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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Theorie in Praxis statt Theorie versus Praxis – Curriculares Design für ein Lernen an Behandlungsanlässen in einem kompetenzorientierten Curriculum

Artikel – Projektbericht Humanmedizin

  • corresponding author Thomas Rotthoff - Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Studiendekanat der Medizinischen Fakultät, Düsseldorf, Deutschland; Universitätsklinikum Düsseldorf, Klinik für Endokrinologie und DiabetologieDüsseldorf, Deutschland
  • Matthias Schneider - Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Studiendekanat der Medizinischen Fakultät, Düsseldorf, Deutschland; Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Dekanat der Medizinischen Fakultät, Düsseldorf, Deutschland; Universitätsklinikum Düsseldorf, Poliklinik und Funktionsbereich Rheumatologie, Düsseldorf, Deutschland
  • Stefanie Ritz-Timme - Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Studiendekanat der Medizinischen Fakultät, Düsseldorf, Deutschland; Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Dekanat der Medizinischen Fakultät, Düsseldorf, Deutschland; Universitätsklinikum Düsseldorf, Institut für Rechtsmedizin, Düsseldorf, Deutschland
  • Joachim Windolf - Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Dekanat der Medizinischen Fakultät, Düsseldorf, Deutschland; Universitätsklinikum Düsseldorf, Klinik für Unfall- und Handchirurgie, Düsseldorf, Deutschland

GMS Z Med Ausbild 2015;32(1):Doc4

doi: 10.3205/zma000946, urn:nbn:de:0183-zma0009462

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2015-32/zma000946.shtml

Eingereicht: 3. April 2014
Überarbeitet: 15. August 2014
Angenommen: 1. Dezember 2014
Veröffentlicht: 11. Februar 2015

© 2015 Rotthoff et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Medizinstudierende sollen bereits während ihres Studiums ärztliches Denken und Handeln intensiv trainieren und ihre klinische Expertise in theoretischer und praktischer Hinsicht entwickeln.

Methodik: Ausgehend von den Erkenntnissen der Lehr- und Lernforschung wurde ein Curriculum für die klinisch-praktische Ausbildung im Modellstudiengang Düsseldorf entwickelt, welches auf das arbeitsplatzbezogene Lehren, Lernen und Prüfen fokussiert.

Ergebnisse: Das Curriculum basiert für Studierende im 3, 4 und 5. Studienjahr wesentlich auf dem Lernen an Behandlungsanlässen von Patienten in multidisziplinären Bereichen der ambulanten und stationären Versorgung. Für dieses Lehrformat wurden 123 Behandlungsanlässe definiert und deren Verknüpfbarkeit mit Krankheitsbildern aus den verschiedenen Fachdisziplinen geprüft. Ausgehend vom Behandlungsanlass eines konkreten Falles, erarbeiten sich die Studierenden das zugrundeliegende Krankheitsbild sowie das differentialdiagnostische und therapeutische Vorgehen und vertiefen dabei das notwendige Wissen in den Grundlagenfächern. Zur Lernunterstützung wurden Studienbücher von den Kliniken erstellt. Das Lernen ist eingebunden in kompetenzorientiertes und arbeitsplatzbezogenes Lernen und Prüfen mit einer intensiven Kontaktzeit zwischen Studierenden und Ärzten.

Schlussfolgerung: Das Konzept ermöglicht die Integration von Theorie in die Praxis sowie die Integration von Wissen aus den Grundlagen-, klinisch-theoretischen und klinischen Fächern in das ärztliche Denken und Handeln.

Schlüsselwörter: Task based Learning, learning transfer, knowledge practice, assessment tool, workplace based assessment, undergraduate medical education


Einleitung

Was bedeutet Praxis im Medizinstudium?

Die häufig beklagte Praxisferne und theoretische „Überfrachtung“ des Medizinstudiums hat in den vergangenen Jahren zu einer stärkeren Gewichtung der praktischen Inhalte in den Curricula der Medizinstudiengänge in Deutschland geführt. Kritiker dieser Entwicklung warnen davor, die theoretischen Inhalte zu einem gefährlichen Leichtgewicht in der ärztlichen Ausbildung werden zu lassen. Diese Kritik an der Intensivierung der Praxisanteile im Medizinstudium ist vermutlich auch der uneinheitlichen Definition des Begriffs „Praxis“ geschuldet. In Bezug auf das Medizinstudium wird „Praxis“ häufig auf das Erlernen oder die Anwendung praktischer bzw. manueller oder kommunikativer Fähigkeiten reduziert. Der Begriff „Praxis“ beinhaltet im Deutschen jedoch auch Bedeutungen wie „Ausübung“ und „Erfahrung“ [1], weshalb beim Arztberuf unter „Praxis“ allgemein das ärztliche Handeln im ambulanten oder stationären Arbeitsalltag verstanden wird. In diesem Verständnis beinhaltet „Praxis“ somit neben Fertigkeiten wie der Anamneseerhebung und der körperlichen Untersuchung vor allem auch das differentialdiagnostische sowie therapeutische Denken und Handeln am konkreten Patientenfall. Hierfür ist fundiertes Wissen und wissenschaftlich geschultes Denken eine essentielle Voraussetzung. Die Ursache dieser unterschiedlichen Wahrnehmungen des Praxisbegriffs für das Medizinstudium und den ärztlichen Beruf liegt auch darin begründet, dass im ärztlichen Arbeitsalltag das theoretische Wissen mit steigender klinischer Erfahrung häufig nur implizit in den Arbeitsablauf integriert und erst bei komplexeren Fragestellungen, die über die tägliche Routine hinausgehen und einer tieferen Auseinandersetzung bedürfen, explizit wahrgenommen oder angewendet wird [2]. Bei komplexeren Fragestellungen kann insbesondere die Verknüpfung von Wissen in den Grundlagenfächern mit klinischem Wissen zu einer präziseren Diagnosestellung beitragen [3]. Diese Integration von Wissen in das tägliche ärztliche Handeln steht Medizinstudierenden noch nicht zur Verfügung, da ihnen das klinische Wissen und dessen Anwendung - die klinische Expertise – noch fehlt [4]. Klinische Expertise entsteht u.a. durch das Bearbeiten bzw. Abgleichen von zuvor bearbeiteten Patientenfällen [2]. Während des Studiums haben die Studierenden in der Regel nur wenige Möglichkeiten, ihre klinische Expertise über eine reflektierte und angeleitete Auseinandersetzung mit konkreten Patientenfällen strukturiert zu entwickeln. Sie greifen daher bei der Fallbearbeitung zunächst auf das Wissen der theoretischen (Grundlagen)-Fächer zurück [4]. Eine praxisnahe Ausbildung erfordert deshalb die Unterstützung der Studierenden in ihrer Expertise-Entwicklung durch die Integration von Wissen aus den Grundlagen-, klinisch-theoretischen und klinischen Fächern in das ärztliche Denken und Handeln bei konkreten Patientenfällen. Wie kann eine solche Ausbildung sinnvoll im Medizinstudium erfolgen? Reicht es aus, die Studierenden dafür häufiger in Kliniken oder Arztpraxen zu schicken, um auch einer zunehmenden Verlagerung der medizinischen Versorgung in den ambulanten Bereich besser Rechnung zu tragen, wie es beispielsweise von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vorgeschlagen wird [http://www.kbv.de/html/4473_333.php aufgerufen am 28.11.2013]?

Die ärztliche Approbationsordnung (ÄAppO) [http://www.gesetze-im-internet.de/_appro_2002/BJNR240500002.html aufgerufen am 28.11.2013] unterscheidet zwischen verschiedenen Formaten der praktischen Ausbildung: einer insgesamt viermonatigen Famulatur, 5 Blockpraktika von 1-6 wöchiger Dauer zur Differentialdiagnostik und –therapie der wichtigsten Krankheitsbilder unter Bedingungen des klinischen, ambulanten medizinischen Alltags sowie 476 h Unterricht am Krankenbett, wovon 50% als Untersuchung am Patienten im Verhältnis von einer Lehrperson zu max. 3 Studierenden und die anderen 50% als Patientendemonstration mit einer Lehrperson und 6 Studierenden durchgeführt werden muss. Für die Famulatur, abgeleitet von „Famulus = Gehilfe“, macht die ÄAppO keine Vorgaben über Format und Inhalt. Sie lässt damit viel Raum für die individuelle Ausgestaltung des Lernens. Ohne Zweifel bieten Famulaturen aus eigener Erfahrung und in der Wahrnehmung heutiger Studierender die Möglichkeit eines beachtlichen Lernzuwachses. Für den Studienerfolg sind jedoch auch Einflussgrößen entscheidend, die eine Strukturierung des Lernens erfordern, welche im Rahmen einer Famulatur nicht automatisch gegeben sind. Hierzu zählen besonders studierenden-zentriertes Lernen, Feedback, die Stimulation komplexer Denkvorgänge, Lernunterstützung, eine hohe Prüfungsfrequenz und auch Empathie und Wertschätzung [5], [6]. Auch wenn selbstgesteuertes Lernen als axiomatisches Ziel der Erwachsenenbildung angesehen wird, gibt es auch Bedenken, ob selbstgesteuertes Lernen immer gelingt und ein angeleitetes (gelenktes) selbstbestimmtes Lernen nicht erfolgreicher ist [7]. Dieses ist insofern von Belang, als sich das selbstgesteuerte Lernen im Laufe der akademischen Ausbildung entwickelt [8]. Für die klinisch-praktische Ausbildung in den Studienjahren 3, 4 und 5 im Düsseldorfer Modellstudiengang wurde ein Konzept entwickelt, mit dessen Umsetzung die Studierenden bereits während des Medizinstudiums verstärkt klinische Expertise entwickeln sollen.


Methodik/Projektbeschreibung

Entwicklung

Die Integration von Theorie und Praxis erfolgt unter Berücksichtigung von Erkenntnissen aus der Lehr-/ Lernforschung. Bei der Konzepterstellung wurden Einflussgrößen auf den Studienerfolg sowie weitere Erkenntnisse aus der Lehr-Lernforschung berücksichtigt. Folgende Punkte werden seit dem Wintersemester 2013/14 umgesetzt:

  • Fallbasiertes Lernen am Patienten ausgehend von einem Behandlungs- bzw. Konsultationsanlass in multidisziplinären Bereichen der ambulanten und stationären Versorgung [9], [10], [11]
  • Bereitstellung von lernunterstützendem Lehrmaterial (sog. Studienbücher) [12]
  • Regelmäßiges und strukturiertes Feedback [5]
  • Kompetenzorientiertes [13], [14] und arbeitsplatz-bezogenes Prüfen [15]
  • Förderung der Identitätsentwicklung der Studierenden zum Arzt / zur Ärztin [16]
  • Reflexion des eigenen Lernens und Lernzuwachses für ein tiefergehendes Lernen [17]
  • Steigerung des Kontaktes zwischen Studierenden und Ärztinnen bzw. Ärzten unter dem Aspekt eines Rollenvorbildes [18]

Für das fallbasierte Lernen wurden 123 Behandlungsanlässe definiert. Hierfür wurde zunächst durch die AG Curriculumreform unter Verwendung der Behandlungsanlässe der Universität Dundee (GB) [11], dem Gegenstandskatalog (GK2-2009) und dem Dutch Blueprint 2009 [19] eine Synopse erstellt. Studierendenvertreter waren von Beginn an als Mitglieder der AG Curriculumreform in die Entwicklung eingebunden. Unter Beteiligung der Lehrstuhlinhaber und Lehrbeauftragten von 44 Kliniken und Instituten des Universitätsklinikums Düsseldorf wurde die Zuordnung von wesentlichen Krankheiten / Themen zu den einzelnen Behandlungsanlässen geprüft und die Liste dahingehend überarbeitet. Die Behandlungsanlässe wurden anschließend vom Fakultätsrat verabschiedet. Die Liste der Behandlungsanlässe musste einerseits umfassend sein, um eine Verknüpfung mit allen für die medizinische Ausbildung relevanten Krankheitsbildern verschiedener Fachdisziplinen zu ermöglichen, andererseits in ihrem Umfang begrenzt sein, um eine praktische Nutzung in der Ausbildung im klinischen Alltag zu gewährleisten. Die Bearbeitung der Behandlungsanlässe ist weitgehend unabhängig vom medizinischen Versorgungsumfeld möglich. So kommen beispielsweise „Bauchschmerzen“ oder „Atemnot“ sowohl im ambulanten Bereich der Primärversorgung als auch in jeder anderen Versorgungstufe vor. Die diesen Behandlungsanlässen zugrunde liegenden Erkrankungen und Störungen und damit auch das diagnostische und therapeutische Vorgehen können sich jedoch in den verschiedenen Versorgungsstufen unterscheiden. Behandlungsanlässe, die überwiegend in der ambulanten bzw. primärmedizinischen Versorgung vorkommen, wie z.B. „Beratung von Gesunden und von Eltern gesunder Kinder“ oder „Früherkennung / -Vorsorgeuntersuchung / Screening“ oder „Impfung“, haben ebenfalls Berücksichtigung gefunden. Die Düsseldorfer Behandlungsanlässe wurden weitgehend in den vorliegenden Entwurf des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin (NKLM) übernommen (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]).

Curriculare Umsetzung

Im 3. Studienjahr durchlaufen die Studierenden jeweils einen und im 4. und 5. Studienjahr jeweils zwei vierwöchige Praxis- und Studienblöcke pro Semester. In den Praxisblöcken steht das Lernen an konkreten Patientenfällen im Vordergrund. Die Studienblöcke ergänzen das fallbezogene Lernen durch die Vermittlung von systematischem Wissen mittels Seminaren und Vorlesungen. Die letzte Woche eines jeden Studienblocks ist für das vertiefende Eigenstudium frei von Lehrveranstaltungen und wird mit einer fächerübergreifenden Prüfung abgeschlossen.

In den zehn, jeweils vierwöchigen Praxisblöcken werden die von der ÄAppO geforderten Blockpraktika durchgeführt. Hier findet die strukturierte klinisch-praktische Ausbildung statt und die Integration von Theorie und Praxis durch fallbasiertes Lernen am Patienten steht im Fokus (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Neben dem Unterricht am Krankenbett mit einem Arzt oder einer Ärztin, erarbeiten sich die Studierenden eigenständig relevante Lehrinhalte und Krankheitsbilder an konkreten Patientenfällen. Dabei gehen sie vom jeweiligen Behandlungs- bzw. Konsultationsanlass des Patienten aus und erarbeiten sich exemplarisch das differentialdiagnostische und therapeutische Vorgehen. Dieses Lehrformat fördert den Erwerb des klinischen Wissens sowie die Eigenverantwortung der Studierenden und geht zurück auf das sog. „Task-based Learning“ [11].

Die Studierenden sollen in den insgesamt 40 Praxisblockwochen mindestens 80% der 123 Behandlungsanlässe bearbeiten. Auch eine mehrmalige Bearbeitung desselben Behandlungsanlasses ist prinzipiell möglich, da einem Behandlungsanlass ganz unterschiedliche Erkrankungen aus verschiedenen Fachgebieten zugrunde liegen können und sich jeder Behandlungsanlass im individuellen Patientenfall in Zusammenschau mit weiteren Komorbiditäten sehr unterschiedlich darstellt.

Treffen die Studierenden auf einen Patienten, der einen in der Liste aufgeführten Behandlungsanlass bietet (z.B. Gedächtnisstörung, Atemnot, Zufallsbefund bei diagnostischen Verfahren, etc.), können sie sich, ausgehend vom Behandlungsanlass und bezogen auf den konkreten Fall, das zugrundeliegende Krankheitsbild sowie das differentialdiagnostische und therapeutische Vorgehen erarbeiten und dabei das notwendige Wissen in den Grundlagenfächern vertiefen. Zur Lernunterstützung und im Unterschied zur Famulatur ist das fallbasierte Lernen in den Praxisblöcken folgendermaßen strukturiert:

1.
Patientenkontakt: Die Zuteilung der Patienten erfolgt entsprechend ihrer Behandlungsanlässe über Ärztinnen und Ärzte der Kliniken und Institute, in welche die Studierenden jeweils für eine Woche eingeteilt sind. Die Studierenden kontaktieren „ihren“ Patienten, erheben eine Anamnese, führen eine körperliche Untersuchung durch und recherchieren anhand der Patientenakte. Anschließend erarbeiten sie sich das erforderliche Wissen mittels Lehrbüchern oder Internetportalen sowie mit Unterstützung durch Studienbücher (s.u.). In der Folgewoche des Praxisblocks rotieren die Studierenden in eine andere Klinik bzw. ein anderes Institut.
2.
Studienbücher: Zur Lernunterstützung wurden von den Kliniken und Instituten Studienbücher erstellt, deren Kapitel sich auf ausgewählte, für die Fachdisziplin relevante Behandlungsanlässe beziehen. Beim Behandlungsanlass „Atemnot“ beispielsweise gelangen die Studierenden über eine internetbasierte Lernplattform zu den Studienbüchern derjenigen Kliniken und Institute, die diesen Behandlungsanlass zur Vermittlung ihrer Lehrinhalte ausgewählt und ein Kapitel dazu erstellt haben. Diese Fachdisziplinen erläutern die Bedeutung des Behandlungsanlasses „Atemnot“ aus ihrer fachspezifischen Sicht. Alle folgen dabei einer inhaltlichen Gliederung: a) Lernziele zum Behandlungsanlass aus Sicht des Faches, b) Krankheitsbilder zum Behandlungsanlass, c) Besonderheiten beim klinischen Management, d) weiterführende Literaturempfehlung, e) Reflexionsfragen. Insbesondere die Informationen zu den Besonderheiten beim klinischen Management und die Reflexionsfragen gehen dabei über Lehrbuchinhalte hinaus.
3.
Falldokumentation und Fallvorstellung: Die Studierenden dokumentieren jede Fallbearbeitung (3-4 Fälle/Woche) anhand vorgegebener Fragestellungen (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]) und präsentieren den Fall anschließend im klinischen Arbeitsumfeld einer Ärztin oder einem Arzt. Die kurzgefasste Fallvorstellung wird von den Lehrenden anhand einer Checkliste bewertet und berücksichtigt die Präsentation des Falles, das kritische Hinterfragen von Befunden und diagnostischen Verfahren, die Ausarbeitung von Vor- und Nachteilen der angewandten Therapie sowie die Möglichkeiten zu Verbesserungen im bisherigen Patientenmanagement. Die Studierenden erhalten hierzu ein persönliches Feedback.
4.
Fallpräsentation im Falltutorium: Zusätzlich finden zweimal wöchentlich Falltutorien mit jeweils maximal 15 Studierenden statt, in denen die Studierenden ihre Fälle in ausführlicher Weise präsentieren und gemeinsam mit den Mitgliedern der Gruppe diskutieren und reflektieren. Die Studierenden einer Tutoriumgruppe sind wöchentlich in verschiedenen klinischen Rotationen im Einsatz. Als Tutoriumgruppe bleiben sie jedoch mindestens über ein Semester konstant zusammen. Dieses Konzept wurde aus gruppendynamischen Erwägungen gewählt, um der Gruppe in einer vertrauten Zusammensetzung eine kontinuierliche Weiterentwicklung zu ermöglichen. Eine Gruppenbildung mit Studierenden aus jeweils derselben Rotation hätte z.T. wöchentlich wechselnde Mitglieder einer Tutoriumgruppe zur Folge. Die Gruppenkonstanz wurde im Einvernehmen mit Studierendenvertretern hierfür als wichtiger eingestuft. Über den Verlauf der zehn Praxisblöcke erleben die Studierenden insgesamt 160 Fallbesprechungen und lernen die Behandlungsanlässe aus der Perspektive unterschiedlicher Fachdisziplinen kennen. Die präsentierenden Studierenden übernehmen in der Gruppe die „Expertenrolle“, d.h. sie antworten auf fachliche Nachfragen und moderieren die Diskussion, was eine gute Vorbereitung und Auseinandersetzung mit dem Lernstoff erfordert bzw. fördert. Jedes Tutorium wird von einem ärztlichen Tutor oder einer Tutorin unterstützend begleitet, welche(r) die Gruppe möglichst über den gesamten vierwöchigen Zeitraum eines Praxisblocks begleiten soll. Die Fallpräsentationen sind Prüfungsleistungen und werden von den ärztlichen TutorInnen bezüglich Struktur und Inhalt der Präsentation, Moderation der Gruppendiskussion sowie der erfolgten Reflexion zum Lernzuwachs und zum Patientenmanagement bewertet.
5.
Klinisch-praktische Prüfungen (Mini-Clinical Evaluation Exercise, Mini-CEX): Jede(r) Studierende wird mindestens einmal pro Praxisblock klinisch-praktisch, überwiegend am Patienten geprüft. Die möglichen Prüfungsthemen werden den Studierenden zu Beginn einer jeden Praxisblockwoche mitgeteilt. Die Prüfungsinhalte werden in der Regel im Unterricht am Krankenbett der prüfenden Klinik vermittelt und der Erwartungshorizont für die Prüfung sowie die Prüfungskriterien sind für die Studierenden transparent einsehbar und können teilweise im Trainingszentrum für ärztliche Fertigkeiten vorab geübt werden. Aktuell stehen ca. 80 Prüfungssituationen zur Verfügung, die von den Kliniken und Instituten entwickelt wurden. Das Themenspektrum der Prüfungen beinhaltet verschiedene ärztliche Kompetenzbereiche wie beispielsweise körperliche Untersuchungstechniken, Durchführung von postoperativen Verbandwechseln, Pricktestung, Bedside Tests vor Bluttransfusionen oder auch den Umgang mit Suizidalität im Patientengespräch. Die Prüfungen finden überwiegend am Patienten statt, werden bei manuellen Fertigkeiten, wie z.B. „Durchführung einer Kniepunktion“ (Orthopädie), auch am Modell oder bei komplexeren kommunikativen Situationen, wie z.B. „Prävention einer posttraumatischen Belastungsstörung“ (Psychosomatik und Psychotherapie), mit Schauspielpatienten durchgeführt. Der zeitliche Umfang der Prüfung beträgt inklusive eines mündlichen Feedbacks ca. 20-30 Minuten.

Alle unter 3.) bis 5.) genannten, erfolgreich abgelegten Prüfungen werden von den Studierenden in einem Portfolio bis zum schriftlichen zweiten Staatsexamen (M2) gesammelt und ergeben den fakultätsinternen Leistungsnachweis „Ärztliche Kompetenzen“ (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]).


Diskussion

Die im Düsseldorfer Modellstudiengang umgesetzte Integration von Theorie in die Praxis soll den Studierenden bereits während des Medizinstudiums die Entwicklung von klinischer Expertise und weiteren ärztlichen Kompetenzen ermöglichen. Neben dem Wissenserwerb sollen insbesondere die diagnostische und therapeutische Entscheidungsfindung, praktische und kommunikative Fähigkeiten, Präsentations- und Moderationskompetenz trainiert sowie sozial-ethische Probleme diskutiert und reflektiertes Denken gefördert werden. Durch eine kritische Auseinandersetzung mit dem ärztlichen Handeln an konkreten Patientenfällen unter Einbeziehung der evidenzbasierten Medizin soll das wissenschaftliche Denken der Studierenden gefördert werden. Unsere ersten Erfahrungen mit der Umsetzung des Konzeptes zeigen, dass die bisherige Sozialisierung der Studierenden überwiegend dualistisch im Sinne eines „entweder richtig oder falsch“ geprägt zu sein scheint. Der Umgang mit der eigenen Unwissenheit, aber auch der Unwissenheit und Unsicherheiten in der modernen Medizin, ist für die Studierenden zunächst ungewohnt, führt zu Verunsicherung und bei einigen Studierenden auch zu Abwehrverhalten gegenüber dem neuen Konzept. Ähnliche Effekte sind auch bei einigen ärztlichen Tutorinnen und Tutoren zu beobachten, deren Lehrtätigkeit sich nun nicht mehr alleine aus ihrer Expertenfunktion ableitet.

Auch das Verlassen einer klassischen Fächerabfolge, verbunden mit einer fächerübergreifenden Denk- und Lernweise, führt(e) bei einigen Studierenden zu Unsicherheiten und Abwehrreaktionen. Bei einzelnen Fachvertretern stand und steht noch die Sorge vor der fehlenden Sichtbarkeit des eigenen Faches in einem integrierten Curriculum im Vordergrund. Es zeichnet sich jedoch bereits jetzt ab, dass gute Lehre in den Praxisblöcken von den Studierenden sehr klinik- bzw. institutsspezifisch wahrgenommen und rückgemeldet wird. Entsprechende Kliniken bzw. Institute registrieren über die engere Einbindung der Studierenden in den klinischen Alltag, verbunden mit einer guten klinisch-praktischen Ausbildung, bereits zunehmende Bewerbungsquoten für Doktorarbeiten, Famulaturen, PJ-Plätzen und Assistenzarztstellen. Das neue curriculare Konzept erfordert ein kontinuierliche Weiterentwicklung der Lehr-/Lernkultur am Standort in Richtung einer lebendigeren und auch konstruktiv kritischeren Interaktion zwischen Lehrenden und Studierenden, wie sie im Feedback gelebt wird. Diese Veränderungen stellen u.E. die größte Herausforderung an die künftige Umsetzung und weitere gelingende Implementierung des Konzeptes dar und erfordern in der Fakultät eine intensive Kommunikation innerhalb und zwischen den beteiligten Interessengruppen. Neben den bereits zahlreich erfolgten und weiter fortgesetzten Dozentenschulungen für die o.g. Lehr- und Prüfungsformate werden spezifische Coachings durch Masters of Medical Education (MME) in einzelnen Kliniken bzw. Instituten vor Ort durchgeführt, Demovideos für die verschiedenen Lehr- und Prüfungsformate stehen bereits zur Verfügung und werden sukzessive weiter in Zusammenarbeit mit Studierendenvertretern erstellt.

Wir erwarten durch den intensiven Patientenkontakt, die eigenständigen Fallbearbeitungen und die Falldiskussionen auch eine verbesserte Identitätsentwicklung der Studierenden zu Ärztinnen und Ärzten. Der intensivere Kontakt mit ärztlichen Kolleginnen und Kollegen im klinischen Arbeitsumfeld ermöglicht den Studierenden außerdem die wichtige Orientierung an Rollenvorbildern [18]. Studierende berichten über abnehmende Hemmungen und Ängste im Kontakt mit Patientinnen und Patienten.

Die dargestellte Strukturierung des Lernens im klinischen Umfeld mit komplexen Anforderungen an verschiedene ärztliche Kompetenzen erfordert sowohl eine wissenschaftliche Evaluation mit quantitativen Methoden z.B. für longitudinale Analysen der neuen Prüfungsleistungen als auch qualitative Methoden wie Fokusgruppen und Interviews u.a. zur Untersuchung des Lernverhaltens beim Task-based Learning. Das Curriculum erfordert die Bereitstellung von Ressourcen. Bei einer Aufnahme von 12 Studierenden in eine Klinik leistet diese Klinik je Woche im Praxisblock 36 Stunden Unterricht am Krankenbett und weitere 4 Stunden Tutorium. Seminare und Vorlesungen in den Studienblöcken sind hier noch unberücksichtigt. Mit dieser Investition ermöglicht eine universitäre medizinische Ausbildung die Integration von Theorie in die Praxis sowie die Integration von Wissen aus den Grundlagen-, klinisch-theoretischen und klinischen Fächern in das ärztliche Denken und Handeln.


Danksagung

Wir danken dem Team Curriculumentwicklung: Ellen Bauchrowitz; Dr. Hans-Martin Bosse MME; Eva Bramann, Aurèle Comparot; Prof. Dr. Walter Däubener; Prof. Dr. Ulrich Decking (stellv. Studiendekan); Babette Dufrenne, M.A; Dr. Urte Fahron; Dr. Lars Galonska; PD Dr. Matthias Hofer, MME; Prof. Dr. Alfons Hugger, MME (stellv. Studiendekan Zahnmedizin), Pascal Kalbhen; Dr. André Karger; Julia Karthein; Dr. Alexandra Kravchenko, Prof. Dr. Klaus-Dietrich Kröncke, MME; Malte Kohns; Christian Michalek, M.A; Dr. Anja Nilges, Univ.-Prof. Dr. Harald Rieder; Caroline Rump, Dr. Anja Vervoorts; Dr. Simone Weyers, MME.

Unser Dank gilt auch Frau Doris Nord für die sprachliche Überarbeitung der englischen Version und Herrn Benjamin Brinkmann für die Bearbeitung der Abbildungen.


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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