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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Integration geschlechtersensibler Aspekte in die medizinische Lehre - Status Quo und Zukunftsperspektiven

Kommentar Humanmedizin

  • corresponding author Bettina Pfleiderer - Universitätsklinikum Münster, Institut für Klinische Radiologie, Münster, Deutschland
  • Désirée Burghaus - Universitätsklinikum Münster, Institut für Klinische Radiologie, Münster, Deutschland
  • Gudrun Bayer - Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Medizinische Fakultät, Arbeitsbereich Allgemeinmedizin, Münster, Deutschland
  • Andrea Kindler-Röhrborn - Universitätsklinikum Duisburg-Essen, Institut für Pathologie und Neuropathologie, Essen, Deutschland
  • Matthias Heue - Universität Duisburg-Essen, Medizinische Fakultät, Essen, Deutschland
  • Jan Carl Becker - Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Ausbildung und Studienangelegenheiten (IfAS), Münster, Deutschland

GMS Z Med Ausbild 2012;29(5):Doc65

doi: 10.3205/zma000835, urn:nbn:de:0183-zma0008359

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2012-29/zma000835.shtml

Eingereicht: 6. Juli 2012
Überarbeitet: 6. September 2012
Angenommen: 11. September 2012
Veröffentlicht: 15. November 2012

© 2012 Pfleiderer et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Die Berücksichtigung von Geschlechteraspekten im klinischen Alltag ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu passgenauer Medizin und der Beginn einer diversity medicine.

Kenntnisse über geschlechtersensible Aspekte in der Medizin sind eine essentielle Grundlage für eine optimale PatientInnenversorgung. Diese Kompetenz ist sowohl unter Studierenden als auch Lehrenden unzureichend vorhanden - wie eine aktuelle Studie der Universitäten Münster und Duisburg-Essen belegt.

Am 30./31. Mai 2012 fand in Münster ein internationaler, multidisziplinärer Workshop zu der Frage statt, wie zukünftig Geschlechteraspekte in das Medizinstudium integriert werden können – mit dem Ziel, mittelfristig zu einer Verbesserung der medizinischen Versorgung beider Geschlechter beizutragen. Die Ergebnisse waren Anlass zur Verfassung dieses Positionspapiers.

Es wird vorgeschlagen, geschlechterspezifische Inhalte - unter Verwendung einheitlicher Begriffsdefinitionen und einer geschlechterneutralen Sprache - schon ab dem ersten Semester flächendeckend zu unterrichten. Eine Steigerung der ohnehin schon hohen Stoffmenge ist zu vermeiden. Daher soll die Integration dieser Inhalte exemplarisch und idealerweise longitudinal über das Studium verteilt geschehen.

Die Lehrinhalte sollen dabei von den FachvertreterInnen festgelegt werden und prüfungsrelevant sein. Diese sollten dabei größtmögliche Unterstützung durch die Fakultät haben.

Schlüsselwörter: Gender, Geschlecht, Medizinstudium, Curriculumsentwicklung, geschlechtsspezifisch


Präambel

Medizinisch relevante Geschlechterunterschiede werden in der medizinischen Aus-, Weiter- und Fortbildung bisher nur unzureichend berücksichtigt. Eine stetig zunehmende Zahl von Studien belegt jedoch, dass viele Erkrankungen bei Frauen und Männern mit einer unterschiedlichen Prävalenz und Inzidenz entstehen und/oder unterschiedliche Symptome, Komorbiditäten, Krankheitsverläufe und Outcomes zeigen. Dementsprechend könnten geschlechterspezifische Medizinangebote zu Prävention, Diagnose und Therapie die Gesundheit beider Geschlechter in hohem Maße verbessern. Eine der Empfehlungen des diesjährigen 115. Deutschen Ärztetages besagt, dass geschlechts- und lebensphasenabhängige Unterschiede in Diagnostik und Therapie zu berücksichtigen sind (DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, JG. 109, HEFT 22-23, C 1013, 4. JUNI 2012).

Jedoch ist dieses Wissen vielerorts scheinbar nicht in ausreichendem Maß vorhanden (Ergebnisse der Onlinebefragung des Forschungsprojektes: „Geschlechtsspezifische Lehrmodule in der Medizin; http://www.gendermedlearning.de). Daher ist neben der berufsbegleitenden ärztlichen Fortbildung die curriculare Verankerung von Geschlechteraspekten im Medizinstudium - sowie in der Ausbildung aller anderen Gesundheitsberufe - der nachhaltigste und somit entscheidende Schritt, um die oben aufgeführten Ziele zu erreichen. Die daraus resultierende verbesserte Ausbildung der zukünftigen ÄrztInnen-Generationen betrachten wir als ein wichtiges Qualitätsmerkmal in der Medizin.

Am 30./ 31. Mai 2012 fand in Münster ein internationaler und multidisziplinärer Workshop zu diesem Thema statt, dessen Ziel es war, Strategien zu entwickeln, wie zukünftig flächendeckend Geschlechtsaspekte in das Medizinstudium integriert werden können. Die Ergebnisse waren Anlass zur Verfassung dieses Positionspapiers und werden im Folgenden dargelegt.


Kriterien zur erfolgreichen Implementierung

Einheitliche Begriffsdefinition und geschlechterneutrale Sprache

Um eine einheitliche Gesprächsgrundlage zu schaffen und Missverständnissen vorzubeugen, bedarf es einer klaren Terminologie. Gegenwärtig werden in der Literatur die Begriffe Sex, Gender und Geschlecht nicht eindeutig getrennt und teils willkürlich eingesetzt. Für Verwirrung sorgt vor allem, dass der Begriff Gender als Oberbegriff für das biologische und das soziale Geschlecht verwendet wird wie z.B. bei „Gendermedizin“. Da der Begriff „Gendermedizin“ national und international einheitlich seit langem verwendet wird, erscheint es uns nicht sinnvoll diesen zu ändern und Gender durch ein anderes Wort zu ersetzen. In der Literatur und in der Lehre sollte jedoch genau definiert werden was gemeint ist und wir schlagen daher folgende Begriffsdefinitionen im Deutschen vor: Gender bezeichnet das sogenannte „soziale Geschlecht“, d.h. alle mit der Geschlechterrolle assoziierten Aspekte, Sex bezeichnet dagegen das biologische Geschlecht, wird aber wegen seiner Konnotationen wenig Verwendung finden. Der Begriff Geschlecht beinhaltet als Oberbegriff beide Aspekte. Wo immer möglich sollten die Begriffe Männer und Frauen vorgezogen werden.

Es ist wichtig bei der Curriculumsentwicklung und bei der Sichtung der Lehrmaterialien auf mögliche Stereotypisierungen zu achten bzw. diese zu vermeiden.

Geschlechterspezifische Inhalte als integrativer Bestandteil des medizinischen Curriculums ab dem ersten Semester

Bereits von Anbeginn des Studiums sollten die Studierenden für geschlechtsspezifische Unterschiede sensibilisiert werden. Zu einem frühen Zeitpunkt sollten Begriffe definiert, allgemeine biologische Grundprinzipien abgehandelt und somit Grundlagen für das Verständnis von fachspezifischen Aspekten gelegt werden, die den weiteren Studienverlauf durchziehen.

Forderung eines longitudinalen Designs

Fachspezifisches Wissen zu Geschlechteraspekten – gerade auch in den Grundlagenfächern – sollte im weiteren Verlauf des Studiums einen festen Platz in jedem Fach / Modul bekommen. Die Inhalte sollen longitudinal in die jeweiligen Gesamt-Curricula implementiert werden, was wiederum den Vorteil hat, dass der Themenkomplex Gendermedizin den Studierenden kontinuierlich präsent ist und mittelfristig zu einer „selbstverständlichen“ Dimension eines jeden Faches / Moduls wird.

Auswahl und Integration der geschlechtersensiblen Inhalte durch die FachvertreterInnen

Auch wenn es an den jeweiligen Standorten ausgewiesene ExpertInnen für Gendermedizin gibt bzw. geben sollte (s.u.), besteht Konsens darüber, dass die fachspezifischen geschlechtersensiblen Lehrinhalte durch den Fachvertreter / die Fachvertreterin festgelegt werden sollten. Dabei sollte insbesondere darauf geachtet werden, dass die Lehre ständig klinisch relevant und evidenz-basiert ist. Personen mit besonderer Expertise in der Gendermedizin käme eher die Aufgabe zu, die FachvertreterInnen bei Bedarf bei der Erarbeitung geschlechtersensibler Inhalte organisatorisch und inhaltlich zu unterstützen.

Belastungsneutrale Integration geschlechtersensibler Inhalte

Derzeit überschreitet die inhaltliche und zeitliche Belastung der Studierenden oft deutlich das didaktisch sinnvolle Maß – bedingt durch einen stetigen Wissenszuwachs in der Medizin aber auch durch gesetzliche Vorgaben wie zum Beispiel die Verankerung von bald 41 zu benotenden Pflicht-Leistungsnachweisen in der Approbationsordnung. Vor diesem Hintergrund muss in jedem Fall vermieden werden, die Arbeitsbelastung der Studierenden durch die Integration von Geschlechtsaspekten weiter zu erhöhen. Vielmehr ist es Ziel, diese Inhalte zeitneutral bzw. kapazitätssparend einzubringen.

Prüfungsrelevante Lehrinhalte

Um der Bedeutung von geschlechtersensiblen Lehrinhalten Nachdruck zu verleihen, ist es unabdingbar, dass diese in universitären und zukünftig auch staatlichen Prüfungen berücksichtigt werden. Ohne Prüfungsrelevanz werden die Inhalte weder gelernt noch ernst genommen - dieser Aspekt ist ein weiterer Schritt zur Normalität und Selbstverständlichkeit von Geschlechtsaspekten in der Medizin.

Festschreibung geschlechterspezifischer Aspekte im NKLM (Nationaler kompetenzbasierter Lernzielkatalog Medizin)

Es bedarf der Integration der Inhalte in den kompetenzbasierten Lernzielkatalog, um darüber hinaus von politischer Seite die Relevanz geschlechterspezifischen Wissens in der Lehre zu stützen.


Konkrete Empfehlungen zur Umsetzung

  • Die Fakultät muss sich grundsätzlich zu diesem Thema bekennen und sollte entsprechende Aktivitäten honorieren.
  • Jeder Standort benötigt eine medizinische Führungsperson mit wissenschaftlicher Expertise im gendermedizinischen Bereich. Beispielsweise könnte eine Person der ProfessorInnenschaft mit diesbezüglichen Koordinationsaufgaben beauftragt werden. Um Missverständnissen vorzubeugen, sollte diese Person möglichst nicht dem Bereich der Gleichstellung/Frauenförderung der Fakultät angehören. Geschlechteraspekte in der Medizin sind kein frauenspezifisches Thema, sondern betreffen Männer und Frauen. Einer entsprechenden Führungsperson kommt die Aufgabe zu, Lehrinhalte in den einzelnen medizinischen Fächern zu koordinieren (siehe Punkt 4).
  • Um das Thema konsequent nach vorne zu bringen, sollen die FachvertreterInnen zunächst gebeten werden, die schon in ihren Lehrinhalten integrierten Geschlechtsaspekte hervorzuheben. Auf diese Weise umgeht man den Eindruck, die Lehrenden zur Implementierung zwingen zu wollen.
  • Die Lehrbelastung der Studierenden wird nicht zusätzlich erhöht, wenn die Integration von geschlechtsspezifischen Lehrinhalten zunächst durch exemplarische Schwerpunkte (z.B. zwei bis drei „Highlights“ pro Fach / Modul) erreicht wird. Darauf aufbauend sollten durch Verlagerung von Schwerpunkten, eine weitgehende Vermeidung unnötiger Wiederholungen und eine stringente inhaltliche Abstimmung der Fächer untereinander versucht werden, entsprechende Freiräume in den jeweiligen Fächern / Modulen zu schaffen.
  • Zur bestmöglichen und vergleichbaren Umsetzung sind folgende Innovationen von Vorteil:
    • Train the teacher-Programme
    • Materialsammlung online (eventuell bundesweit)
    • Institutionelle Unterstützung (z.B. eine Koordinationsstelle)
    • Profitable Netzwerke aller Akteure knüpfen (z.B. Koordinationsstelle, die auch Diplomarbeiten und Dissertationen betreut sowie bei Genderprojekteinwerbungen hilft)
    • Regelmäßige Konferenzen der Fachvertreter zum Thema geschlechtersensibler Medizin

Ausblick

Die Implementierung von Geschlechteraspekten in Diagnose, Therapie, Prävention und Rehabilitation ist ein wichtiger Bestandteil und der Beginn einer diversity medicine. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema ist essentiell auf dem Weg zu passgenauer Medizin, die eine optimale medizinische Versorgung für jedermann anvisiert.


Danksagung

Folgenden TeilnehmerInnen des Workshops danken wir für die kritische Durchsicht des Positionspapiers und anregenden Diskussionen:

  • Dr. Anja Böckers (Universität Ulm, Medizinische Fakultät, Institut für Anatomie und Zellbiologie, Ulm, Deutschland)
  • Prof. Dr. Margarethe Hochleitner (Medizinische Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich)
  • Sabine Ludwig (Charité Universitätsmedizin Berlin, Arbeitsbereich Projektsteuerung Modellstudiengang Medizin, Berlin, Deutschland)
  • Dr. Anja Vervoorts (Heinrich Heine Universität Düsseldorf, Medizinische Fakultät, Düsseldorf, Deutschland)

Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.