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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Hans-Christian Deter (Hrsg): Die Arzt-Patient-Beziehung in der modernen Medizin

Buchbesprechung Humanmedizin

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GMS Z Med Ausbild 2011;28(3):Doc35

doi: 10.3205/zma000747, urn:nbn:de:0183-zma0007472

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2011-28/zma000747.shtml

Eingereicht: 1. Februar 2011
Überarbeitet: 28. Februar 2011
Angenommen: 28. Februar 2011
Veröffentlicht: 8. August 2011

© 2011 Rimpau.
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Bibliographische Angaben

Hans-Christian Deter

Die Arzt-Patient-Beziehung in der modernen Medizin

Verlag Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen

Erscheinungsjahr: 2010; € 19,95, 344 Seiten


Rezension

Der Herausgeber hat sich und uns anlässlich seiner Emeritierung als Ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemeinmedizin, Naturheilkunde, Psychosomatik und Psychotherapie an der Charité – Campus Benjamin Franklin in Berlin ein besonderes Geschenk gemacht. Ausgehend von einem Symposium zum 30-jährigen Bestehens der Psychosomatik am Benjamin Franklin Klinikum 2009 versammelt Deter hier 40 Autoren, die gemäß dem Vorwort des Präsidenten der Ärztekammer Berlin Günther Jonitz die Frage beantworten, welchen Stellenwert die Interaktion zwischen Arzt und Patient hat. „Das mächtigste therapeutische Werkzeug, das Sie jemals haben werden, ist Ihre eigene Persönlichkeit“. Dieser Satz David Sackets, des Stammvaters der evidenzbasierten Medizin, gliedert Jonitz in vier Themenfelder, die es zu bearbeiten gelte: die „Narrative Medizin“, in der der Arzt lernt die Geschichte des Kranken zu verstehen, die „Medizinische Geisteswissenschaft“, die mit Hilfe fachübergreifender Gesichtspunkte aus Kunst, Literatur, Geschichte, Religion (nicht doch auch Philosophie?) dem Mediziner helfen, besser auf den Patienten einzugehen, die „Health Literacy“ als Methode, wissenschaftliche Aussagen besser auswerten zu können und das Modell des „Shared Decision Making“, in dem medizinische Entscheidungsfindung auf partnerschaftlicher Arzt-Patient-Beziehung beruht. Diese Themen und auch der Buchtitel verweisen auf die „moderne Medizin“. Es mag dem Zeitgeist entsprechen, auf eine Literatur zu verweisen, die nicht älter als 10 Jahre ist und damit zu unterstellen, dass frühere Forschungsergebnisse und Literatur einer vorwissenschaftlichen Zeit entspringen. Dass dem nicht so ist, zeigen Deters Einleitung mit Verweis auf Michael Balint und die vier Beiträge, die „die Arzt-Patient-Beziehung in der Kontinuität und Wandel“ darstellen. Der kurze Aufsatz von D. Janz ist hier besonders eindrücklich, wenn er „das pathische Pentagramm von Viktor von Weizsäcker als Grundlage eines Verständnisses der Arzt-Patienten-Beziehung“ in Erinnerung ruft, welches eine Haltung ausdrückt, die Bedingung für Compliance, besser noch Adherence und damit für „Shared Decision Making“ ist. „Die partizipative Entscheidungsfindung“ wird von einer Heidelberger Gruppe als „neue Form der Arzt-Patient-Beziehung“ angekündigt. Ist sie neu? Es ist eindrucksvoll mit zu vollziehen, dass sich nun ein „Forschungsfeld der Arzt-Patient-Interaktion“ auftut.

2001 haben die Protagonisten einer Reform der Medizin und der Ausbildung zum Arzt die wichtigsten Folgerungen aus der Erfahrung des 20. für das 21. Jahrhundert in dieser Zeitschrift formulierten. (H.G. Pauli, K.L. White, I.R. McWhinney [1]). Es ist reizvoll, „Medizinische Ausbildung, Forschung und wissenschaftliches Denken im 21. Jahrhundert“ in Beziehung zu setzen zu den in Deters Buch versammelten Hypothesen und Schlussfolgerungen, die nun VertreterInnen der Psychosomatik, Psychotherapie, Inneren Medizin, Orthopädie, Arbeitsmedizin, Neurologie, Psychiatrie, Allgemeinmedizin, Psychologie, Sozialmedizin, Medizingeschichte, Studiendekanate, aber auch Ernährungsberatung, Physiotherapie, Gestaltungstherapie und eine Patientin erlebt, beforscht, erfahren, reflektiert und erkannt haben. Die Einseitigkeit naturwissenschaftlich orientierter Medizin fand (und findet) ihre Begründung im linearen Ursache-Wirkungs-Modell seit Descartes und Newton und formuliert sich bis heute als monokausales und reduktionistisches biomedizinisches Paradigma – ein „Glaubenssystem“ [2]. Thomas S. Kuhns weltweit anerkannte Analyse besagt, dass die Wissenschaft zu jeder Zeit irgendwelchen Paradigmata unterworfen ist, die sich üblicherweise verändern. Die Medizin hat das wegen der außerordentlichen Erfolge dieses etablierten Paradigmas nicht erreicht. Neben die „harten“ werden „weiche“ Wissenschaften gestellt und marginalisiert. Krankheit bleibt „versachlicht“. Eine höchst produktive biomechanische Entwicklung hat alle Aspekte der medizinischen Forschung, Ausbildung und Versorgung dominiert. Die Auflehnung gegen den etablierten Reduktionismus geschieht heute durch „Philosophierung“, wenn „alternative Medizin“ die „Schulmedizin“ erweitern will. Oder Philosophierung dadurch, wenn Hochleistungsmedizin und Menschlichkeit ohne Widerspruch zu verwirklichen sei und Menschlichkeit hier eine humanistische Haltung ausdrückt, die fordert „mit dem Patienten freundlicher zu sein“. Fast unberücksichtigt bleibt die Jahrzehnte alte Erkenntnis der Untrennbarkeit von Beobachter und Beobachtetem, womit das Subjekt komplexere „Objekte“ bedeutend verändert bzw. eine gemeinsame Wirklichkeit zwischen Ärzten und Patienten erfahrbar wird. Der „Funktionskreis“ und die „Bedeutungslehre“ Jacob von Uexkülls, der „Gestaltkreis“ Viktor von Weizsäckers, der „Situationskreis“ Thure von Uexkülls sind in ihrer Summe als „somatopsychosoziokulturelles Modell“ eine notwendige Erweiterung der bisherigen „Grundlagenwissenschaften“. Epidemiologie, Psychologie, Soziologie und narrativ basierte Medizin werden zu Säulen der Medizin – oder sie ist keine. Für die Aus- und Weiterbildung bedeutet dies, nicht nur die Frage des „Wie“ – der Didaktik – sondern auch des „Wo“ und „Was“ ist zu stellen. Wenn bislang hoch spezialisierte akademische Eliten als curriculare Entscheidungsträger allein aus ihrem Elfenbeinturm heraus zu entscheiden haben, was der Lehrgegenstand zu sein habe, dann ist keine Reform denkbar. 1961 hat K.L. White die Versorgungsstruktur beschrieben, 2001 wurden seine Ergebnisse aktualisiert [3]: von 750 Kranken gehen 250 zum Arzt, neun werden in ein Krankenhaus eingeliefert, nur einer wird in einer Universitätsklinik behandelt – und dieser ist dann repräsentativ für das, was der Student und Facharztkandidat zu lernen hat. Wo ist da noch Platz für die bahnbrechenden Ergebnisse des Public Health, der Salutogenese – Forschung seit Aaron Antonowsky, den Formulierungen einer Sozialen und Allgemeinen Medizin seit Viktor von Weizsäcker – kurz „biosemiotisches Denken“? Für Pauli et al. wird die Aufhebung der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften zum Credo für das 21. Jahrhundert. In der Summe thematisieren alle in sieben Kapiteln vorgestellten Studien in Deters Buch Fragestellungen, die Pauli et al. für unabdingbar halten. So ist es wahrlich eine Bereicherung im Sinne einer überfälligen Neubesinnung, vor allem aber eine praktische, auf den Alltag des Arztes abgestimmte Bilanz und Orientierung.

Eine Freiburger Arbeitsgruppe erklärt die Arzt-Patient-Beziehung nicht mehr „metaphysisch“, weil im System der Spiegelneurone ein neurobiologisches Korrelat gefunden ist. „Das Narrativ bei der Verarbeitung schwerer emotionaler Belastungen“ thematisiert die narrativ-basierten Medizin, die seit 20 Jahren auch bei somatischen Krankheiten zu einer Vielzahl von Untersuchungen geführt hat [4]. Im ärztlichen Alltag werden zu 60-70 % Placebo angewendet. „Der Arzt als Placebo“ ist hier allein auf das „hidden treatment-Paradigma“ reduziert und es wird auf die Bedeutung der Suggestion, therapeutischer Rituale, Bindung und emotionaler Fähigkeiten des Arztes eingegangen, nicht aber auf das „Nocebo“. Während seitens des Kranken Erwartungen und Vorerfahrungen einer gewünschten Wirkung ausschlagegebend für eine günstige Wirkung sind, könnte auch das Verhalten und die Erwartung des Placebo-Gebers, des Arztes, eingegangen werden. Wenn heutzutage Studien vorgestellt werden, in denen eine Verum-Gruppe mit einer Placebo-Gruppe verglichen wird, ist es dann noch zulässig, den Hawthorne-Effekt nicht zu berücksichtigen? K.L. White würde den Kopf schütteln. Ergebnisse einer Expertenkonferenz „Der `gute Arzt´ aus interdisziplinärer Sicht“ zeigen u.a., dass neben der Zunahme der medizinischen Fachkompetenz bei Medizinstudierenden die kommunikative und psychosoziale Kompetenz eher abnimmt. Über Jahre hat der Murrhardter Kreis seine Empfehlungen zum Arztbild der Zukunft entwickelt [5]. Im Mittelpunkt standen ärztliche Kompetenzen. Muß die Bilanz der Expertenkonferenz als Beleg dafür angesehen werden, dass die Murrhardter Empfehlungen von 1995 sich nicht haben umsetzen lassen? Sicher, die Reformstudiengänge haben begonnen, die Universitätsmedizin daran zu erinnern, dass es neben Drittmitteleinwerbung und Forschung unter dem Label der „Exzellenzinitiativen“ auch studentische Belange gibt. Der schöne Beitrag aus Basel „Kann man gute ärztliche Gesprächsführung erlernen?“ wie auch „Die Arzt-Patient-Beziehung in der studentischen Lehre der Charité-Universitätsmedizin“ bestätigen das – hoffentlich auch als gutes Zeichen in der Krise des Reformstudiengangs in Berlin. Eine fundierte schwedische Studie beschreibt psychosoziale Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Verhaltenskonsequenzen und pathogenetische Mechanismen. Als Beispiel für Ergebnisse der Public Health - Forschung wird belegt, dass eine höhere Morbidität und Mortalität mit niederem sozialen Status korreliert. Spätestens jetzt ein Argument, besser von Arzt-Patienten-Beziehung zu sprechen und nicht allein die individuelle Situation eines Arztes mit einem Patienten ins Auge zu fassen, wenn man von Arzt-Patient-Beziehung spricht. Eine Studie aus Berlin an chronisch Schmerzkranken bestätigt die alte klinische Beobachtung, dass Schmerz und Bildgebung keineswegs korrelieren müssen. Je nach Alter zeigen z.B. MRT-Befunde bei schmerzfreien Personen in 20 bis 40% Bandscheibenvorfälle, in 60 bis 80% Protrusionen und in 34 bis 93% Degenerationen. Wie recht hat da die Physiotherapeutin, wenn sie „erlebt, dass der Rücken in engem Zusammenhang mit der `Seele´ steht“. Wie „unendlich mühsam“ die therapeutische Beziehung mit Magersüchtigen sein kann, schildert ein Berliner Beitrag. Zwei Aufsätze widmen sich den besonderen Bedingungen psychotherapeutischer Behandlung in der DDR und den traumatischen Erlebnissen durch politische Haft und Verfolgung, die noch 20 Jahre nach dem Mauerfall Menschen leiden lassen. Transkulturelle Besonderheiten der Arzt-Patienten-Beziehung werden am Beispiel einer Kreuzberger Praxis mit türkischen Migranten und eines Gesprächstrainings für onkologisch tätige Ärzte in China deutlich. „Migranten nicht als defizitäre Inländer zu betrachten, sondern als Menschen mit eigenen Überlieferungen wahrzunehmen“ ist eine Botschaft, die unseren Umgang mit fast 20% der Bevölkerung prägen sollte. „Andere Doktor reden und reden, nicht anfassen, nicht richtig machen, nichts verstehen von mir“. Und verstehen bedeutet, nicht den Kranken als Individuum, sondern Teil seiner Sippe zu verstehen. Behandeln wird hier zur Familientherapie. In der Regel ist der deutsche Patient so konditioniert, dass seine präsentierten Symptome in eine Diagnose passen, nicht so Migranten oder Chinesen. Hier ist Dörners Votum [6], den „Dritten“ in den Umgang zwischen Ärzten und ihren Patienten einzubeziehen, besonders augenfällig. Warum „junge Mediziner deutschen Krankenhäusern den Rücken kehren“ ist u.a. darauf zurückzuführen, dass „Gesundheit bloßes Wirtschaftsgut“ zu werden droht und mit „Dehumanisierung“ verbunden ist. Dazu passt eine arbeitsmedizinische Studie, die eine Tätigkeitsanalyse vorlegt, die u.a. zeigt, dass „pro Tag und Patient knapp zwei Minuten“ dem ärztlichen Gespräch dienen. Man staunt: es werden bis zu 400 Psychotherapieformen unterschieden, die sich seit Freuds Übertragungsanalyse 1912 entwickelt haben. Etwa 5 Millionen Menschen bedürfen jährlich Psychotherapie. Hier wird die psychotherapeutische Einzelbehandlung beleuchtet zum anderen werden zwei Therapieformen hinsichtlich der Symptomverbesserung unter dem Kosten/Nutzen Aspekt verglichen (PAL-Studie). Unter dem Strich unterscheiden sich Psychoanalyse und Psychotherapie nicht.

Dem Buch ist eine breite Leserschaft empfohlen, die Deters Ausblick nachvollziehen kann, dass Humanmedizin „nicht Naturwissenschaft ist, sondern Handlungswissenschaft“. „Ob sich diese Gesellschaft auf Dauer eine Medizin für den Menschen wird leisten wollen und können“ ist nach hier referierten historischen und praktischen Erfahrungen möglich und vermittelbar, ohne `das Rad neu erfinden zu müssen´. Um den Senior der Autoren dieses Buches, D. Janz zu zitieren: „damit recht zu haben, hat doch immer etwas Befriedigendes, oder?“


Interessenskonflikt

Der Autor erklärt, dass er keine Interessenskonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


Literatur

1.
Pauli HG, White KL, McWhinney IR. Medizinische Ausbildung, Forschung und wissenschaftliches Denken im 21. Jahrhundert. Z Med Ausbild. 2001;18:191-205.
2.
Engel GL. Wie lange noch muß sich die Wissenschaft der Medizin auf eine Weltanschauung aus dem 17. Jahrhundert stützen? In: Adler RH, Herrmann JM, Köhle K, Schoenecke OW, von Uexküll T, Wesiak W (Hrsg). Psychosomatische Medizin. München: Urban & Schwarzenberg; 1996. S.3-11.
3.
Green LA, Fryer GE Jr, Yawn BP, Lanier D, Dovey SM. The ecology of medical care revisited. N Engl J Med. 2001; 344(26):2021-2025. DOI: 10.1056/NEJM200106283442611 Externer Link
4.
Greenhalgh T, Hurwitz B. Narrative-based Medicine – Sprechende Medizin. Bern: Huber; 1998.
5.
Murrhardter Kreis. Das Arztbild der Zukunft. Analysen künftiger Anforderungen an den Arzt. Konsequenzen für die Ausbildung und Wege zu ihrer Reform. Gerlingen: Bleicher; 1995.
6.
Dörner K. Der gute Arzt – Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung. Stuttgart: Schattauer; 2003.