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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Die Allgemeinmedizin als Forschungsfeld: Ein Seminarkonzept zur Vermittlung qualitativer Forschungsmethoden im Medizinstudium

General practice as a research field: a seminar concept teaching qualitative research methods to medical students

Originalarbeit Humanmedizin

  • corresponding author Hans-Jürgen Lorenz - Martin-Luther Universität Halle, Institut für Allgemeinmedizin, Halle und Otto-von-Guericke Universität Magdeburg, Institut für Allgemeinmedizin, Magdeburg, Deutschland
  • author Hella von Unger - Martin-Luther Universität Halle, Institut für Allgemeinmedizin, Halle und Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Forschungsgruppe Public Health, Berlin, Deutschland
  • author Thomas Lichte - Martin-Luther Universität Halle, Institut für Allgemeinmedizin, Halle und Otto-von-Guericke Universität Magdeburg, Institut für Allgemeinmedizin, Magdeburg, Deutschland
  • author Markus Herrmann - Martin-Luther Universität Halle, Institut für Allgemeinmedizin, Halle und Otto-von-Guericke Universität Magdeburg, Institut für Allgemeinmedizin, Magdeburg, Deutschland

GMS Z Med Ausbild 2007;24(3):Doc151

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/zma/2007-24/zma000445.shtml

Eingereicht: 9. März 2007
Veröffentlicht: 15. August 2007

© 2007 Lorenz et al.
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Zusammenfassung

Qualitative Forschungsmethoden finden in der Allgemeinmedizin zunehmend praktische Anwendung. Sie werden in wissenschaftlichen Studien eingesetzt und dienen der Entwicklung und Sicherung von Qualitätsstandards. Um die Forschungskompetenz von angehenden Ärzten zu entwickeln und gleichzeitig Einblicke in die Handlungsmöglichkeiten der Allgemeinmedizin zu geben, wurde ein Konzept zur angewandten Vermittlung qualitativer Forschungsmethoden entwickelt und erprobt. Das Konzept sieht vor, dass die Studierenden sich mit häufigen Behandlungsanlässen in der Hausarztpraxis und den entsprechenden Leitlinien für Diagnostik, Therapie und Prävention der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM) [1] vertraut machen. In einem zweiten Schritt untersuchen sie, inwiefern diese Leitlinien in dem alltäglichen Handeln in einer hausärztlichen Praxis zur Anwendung kommen. Dazu befragen sie niedergelassene Hausärzte mittels eines leitfaden-gestützten Interviews und werten dieses aus. Dieser Beitrag stellt das Seminarkonzept und erste Erfahrungen aus der Anwendung an den Universitäten Magdeburg und Halle vor.

Schlüsselwörter: Forschung, Lehre, DEGAM Leitlinien, Qualitative Methoden

Abstract

Qualitative research methods are increasingly employed in general practice. They are used in scientific studies as well as in the development and management of standards of quality of care. To develop the research skills of medical students while providing an introduction to the field of general practice, a seminar concept was developed and applied. In the seminar, the students familiarize themselves with some of the often encountered medical problems in general practice and the respective guidelines for diagnosis, prevention and treatment of the German Association of General Practice and Family Medicine (DEGAM) [1]. In a second step, the students investigate how these guidelines compare with the actual attitudes, practices and experiences of general practitioners using a qualitative interviewing technique. The current article describes the seminar concept and reports the intial results from its application at the universities of Halle and Magdeburg.

Keywords: Research, Teaching, DEGAM Guidelines, Qualitative Methods


Einleitung/Methoden

Die Allgemeinmedizin weist einige spezifische Forschungsbereiche auf, die sich z.B. auf die hausärztliche Versorgung in der Früherkennung, der Langzeitversorgung und Behandlung von unspezifischen Beschwerden sowie dem Kontext und dem Setting der Arzt-Patienten-Begegnung beziehen. In der patientenzentrierten Hausarztmedizin sind dabei oft diejenigen Einflüsse auf das Handeln der Beteiligten bedeutsam, die in der klinischen Medizin möglichst ausgeschaltet werden sollen. Arzt und Patient entscheiden und handeln in einem komplexen Beziehungsgefüge, welches vom Kontext, dem Setting und individuellen Erfahrungen, biographischen Voraussetzungen, Haltungen und Orientierungen der Beteiligten und dem Gesundheitssystem mit beeinflusst wird. Insofern stellt die Allgemeinmedizin/Hausarztmedizin eine komplexe und vielschichtige Forschungsherausforderung dar, die einer diesen Fragestellungen angemessenen Erweiterung ihrer empirischen Forschungsmethoden hin zu qualitativen Methoden bedarf.

Eine in der Medizin übliche klinische Studie unter Verwendung quantitativer Methoden bzw. Daten könnte z.B. die Wirkung eines Medikamentes unter kontrollierten Bedingungen (z.B. im Krankenhaus) bei speziellen Krankheitsbildern erfassen. Dazu werden Daten benötigt, die aus Messungen (z.B. Blutdruck, Fieber, Krankheitsdauer) gewonnen werden oder mittel standardisierter Fragebogen abgefragt werden. Ziel wäre die Gewinnung genauer, vergleichbarer Daten, um z.B. Wirkungszusammenhänge zu präzisieren. Dabei wird in der Regel eine große Zahl von Fällen betrachtet und individuelle Besonderheiten zugunsten genereller Tendenzen eher ausgeblendet. Am Ende stünde eine Aussage bezüglich der Wirkungen des getesteten Medikaments und möglichst klare, statistisch belegte Aussagen, ob und unter welchen Bedingungen aufgrund der erhobenen Messwerte dieses Medikament wirkt oder diese Therapiemethode zu empfehlen ist.

Ein Untersuchungsdesign mit qualitativen Methoden hat meist ganz andere Ziele. Im Mittelpunkt könnte z.B. die Frage stehen, warum Hausärzte bei Rückenschmerzen ein sehr unterschiedliches Verschreibungsverhalten zeigen und wie sie ihr eigenes Verhalten begründen. Zur Klärung dieser Thematik könnten eine Diskussionsgruppe/Fokusgruppe mit mehreren Ärzten oder mehrere Interviews mit Ärzten beitragen. Die Fokusgruppe bzw. die Interviews würden aufgezeichnet, transkribiert und dann nach Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse untersucht werden. Am Ende könnte z.B. eine von mehreren Aussagen sein, dass bestimmte Ärzte dann das Schmerzmittel X verschreiben, wenn die Patientenerwartungen klar in diese Richtung gehen und der Arzt unsicher ist, was er alternativ tun sollte. Im Übrigen würde er den Patienten ungern an die Konkurrenz verlieren und fühlt sich auf dem Gebiet der in diesem Fall in Frage kommenden alternativen Heilverfahren nicht sicher. Ein weiteres Ergebnis könnte die Definition einer Weiterbildungsmaßnahme zu dieser Thematik sein.

Mittels qualitativ orientierter Studien sollen die Strukturen und Zusammenhänge entdeckt werden, das „typische“ des Einzelfalls für die Strukturen (hier: Beratungshandeln der Ärzte) untersucht werden und die Daten (z.B. Aussagen der Ärzte) interpretiert und gedeutet werden. Es geht dabei weitaus mehr als in quantitativ orientierten Studien um die Kontextbedingungen (z.B. Patientenerwartungen, Gesundheitssystem) der Fragestellung.

Qualitative Forschungsmethoden dienen in der Allgemeinmedizin der Untersuchung unterschiedlicher Themen wie Arzt-Patienten Kommunikation, hausärztliche Haltungen, Einstellungen und Vorgehensweisen sowie Patientenperspektiven auf hausärztliche Diagnosen und Behandlungen [2], [3], [4], [5], [6], [7], [8]. Zur Entwicklung von Qualitätsstandards und wissenschaftlichen Studien werden in der hausärztlichen Praxis qualitative Interviews, Fokus-Gruppen, teilnehmende Beobachtung, Videoanalysen und andere Formen der qualitativen Datenerhebung und –auswertung eingesetzt [9], [10], [11], [12], [13], [14], [15]. In Miles und Hubermann, 1994 [16], einem grundlegenden Standardwerk qualitativer Methodik, finden sich zahlreiche Verfahren zur praktischen Anwendung von qualitativen Methoden und der qualitativen Datenanalyse.

Der Vorteil qualitativer Forschung liegt u.a. darin, dass sie einen verstehenden Einblick und praxisrelevante wissenschaftliche Erkenntnisse in vielschichtige Zusammenhänge unter Alltagsbedingungen geben und Hypothesen generieren kann für weiterführende Fragestellungen. Nachteile von qualitativer Forschung bestehen sicherlich in der eingeschränkten Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse und dem erheblichen Zeitaufwand, der mit der Durchführung und Auswertung dieser Form der Forschung verbunden ist.

Entscheidend für die Ausbildung von Hausärzten ist neben dem Erwerb von Kernkompetenzen ein multidimensionaler Zugang zu Gesundheitsproblemen, um die Studierenden zu kritischem Verhalten und zu Problemlösungsmöglichkeiten zu befähigen. Erste Fähigkeiten zur wissenschaftlichen Bearbeitung von Fragestellungen, die im späteren Berufsleben hilfreich sind, können durch entsprechende Lehrangebote bereits in der Ausbildung entwickelt und gefördert werden. Für den medizinischen Nachwuchs wird angesichts der Zukunftsaufgaben der Medizin der Kontakt zur Forschung bereits in der Ausbildung an Bedeutung gewinnen. Im gegenwärtigen Medizinstudium finden qualitative Forschungsmethoden jedoch keine oder eine nur marginale Berücksichtigung und werden bestenfalls in einzelnen Lehrveranstaltungen der Allgemeinmedizin und der psychosomatischen Medizin, vor allem in Promotions- und Forschungscolloquien, vermittelt bzw. gelehrt. Durch die Integration von Forschung in die medizinische Ausbildung kann langfristig das wissenschaftliche Potential der Allgemeinmedizin gestärkt werden. Derzeit gibt es erste Versuche von allgemeinmedizinischen Instituten und Abteilungen, diese Forschungsmethoden in die medizinische Ausbildung zu integrieren.

Vor diesen Hintergründen wurde an den Universitäten Magdeburg und Halle das im Folgenden dargestellte Seminarkonzept zur Vermittlung von qualitativen Forschungsmethoden in der Allgemeinmedizin entwickelt und bereits in mehreren Lehrveranstaltungen durchgeführt.


Zielsetzung/Lernziele

Zielgruppe des Seminars sind Studierende der Medizin im 3.-5. Studienjahr. Ihnen soll ein erster Zugang zur Allgemeinmedizin als Handlungs- und Forschungsfeld vermittelt werden. Hausärztliches Handeln soll verstehbarer und begründbarer werden, insbesondere wie Anliegen und Beschwerden von Patienten in ihrem biopsychosozialen Kontext aufgenommen und ärztliche Leistungen in einem komplexen Versorgungssystem veranlasst und koordiniert werden [17]. Einige spezifische Merkmale und Aufgaben der hausärztlichen Versorgung im Unterschied zu den klinischen Fächern werden anhand der wissenschaftlich fundierten und praxiserprobten Leitlinien der DEGAM zu Patientenanliegen herausgearbeitet. Zweiter begleitender Schwerpunkt des Seminars sind die Vermittlung und erste praktische Übungen in der Anwendung qualitativer Forschungsmethoden. Die Studierenden sollen am Ende des Seminars sowohl über einige Grundkenntnisse der besonderen Merkmale der Allgemeinmedizin als auch über ein Grundverständnis von und erste praktische Erfahrungen mit wissenschaftlichem Arbeiten verfügen.


Das Seminarkonzept

Das Seminarkonzept wurde im Sommer 2005 entwickelt und bisher drei Mal an den Universitäten Magdeburg und Halle erprobt. Die Seminare wurden interdisziplinär von medizinisch und sozialwissenschaftlich ausgebildeten Mitarbeitern der Institute für Allgemeinmedizin durchgeführt.

Einführend wird das Seminarkonzept und die erforderlichen Leistungsnachweise den Studierenden vorgestellt. In der Begründung des Seminars wird besonders Wert auf die künftigen demographischen Herausforderungen und die Anforderungen an eine flächendeckende Versorgung angesichts eines zunehmenden Ärztemangels in ländlichen Regionen gelegt. Im Mittelpunkt stehen auch die besonderen Erfordernisse an eine qualitativ gute Primärversorgung angesichts der derzeitigen und künftigen Entwicklungen im Gesundheits- und Sozialwesen.

Um die Sensibilität für kommunikative Fähigkeiten und Verständnisschwierigkeiten im Arzt-Patienten-Verhältnis zu erhöhen, werden Videosequenzen mit schwierigen Konsultationen aufgrund von Sprachproblemen präsentiert und in der Seminargruppe diskutiert. Diese Filmsequenzen enthalten neben sprachlichen Verständigungsproblemen viele kontext- sowie settingbezogene Probleme und sollen in den Seminaren zu vertieften Diskussionen bezüglich kultureller Unterschiede im Verständnis von Gesundheit und Krankheit führen. Des Weiteren werden unterschiedliche Deutungskonzepte und Präsentationen von Krankheit und Befindensstörungen, deren kulturelle Geschichte und Abhängigkeit sowie unterschiedliche Handlungsweisen in der Medizin und schwierige Gesprächssituationen in der ärztlichen Praxis anhand von Videoaufzeichnungen diskutiert.

Ein weiteres Beispiel für unterschiedliches Handeln in der Medizin in den USA, GB, Frankreich und Deutschland wird mittels eines Videofilms zu Lynn Payers Buch „Andere Länder, Andere Leiden“ [18] präsentiert und diskutiert. Dabei wird deutlich, dass das Verständnis von Krankheit und den geeigneten Behandlungsmethoden von Land zu Land unterschiedlich ist und abhängig von der kulturellen und geschichtlichen Entwicklung sowie den Wertvorstellungen und Prioritäten ist, die ein Land setzt. Von diesen Faktoren hängt aber auch die Gestaltung des Gesundheitssystems und die medizinische Ausbildung ab.

Das Seminarkonzept sieht in einem weiteren Abschnitt vor, dass sich Studierende mit häufigen Behandlungsanlässen und den entsprechenden Leitlinien für Diagnostik, Therapie und Prävention der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM) vertraut machen. Ab der dritten Veranstaltung werden jeweils eine Leitlinie und das daraus folgende Vorgehen des Arztes im Seminar präsentiert und diskutiert (siehe Übersicht Seminarplan, siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).

In einem zweiten Schritt, im so genannten „Praxisprojekt“, untersuchen die Studierenden dann, ob und inwieweit das Handeln in einer hausärztlichen Praxis leitlinienkonform ist, ob und wo es zu Abweichungen kommt und wie das ärztliche Handeln begründet wird. Dazu werden Hausärzte zu ihren alltäglichen Vorgehensweisen, Einstellungen, Erfahrungen, Problemlagen und Lösungsansätzen von den Studierenden interviewt. Die Interviews werden aufgezeichnet, transkribiert (verschriftlicht) und analysiert. Die Studierenden werden zuvor in die Grundzüge qualitativer Forschung eingeführt und mit den Prinzipien leitfadengestützter Interviews vertraut gemacht. In Kleingruppenarbeit werden Fragen und Frageformen analysiert und miteinander in Rollenspielen erprobt. Jeder der Studierenden sucht sich einen Hausarzt für ein 30-minütiges teilstrukturiertes Interview in der Praxis des Hausarztes. Feldnotizen bzgl. der Interviewsituation und der persönlichen Eindrücke werden sofort nach dem Interview aufgeschrieben.

In die Anwendung und Auswertung von problemzentrierten Interviews [19] werden die Studierenden anhand der Diskussion von Texten und Interviewausschnitten aus anderen Forschungsprojekten eingeführt. Erste Ergebnisse der bereits durchgeführten Interviews mit einem Hausarzt („Praxisprojekt“) werden im Seminar vorgestellt. Dabei wird besonderer Wert auf die Reflexion der eigenen Rolle als Interviewer und Medizinstudent und dem damit einhergehenden Einfluss auf den Verlauf des Interviews gelegt. Im weiteren Verlauf des Seminars werden Gütekriterien qualitativer Forschung thematisiert, um den Studierenden die Vorzüge und Limitationen von qualitativen Studien - über ihre eigene praktische Erfahrung hinaus – näher zu bringen [20].

In der 12.-14. Veranstaltung stellen die Studierenden im Seminar ihre Praxis-Projekte mittels einer selbst erstellten MS-Powerpoint Präsentation vor und lernen durch ihre Reflexion und die Diskussion im Seminar voneinander, was beim nächsten Mal verbessert werden könnte und zu mehr Professionalität in der Durchführung des Interviews bzw. ihres Forschungsansatzes beitragen könnte. Sie verfassen zusätzlich einen schriftlichen Endbericht.

Bereits während des Ablaufs dieses Seminars wird über dieses „Seminar-Experiment“ begleitend mit den Teilnehmern diskutiert. Evaluiert werden die Seminare mittels einer 60minütigen Gruppendiskussion in Form einer Fokusgruppe am Ende des Seminars und eines zweiseitigen Fragebogens.


Erste Ergebnisse

Die im Seminarkonzept vorgesehenen Leistungen der Studierenden sind sehr aufwändig und umfassen im einzelnen: Eine Powerpoint-Präsentation einer DEGAM-Leitlinie, die Ableitung möglicher Fragestellungen aus dieser Leitlinie bzw. zu dem jeweiligen Behandlungsanlass, die Erstellung eines Interviewleitfadens, die Kontaktaufnahme mit einem Hausarzt, die Durchführung, Transkription und Auswertung eines ca. 30-minütigen qualitativen Interviews und die mündliche und schriftliche Aufbereitung der Ergebnisse. Insgesamt stellen diese Leistungsanforderungen für die Studierenden ein erhebliches Ausmaß an zusätzlichem Workload im Rahmen der in Magdeburg über 4 SWS laufenden Veranstaltung dar.

Entsprechend wurde von den Studierenden kritisiert, dass die Arbeitsbelastung im Seminar sehr hoch war. Während des Seminars wurde deutlich, dass die Studierenden mehr Zeit als vorgesehen für die Durchführung, Transkription und Auswertung ihrer Interviews benötigten. Die Ausarbeitungen von Präsentationen und Auswertungen der Interviews waren sehr zeitintensiv.

Unsicherheiten tauchten bei der Interviewführung und bei der Auswertung der Interviews auf. Einige Studierende hatten Probleme, die Ergebnisse zu interpretieren und zu verschriftlichen. Außerdem wurde ein fehlender Bezug von qualitativen Forschungsmethoden zu dem Medizinstudium und der späteren beruflichen Praxis wahrgenommen, was aber schlicht und einfach mit dem Nicht-Vorhandensein dieser Forschungsmethoden im Medizinstudium zusammenhängt.

Das Gros der Studierenden an beiden Universitäten empfand die Lernerfahrung als positiv und beschrieb das Seminar als ungewohnte, aber willkommene Gelegenheit, einmal „über den Tellerrand hinaus“ zu schauen. Es wurde betont, wie ungewohnt die Seminarkultur mit ihren kritischen Diskussionen war, da sonst das Medizinstudium eher von „Faktenwissen“ geprägt sei. Hinzu kam eine positive Bewertung der interdisziplinär organisierten Lehre unter Beteiligung von Ärzten und Sozialwissenschaftlern. Das Seminar habe dazu beigetragen, dass bislang als selbstverständlich hingenommene Handlungsweisen kritischer hinterfragt werden. Der direkte Kontakt mit den Hausärzten und die Durchführung des Interviews mit ihnen wurden als eine bereichernde Erfahrung gewertet, in der viele Hintergründe des (medizinischen) Handelns sichtbar wurden (u.a. Patientenerwartungen, Evidenzbasierung).

Eine „Nebenwirkung“ des Seminars bestand darin, dass die Studierenden bemerkten, dass sich insbesondere ihre Sicherheit, Inhalte vor einer Gruppe (mittels Powerpoint) zu präsentieren, durch das Seminar verbessert habe.


Diskussion

Das Seminarkonzept hat das Ziel, den Studierenden praxisnahe Inhalte und Abläufe des allgemeinmedizinischen Handelns unter gleichzeitiger Anwendung qualitativer Forschungsmethoden näher zu bringen. Es soll zur Entwicklung wissenschaftlicher Fähigkeiten bei angehenden Medizinern beitragen sowie zur Erforschung der Allgemeinmedizin als ein nichtklinisches Handlungsfeld, und – im Fall der Studierenden, die später als Hausarzt tätig werden wollen – zu ersten Begegnungen mit dem wissenschaftlichen Feld der Allgemeinmedizin. Das Seminarkonzept ist jedoch ohne Frage anspruchsvoll – es bedarf medizinischer, sozialwissenschaftlicher und didaktischer Kompetenzen auf Seiten der Lehrenden und ist zeit- und arbeitsaufwendig, nicht nur für die Studierenden. Als angenehmer „Nebeneffekt“ der verlangten Leistungsnachweise in Form von Präsentationen wurde, wie bereits erwähnt, häufig die Verbesserung der eigenen Fähigkeiten, vor Gruppen zu reden bzw. zu präsentieren, genannt. Eine ausführliche Auswertung der Evaluationsergebnisse der drei durchgeführten Seminare und weiteren geplanten ist vorgesehen.

Die Teilnehmerzahl ist auf maximal 14 Studierende begrenzt, um eine aktive Teilnahme der Studierenden gewährleisten zu können. Eine weitere Limitation ist die begrenzte Zeit: Selbst 4 Semesterwochenstunden bewirken, dass in diesem Rahmen nur eine sehr eingeschränkte Einführung in qualitative Methoden möglich wird. Die Vermittlung von sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden bleibt auf die Einführung in eine Methode der Datenerhebung (qualitatives Interviewen) beschränkt und die Auswertung der Daten kann nur rudimentär erfolgen. Für die Auseinandersetzung mit den Grundzügen qualitativer Forschung ist sehr wenig Raum und auftretende Irritationen und diesbezügliche Fragen können nur in Ansätzen diskutiert und aufgelöst werden. Diese eingeschränkte Vermittlung von sozialwissenschaftlichen, qualitativen Forschungsmethoden im Kontext der medizinischen Ausbildung wird auch andernorts festgestellt und bemängelt [4], [21]. Die Kritik der Studierenden ist damit nicht nur auf „normale“ Einsteiger-Probleme beim ersten Erlernen von Forschungskompetenzen zurückzuführen (für eine Beschreibung von Anfänger-Problemen beim qualitativen Interviewen siehe z.B. Herrmanns, 2004 [22]), sondern auch ein Spiegelbild der strukturellen Rahmenbedingungen des Medizinstudiums, das bislang durch eine mangelnde Einbindung von Forschungsmethoden allgemein und von qualitativen, interdisziplinären Ansätzen im besonderen geprägt ist.

Zum Rahmen der medizinischen Ausbildung ist weiterhin anzumerken, dass dieser besonders durch die Grundlagenfächer und die klinischen Fächer dominiert wird. Ein Großteil der medizinischen Versorgung findet aber in der Realität der Primärversorgung statt und nicht allein in Krankenhäusern. Dieser Aspekt sollte in der medizinischen Ausbildung adäquater Berücksichtigung finden. Die klassischen Lehrpläne in der Medizin konzentrieren sich dabei zu sehr auf das sachliche, mechanische Lernen von physiologischen Prozessen und Krankheiten [23]. Deshalb wäre die kontinuierliche Beschäftigung mit Themen der primären Gesundheitsversorgung im biopsychosozialen Kontext über die durch dieses Wahlfachseminar angesprochene Zielgruppe von Medizinstudenten des 7.-9. Semesters bereits in früheren Semestern sinnvoll.

Letztlich kann die Praxis der Allgemeinmedizin von der Forschung durch empirisch fundierte qualitative und quantitative Forschungsmethoden profitieren. Eine bessere wissenschaftliche Ausbildung von Hausärzten wird als Voraussetzung für die Intensivierung der Forschung in Hausarztmedizin gesehen [24], wozu das hier beschriebene Seminar beitragen soll.


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