funktionsstatus, Partizipation und Patientenzufriedenheit [http://dgrh.de/fileadmin/media/Forschung/Versorgungsforschung/ErwachsenenKerndok/Standardpraesentation_2013_extern.pdf]. Diese können Versorgungsrelevante regionale Trends erkennen lassen und damit der langfristigen Validierung auf der Versorgungsebene dienen.


3. Ergebnisse

3.1. Umsetzung aus Sicht der medizinischen Lehre

Das hier vorgestellte Modell nimmt die Bedeutung der einzelnen Fachrichtung in der Lehre deutlich zurück und setzt den Patienten und das Behandlungsteam in den Mittelpunkt. Es schafft die Akzeptanz verschiedener Sichtweisen und zeigt deren Nutzen auf. Neben Inhalten werden wichtige Kompetenzen gelebt und damit real. Betroffener Patient, Physiotherapeut und Mediziner lernen miteinander und voneinander.

Die Lehrenden der makroskopischen Anatomie sehen, dass das funktionelle Verständnis des Bewegungsapparates im Präparierkurs deutlich von der Anatomie am Lebenden (Untersuchungskurs, Physiotherapie) profitiert.

Alle Lehrenden, die an der Befragung teilgenommen hatten, berichteten über eigene positive Erfahrungen und unterstützten die Fortsetzung (n=7, <10%).

3.2. Umsetzung aus Sicht der Studierenden

Angehende Mediziner begrüßen die interprofessionelle Lehre grundsätzlich sehr neugierig, hatten aber keine Erwartungen (Rücklauf freiwillige Befragung n=12, 13%). Einzelne Studierende äußern die Sorge, durch den zusätzlichen Zeitbedarf würde Lernzeit für die Wissensabfrage in den Multiple Choice Prüfungsfragen wegfallen.

Die Studierenden im 1. Semester waren anfangs deutlich unsicherer im Umgang mit der gegenseitigen körperlichen Untersuchung als die bisher im 3. Studienjahr in der Untersuchungstechnik unterrichteten Studierenden. Dieses wurde im Verlauf durch eine mehr erklärende Einführung aufgegriffen. Die Bereitschaft zur gegenseitigen Untersuchung war bei den angehenden Physiotherapeuten deutlich ausgeprägter und konnte die Studierenden „mitreißen“.

3.4.1. Lernzufriedenheit

Die in der zentralen Evaluation der Lehre (n=37, 41% Rücklauf) gemessene Zufriedenheit der Studierenden mit der Ausbildung, der Lernzuwachs und die empfundene Strukturierung des Unterrichts liegen mit einer Durchschnittsnote von 2,4 deutlich über den Evaluationsergebnissen der anderen themenbezogenen Studienblöcke mit einer Durchschnittsnote von 3,3 (Rücklauf 30-50%, siehe Abbildung 3 [Abb. 3]). Dabei schneidet die Lehre durch Physiotherapeuten bei den Studierenden mit einer Note von 1,7 besonders gut ab. Die praktische Ausbildung ist im Praxisblock an den mit RMD befassten Kliniken besser evaluiert, was eine zusätzliche Auswirkung auf die Wahrnehmung der eigenen Kompetenzen im praktischen Team vermuten lässt.

Die strukturierte Lehre durch Patienten und PT wird von den Studierenden bezüglich allgemeiner Zufriedenheit und Lernzuwachs als gleichwertig zur Lehre durch Mediziner gewertet (siehe Abbildung 4 [Abb. 4]).

3.4.2. Bestehensquoten

Die in den zentralen Abschlussklausuren (Multiple Choice) überprüften Lernziele werden von der großen Mehrheit der Lernenden erreicht. Die Bestehensrate für Mediziner lag bei einer Bestehensgrenze von 60% bei 94%, 14% beendeten mit der Note sehr gut, 58% mit gut, 14% mit befriedigend und 8% mit ausreichendem Ergebnis.

Eine messbare Auswirkung der eingeführten interprofessionellen Lehre auf die Bestehensrate zentraler Prüfungen liegt noch nicht vor.

3.3. Umsetzung aus Sicht der Physiotherapeuten

Der Zugang zu den Unterrichtsbegleitenden elektronischen Lernmaterialien der Universität war zunächst den Lernenden der Physiotherapie nicht möglich, hierfür konnte ein gesonderter Zugang geschaffen werden.

Die angehenden Physiotherapeuten erleben die Lehr-Lernsituation mit den Medizinstudenten als gelungene Begegnung zwischen zwei Berufsgruppen, die im Sinne einer optimalen Patientenversorgung, eng verzahnt sein sollten. In der Tutorenrolle erproben die Physiotherapielernenden so bereits früh ein angemessenes Auftreten im Sinne einer couragierten Patientenfürsorge. Die zukünftigen Physiotherapeuten erleben durch ihr professionelles Auftreten als Tutoren und die neugierige Offenheit der Medizinstudenten eine hohe Wertschätzung. Die schriftliche Rückmeldung der Mediziner bezüglich des hohen Fachwissens und die motivierende Freundlichkeit der Physiotherapie wirken sich offenbar auch stimulierend auf eine intensivere Zusammenarbeit auf den Stationen im Praktikum aus. Fast alle haben in den darauffolgenden Praktika konstruktive Kontakte mit den Leuten, die sie vom Studienblock her kennen. Die konstruktive Zusammenarbeit spricht sich herum und führt dann wiederum zu weiteren Synergieeffekten bei der Therapie- und Zielabsprache am konkreten Patienten. Die Physiotherapeuten erfassen so, dass sie dazu beitragen können und sollten, Medizinern einen tieferen Einblick in physiotherapeutische Fähigkeiten zu geben, damit diese gezielter mögliche Verordnung vornehmen können. Gemeinsame Zielabsprachen unter Einbezug aller Beteiligten bieten das Fundament einer bestmöglichen Gesundheitsversorgung. Über das gemeinsame Lernen im Bewegungsmodul wird eine Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“ durch ein adäquates Verhalten - immer im Hinblick auf die Maximalversorgung der Patienten - implizit gelebt und dadurch „ganz nebenbei“ selbstverständlich. In der standardisierten Evaluation waren alle Rückläufe (n=4, 30%) mit der interprofessonellen Lehre zufrieden.

91,7% der angehenden Physiotherapeuten bestanden die Abschlussklausur bei einer Bestehensgrenze von 50%.


4. Diskussion

Während eine interprofessionelle Lehre in medizinischen Fachschulen für verschiedene Berufe, wie sie in anderen Ländern üblich sind [10], schon organisatorisch einfacher umzusetzen ist, müssen in Deutschland unterschiedliche organisatorische Lehrformen koordiniert werden. Dieses ist auf Ebene der Lehrenden bei Bereitschaft zur Veränderung und Engagement noch möglich. Prüfungstermine, Ferientermine, Zugriffsmöglichkeiten auf Internetseiten stellen dann aber in der Umsetzung oft überraschend hohe Hindernisse dar. Dieses kann, wenn nur geringe Zweifel der Verantwortlichen [4] bestehen, zu einem raschen Scheitern führen. Zudem ist der Verwaltungsaufwand bei kleinen Projekten unverhältnismäßig und damit ein Hindernis, das die geringe Umsetzung erklärt.

Wir können ein seit 2 Jahren erfolgreich umgesetztes Konzept zum interprofessionellen Lernen von Patienten, angehenden Medizinern und Physiotherapeuten vorstellen. Es erfüllt nicht nur die durch das Positionspapier des GMA-Ausschusses gestellten (Mindest-)Forderungen für Interprofessionalität, Kompetenz- und Problemorientierung, Organisations-, Lern und Lehrkultur, Evaluation und Qualitätssicherung [2], sondern ist primär longitudinal für die gesamte Ausbildung/das Studium in verschiedenen Qualifikationsstufen konzipiert und wirkt sich auf einen kompletten Lehrbereich (Bewegungsapparat) aus.

Die praktische Umsetzung und die nachfolgende Evaluation sind in dem hier vorgestellten Fall einfacher, als kleine Insellösungen, die nur ein Seminar betreffen. Interprofessionelle Lehre ist hier zur Selbstverständlichkeit geworden.

Erleichternd für die Planung und Umsetzung konnten wir auf den Wunsch der Fakultät für eine Umstrukturierung sowie eine Praxis und Kompetenzorientierung und ein begeistertes Team unterschiedlicher Professionen setzen.

Einzelne Sequenzen wie der Physiotherapie-Parcours waren bereits zu anderen Gelegenheiten (Rheumatologische Summer School) getestet worden. Hierdurch konnte das Risiko des Scheiterns verringert werden.

Der Erfolg eines derart umfassenden Projektes ist dennoch nicht sicher vorhersehbar und nur durch regelmäßige Re-Evaluation zu sichern. Dabei sind standardisierte und verpflichtende (anonyme) Evaluationen hilfreich, solange der Rücklauf gesichert ist. Die freiwillige gezielte Evaluation war in diesem Fall zwar durchgängig wohlwollen und positiv, ist bei einem Rücklauf der Lehrenden unter 10% aber nicht repräsentativ. Auf studentischer Ebene ist die Evaluation in weiten Teilen etabliert und kann als hilfreiche Unterstützung genutzt werden. Eine strukturierte Beteiligung der lernenden in der Physiotherapie an der Ausbildungsplanung und Weiterentwicklung ist hingegen noch nicht umgesetzt. Dieses ist für einen langfristigen Erfolg nötig.

Eine Bestätigung des Lehrkonzeptes durch Bestehensquoten zentraler Prüfungen ist der noch offene nächste Schritt des Projektes.

Bei der Planung einer interprofessionellen Lehre sollten die in der Arbeit von Hall und Zierler [4] gut erläuterten Schritte beachtet werden, ausreichend Zeit und motivierte Mitstreiter zur Verfügung stehen. Eine direkte Übertragbarkeit der so umfassenden interprofessionellen Lehre auf andere Professionen wie Pflege, Medizintechnik etc. erscheint dennoch nicht möglich, da sich hier zwar einzelne Aspekte wie Versorgung, Bildgebung, Labordiagnostik überschneiden, die Lerntiefe für die Diagnostik und Krankheitslehre deutlich flacher ist als in der Ausbildung der Mediziner.


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

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