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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Warum werden chirurgische Vorlesungen nicht besucht – was muss sich ändern?

Why surgical lectures are not attended – what should be changed?

Projekt Humanmedizin

  • corresponding author Berthold Gerdes - Philipps-Universität Marburg, Klinik für Visceral-, Thorax- und Gefäßchirurgie, Marburg, Deutschland
  • author Michael Schnabel - Philipps-Universität Marburg, Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Marburg, Deutschland
  • author Vanessa Wennekes - Philipps-Universität Marburg, Fachschaft Humanmedizin, Marburg, Deutschland
  • author Iyad Hassan - Philipps-Universität Marburg, Klinik für Visceral-, Thorax- und Gefäßchirurgie, Marburg, Deutschland
  • author Katja Schlosser - Philipps-Universität Marburg, Klinik für Visceral-, Thorax- und Gefäßchirurgie, Marburg, Deutschland
  • author Matthias Rothmund - Philipps-Universität Marburg, Klinik für Visceral-, Thorax- und Gefäßchirurgie, Marburg, Deutschland

GMS Z Med Ausbild 2005;22(2):Doc22

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/zma/2005-22/zma000022.shtml

Eingereicht: 4. September 2004
Veröffentlicht: 20. April 2005

© 2005 Gerdes et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Ziel der Studie: Eine Unterrichtsform kann nur wirksam werden, wenn sie besucht wird. Somit ist ein ausreichender Besuch einer bestimmten Unterrichtsform eine notwendige - wenn auch nicht hinreichende - Bedingung für ihre Wirksamkeit. Das Lehrangebot „Vorlesung" wird an vielen Universitäten schlecht genutzt. Was sind die Gründe hierfür und was muss sich ändern?

Methode: Studierende und Lehrende der Chirurgischen Kliniken der Philipps-Universität Marburg wurden systematisch mit einer 7-stufigen Likert-Skala (von 0 = „trifft gar nicht zu" bis 6 = „trifft vollständig zu") nach den Gründen für den geringen Vorlesungsbesuch gefragt. Hierzu wurden einerseits mögliche Gründe und Änderungsvorschläge vorgegeben, zusätzlich bestand die Möglichkeit zu Freitextantworten. Des Weiteren erfolgte ein internes Benchmarking mit einer anderen Klinik unserer Fakultät, die einen signifikant besseren Vorlesungsbesuch verzeichnen kann. Um zu überprüfen ob es sich bei dem schlechten Besuch chirurgischer Vorlesungen um ein deutschlandweites Problem handelt, wurde eine zusätzliche Umfrage unter Vertretern der Fachschaften von 27 der 35 deutschen medizinischen Fakultäten durchgeführt.

Ergebnisse: Bei der Befragung in Marburg wich im Median bei keinem von 22 angebotenen möglichen Gründen für schlechten Vorlesungsbesuch, und nur bei einem von 16 angebotenen Änderungsvorschlägen die Einschätzung der Studierenden und der Lehrenden um mehr als 2 Skalenpunkte voneinander ab: Studierende und Lehrende sind nicht der Auffassung, dass Vorlesungen überflüssige Lehrveranstaltungen sind (Median: 1). Gemeinsam besteht die Auffassung, dass gute Lehre der Dozenten belohnt werden sollte (Median: 5 bzw. 6). Es werden verschiedene organisatorische Missstände des Studienablaufs, wie z.B. die Überschneidung von Lehrveranstaltungen, als Hauptursachen für den schlechten Vorlesungsbesuch angesehen. Die Vorlesungen der unterschiedlichen klinischen Fächer sollten besser aufeinander abgestimmt werden. Während die Studierenden unentschieden waren (Median 3), ob die Inhalte der Vorlesungen in Prüfungen abgefragt werden sollten, befürworteten dies die Lehrenden (Median 5,5). Im Vergleich mit einer anderen Klinik im Fachbereich mit signifikant höheren Besucherzahlen zeigt sich als wesentlicher Unterschied, dass dort Anwesenheitskontrollen und eine Abschlussprüfung stattfinden. An 19 von 27 Fakultäten liegt der Vorlesungsbesuch nach Einschätzung der Fachschaftsvertreter bei <=40%, an 3 Universitäten wurde der Vorlesungsbesuch mit >=70% und an 5 Universitäten mit >40 bis <70% eingeschätzt.

Schlussfolgerungen: Schlechter Vorlesungsbesuch im Fach Chirurgie ist ein relevantes Problem in Deutschland. Die Analyse Marburger Studierender und Lehrender weist überwiegend organisatorische Defizite ursächlich hierfür aus. Ein besserer Vorlesungsbesuch kann hiernach durch Verbesserung der organisatorischen Bedingungen, durch eine sinnvolle Integration mit anderen Fächern, die Einführung von Anreizsystemen für Dozenten sowie durch Verknüpfung von Prüfungs- und Vorlesungsinhalten erzielt werden. Durch weiterführende Studien muss dagegen die Wirksamkeit der Unterrichtsform „Vorlesung" überprüft werden.

Schlüsselwörter: Chirurgische Lehre, Vorlesungen, Medizinstudium, Ressourcen, Chirurgische Lehrforschung

Abstract

Aim of the study: Only a minority of fourth year medical students participate in surgical large lectures. The underlying causes are unknown. Strategies to ensure students´ participation are lacking. The aim of our investigation was to evaluate why students do not participate large lectures in order to develop strategies to bring them back to the lecture hall.

Methods: Students and teachers of the Surgical Department of the medical University of Marburg were interviewed by a standardized questionnaire. Causes of absence and suggestions for improving the participation at the lectures were suggested for choice using a 7 point Likkert scale ranging from "very low" to "very high" agreement. In addition, interviews were animated to give free text answers. Additionally, an internal benchmarking with the best utilized lecture at the medical university was performed. To exclude low acceptance of lectures as a local problem, a survey among representative students from 27 of 35 German medical universities was also performed.

Results: Overall results showed a good agreement between students and teachers concerning their perceptions at surgical lectures. All 22 putative causes which may explain the low participation rate and all 16 but one suggested improvements showed no differences between students and teachers greater than two points on the Likkert scale. Both groups, the students and the teachers, are convinced that surgical lectures should be maintained. They recommended that excellent teaching should be rewarded. Several organizational nuisances, for example overlapping lectures, are pointed out to be the leading cause for to missing surgical lectures in Marburg. While students hesitate, teachers decided clearly that examinations are an essential part of the teaching strategy. The main differences between surgical and benchmarked lectures were attendance sheets and final examinations. According to information from other medical universities in Germany empty lecture halls are common.

Conclusion: Low participation in surgical lectures is a general problem. Nevertheless, lectures are desired by students and teachers. The interview of students and teachers of the Surgical Department of the medical University of Marburg outlined that the improvement of participation in surgical lectures has several conditions. In face of the introduction of the new approbation guidelines organisational nuisances should be avoided and joins of lectures of different departments is needed to avoid redundancies. Excellent teaching should be rewarded. The contents of surgical lectures need to be examined.

Keywords: surgical teaching, lectures, medical students, resources, surgical teaching sciences


Einleitung

Eine zunehmend wertvolle und begrenzte Ressource in der Ausbildung von Medizinstudierenden stellt die Arbeitskraft der Lehrenden dar [1], im klinischen Studium also Ärzte, die in der Krankenversorgung, der Forschung und der Lehre eingesetzt sind. Eine Gefährdung und Umschichtung zeitlicher Ressourcen resultiert für diesen Personenkreis heute insbesondere aus der Überfrachtung der klinischen Tätigkeit mit nicht patientenbezogenen administrativen Aufgaben [2], deren Bewältigung heute bereits mit 160 Minuten pro Arzt und Arbeitstag in chirurgischen Kliniken einen bedeutenden Teil der täglichen Arbeitszeit verbraucht [3], [4]. Gerade heute gilt es, die Verschwendung von Ressourcen zu erkennen und zu vermeiden. Während in der Industrie eine Optimierung von Effektivität und Effizienz der Arbeitskraft ein selbstverständliches Bestreben ist [5], [6], findet in der universitären Ausbildung von Medizinstudierenden möglicherweise eine Verschwendung vorhandener Ressourcen statt. Ein eklatantes Beispiel hierfür - und dies stellt nicht nur national ein Problem dar [7] - ist das wenig genutzte Angebot zahlreicher Vorlesungen. Sollte sich herausstellen, dass die Vorlesung eine nicht mehr zeitgemäße Unterrichtsform ist, weil sie von den Studierenden nicht genutzt wird, müsste sie als Unterrichtsform gegebenenfalls abgeschafft und die freigesetzten Ressourcen in wirksame Lehre investiert werden.

Ziel dieser Arbeit war es herauszufinden, was nach Ansicht der Studierenden und der Lehrenden einer Chirurgischen Universitätsklinik die Gründe für schlechten Vorlesungsbesuch sind und welche Änderungen aus Sicht beider Gruppen notwendig wären, damit Vorlesungen besser besucht werden.


Material und Methoden

Studierende und Lehrende der Chirurgischen Kliniken der Philipps-Universität Marburg wurden im Sommersemester 2003 systematisch mit einer sieben-stufigen Likert Skala (Skala von 0 = „trifft gar nicht zu" bis 6 = „trifft vollständig zu") nach den Gründen für geringen Besuch chirurgischer Vorlesungen und nach Änderungsvorschlägen gefragt. Von drei Fachschaftsvertretern und drei Lehrenden wurden hierzu mögliche Gründe und Verbesserungsvorschläge formuliert, wobei jeweils mögliche Gründe (Tabelle 1 [Tab. 1], Frage 28) und Verbesserungsvorschläge (Tabelle 2 [Tab. 2], Frage 44) in Freitextform angegeben werden konnten. Die Befragung der Studierenden und Lehrenden erfolgte im Rahmen des chirurgischen Praktikums, einer verpflichtenden Veranstaltung. Beide Gruppen wurden gebeten, den Fragebogen bis zum Termin der Scheinausgabe des befragten Semesters wieder abzugeben. Es wurde dokumentiert, wer den Fragebogen abgegeben hat, die Antworten wurden jedoch anonymisiert. Hierdurch wurde vermieden, dass von einer Person mehr als ein Fragebogen abgegeben wurde. Die Studierenden schätzten den Anteil der selbst besuchten chirurgischen Vorlesungen im letzten Semester mit einer Prozentangabe ein. Die Original-Fragebögen für Studierende und Lehrende mit jeweils eigenem Fragebogenkopf sind unter der Internetadresse: http://www.med.uni-marburg.de/d-einrichtungen/allgemeinchir/ einzusehen und Bestandteil dieser Publikation.

Zusätzlich erfolgte ein internes Benchmarking [8] mit einer anderen Marburger Klinik, die einen signifikant besseren Vorlesungsbesuch mit mehr als 70% eines Semesters verzeichnen konnte. Hierzu wurde die Struktur in den Vorlesungen der beiden Kliniken von den Autoren analysiert und miteinander verglichen.

Um zu überprüfen, ob es sich bei schlechtem Besuch chirurgischer Vorlesungen um ein deutschlandweites Problem handelt, wurde bei einem nationalen Fachschaftstreffen im Januar 2004 unter den anwesenden Fachschaftsvertretern des klinischen Studienabschnitts erfragt, wie viel Prozent der Studierenden nach ihrer Einschätzung die chirurgischen Vorlesungen als Lehrangebot an ihrer Universität wahrnehmen. Bei diesem Treffen waren pro Universität 1-5 studentische Vertreter des klinischen Studienabschnittes von 27 deutschen medizinischen Fakultäten anwesend. Die hierbei gewonnenen Daten wurden mit einem standardisierten Fragebogen erhoben. Es wurde eine Skala in Zehn-Prozent-Schritten zur Auswahl vorgegeben. Bei Angaben durch mehrere anwesende Fachschaftsvertreter einer Universität wurde der Mittelwert in Tabelle 2 [Tab. 2] aufgeführt. Zusätzlich wurde nach Anwesenheitspflicht und Abschlussklausuren gefragt.


Ergebnisse

Befragung Marburger Studierender

Von 109 Studierenden des befragten Semesters (Sommersemester 2003) gaben 74 Studierende einen vollständig ausgefüllten Fragebogen ab. Zusätzlich wurden von 32 Lehrenden die gleichen Fragebögen abgegeben.

Die 71 Studierenden gaben einen medianen Vorlesungsbesuch von 10% (Streubreite 0-100) an, wobei der Mittelwert bei 13,8% bei einer Standardabweichung von 21,4 lag.

Bei der Befragung der Studierenden und der Lehrenden wich im Median bei keinem von 22 angebotenen möglichen Gründen für schlechten Vorlesungsbesuch und nur bei einem von 16 angebotenen Änderungsvorschlägen die Einschätzung der Studierenden und der Lehrenden um mehr als 2 (Δ>2) Skalenpunkte voneinander ab (Tabelle 1 [Tab. 1] u. Tabelle 2 [Tab. 2]).

Studierende und Lehrende halten übereinstimmend Vorlesungen nicht für überflüssige Lehrveranstaltungen und plädieren nicht für ihre Abschaffung (Tabelle 1 [Tab. 1] u. Tabelle 2 [Tab. 2], Fragen 6 und 29). Von den 74 Studierenden kreuzten nur 9 in Frage 6 (Tabelle 1 [Tab. 1] u. Tabelle 2 [Tab. 2]), einen Skalenwert von >= 4 an und gaben als Zusatz z.B. an, dass die Vorlesung „ihnen nichts bringe" und dass sie aus Büchern schneller lernen könnten. Ein Wert von >=4 wurde bei dieser Frage von nur 3 der 32 Lehrenden angegeben und zur Begründung z.B. vermerkt: „keine Interaktion, passives Wissen, keine Fähigkeitsvermittlung" durch die Unterrichtsform Vorlesung. Nur zwei der Studierenden und keiner der Lehrenden ziehen in Frage 29 mit einem Skalenwert von >=4 dagegen die Konsequenz, die vollständige Abschaffung der Vorlesungen zu fordern.

Von Studierenden und Lehrenden werden verschiedene organisatorische Missstände des Studienablaufs als Hauptursachen für den schlechten Vorlesungsbesuch angesehen (Tabelle 1 [Tab. 1] u. Tabelle 2 [Tab. 2], Fragen 10, 23-27, 30, 36, 39, 42), von denen einzelne ortspezifisch sind (Tabelle 1 [Tab. 1], Frage 23). Der optimale Beginn einer Vorlesung liegt aus Sicht der Studierenden im Median bei 10 Uhr (Spannweite 8-14 Uhr), aus Sicht der Lehrenden bei 9 Uhr (Spannweite 8-14 Uhr).

Gemeinsam besteht die Auffassung, dass gute Lehre der Dozenten belohnt werden soll und schlechte Lehre Konsequenzen haben muss (Tabelle 2 [Tab. 2], Fragen 37, 38). Obwohl die Motivation der Lehrenden prinzipiell nicht als schlecht eingeschätzt wird, glauben beide Gruppen, dass die Lehrmotivation noch steigerungsfähig sei (Tabelle 1 [Tab. 1] u. Tabelle 2 [Tab. 2], Fragen 17, 35).

Als ein relevanter Grund für schlechten Vorlesungsbesuch wird von Studierenden und Lehrenden gleichermaßen die Tatsache angesehen, dass Vorlesungen im Gegensatz zu anderen Veranstaltungen nicht verpflichtend sind (Tabelle 1 [Tab. 1], Fragen 10, 14). Während die Studierenden unentschieden waren, ob die Inhalte der Vorlesungen in Prüfungen abgefragt werden sollten, befürworteten die Lehrenden dies überwiegend (Tabelle 2 [Tab. 2], Frage 31- Studierende im Median 3 vs. Lehrende 5,5 Skalenpunkte).

Schließlich wurden einige der im Fragebogen angebotenen Gründe für schlechten Vorlesungsbesuch als wenig relevant eingestuft (Tabelle 1 [Tab. 1], Fragen 9, 11-13, 15-17, 19-22) sowie einzelne der Änderungsvorschläge von Studierenden und Lehrenden als weniger wichtig angesehen (Tabelle 2 [Tab. 2], Frage 36).

Es wird sowohl eine systematische als auch symptombezogene Vorlesung für erforderlich gehalten (Tabelle 2 [Tab. 2], Frage 40, 41). Die Inhalte der Vorlesungen der unterschiedlichen klinischen Fächer (Chirurgie, Innere Medizin) sollten allerdings besser aufeinander abgestimmt werden (Tabelle 2 [Tab. 2], Frage 43), um Redundanz zu vermeiden. Schließlich halten es Studierende und Dozenten für sinnvoll, ein Skript zur Vorlesung zu erarbeiten (Tabelle 2 [Tab. 2], Frage 42).

Unter den Freitextantworten der Studierenden wurde vier Mal erwähnt, dass es zu zeitlichen Kollisionen zwischen der Promotionsarbeit und Vorlesungen kommt, was einen Vorlesungsbesuch verhindert. Auch von einzelnen Lehrenden wird dieser Punkt als ein mögliches Problem angesehen.

Von acht Studierenden wird explizit formuliert, dass Anwesenheitskontrollen während und/oder Prüfungen am Ende der Vorlesung oder als zweiwöchentliche Testate notwendig seien. Dies wird von einem Studierenden z.B. folgendermaßen formuliert: "Jedes kleine Fach macht dicke Riesenprüfungen und in Chirurgie (und auch Innere) sitzt man nur seine Termine ab. Würde mehr Arbeit und Zeit investieren, wenn Prüfung kommt." Auch zwei Lehrende betonen zusätzlich zu der standardisierten Form in Freitextform, dass Anwesenheitskontrollen und Prüfungen erforderlich seien, damit Vorlesungen besser besucht werden.

Studierende heben noch einmal verschiedene organisatorische Punkte hervor, wie z.B. eine notwendige zeitliche Verknüpfung von Pflichtpraktika und Vorlesungen, um Leerlaufzeiten zwischen Veranstaltungen zu vermeiden.

Aus Sicht von zwei Lehrenden würde eine didaktische Ausbildung von Dozenten zu einem besseren Vorlesungsbesuch führen.

Internes Benchmarking

Bei dem internen Benchmarking (Vergleich der chirurgischen Vorlesung mit der bestbesuchten Vorlesung in der Fakultät) fand sich in der Beurteilung der didaktischen Qualität der Vorlesungen kein Unterschied der analysierten Fächer. In den Vorlesungen beider Fächer wurden Patienten vorgestellt und die Inhalte des jeweiligen Faches systematisch gelehrt. Als Unterschied zwischen den Vorlesungen der Chirurgie und des zum Vergleich herangezogenen Faches stellte sich heraus, dass in den Vorlesungen des Vergleichsfaches Anwesenheitskontrollen und Abschlussprüfungen veranstaltet werden, welche bislang in der Chirurgie nicht realisiert wurden.

Umfrageergebnisse unter den Fachschaftsvertretern

Von 27 der 35 deutschen medizinischen klinischen Fakultäten konnten deren Fachschaftsvertreter danach befragt werden, wie hoch sie den durchschnittlichen Besuch chirurgischer Vorlesungen durch die Studierenden der entsprechenden Semester an ihrer Universität einschätzten. Von diesen 27 Universitäten gaben die Fachschaftsvertreter ihre standardisierte Einschätzung über den Besuch chirurgischer Vorlesungen an ihrer Universität ab. Bei 19 der 27 Universitäten lag der Besuch der chirurgischen Vorlesungen bei <=40%. Bei 5 bzw. 3 der 27 Universitäten wurde der Vorlesungsbesuch mit >40 und <70% bzw. >= 70% eingeschätzt (Tabelle 3 [Tab. 3]). Bei den Universitäten, von denen mehrere Fachschaftsvertreter bei dem Treffen anwesend waren, wichen diese um nicht mehr als 20 % hinsichtlich Ihrer Einschätzung des Besuchs chirurgischer Vorlesungen an ihrer Universität untereinander ab.


Diskussion

Schon Nissen berichtet in seinen Memoiren, dass schlechter Vorlesungsbesuch zu seiner Zeit ein Gegenstand der Diskussion war [9].

Es erscheint uns nicht akzeptabel, dass Lehrveranstaltungen angeboten werden, die von weniger als 40% der angesprochenen Studierenden wahrgenommen werden, da dies in unseren Augen eine erhebliche Verschwendung von Ressourcen darstellt. Sollte es sich herausstellen, dass die Vorlesung eine nicht mehr zeitgemäße Unterrichtsform ist, weil sie von den Studierenden nicht genutzt wird, müsste die Vorlesung als Unterrichtsform gegebenenfalls abgeschafft, und die freigesetzten Ressourcen sinnvoller eingesetzt werden. Andererseits kann eine Unterrichtsform nur wirksam werden, wenn sie besucht wird. Somit ist ein ausreichender Besuch einer bestimmten Unterrichtsform eine notwendige - wenn auch nicht hinreichende - Bedingung für ihre Wirksamkeit.

In einer systematischen Umfrage unter den Studierenden und Lehrenden eines Semesters erfragten wir deshalb, welches die Gründe für den schlechten Besuch der chirurgischen Vorlesungen sind und welche Änderungen vorgenommen werden müssen, um dieses Problem zu lösen.

Sowohl die Studierenden als auch die Lehrenden halten Vorlesungen nicht für überflüssig (Tabelle 1 [Tab. 1], Frage 6), beide Gruppen lehnen eine Abschaffung der Vorlesung als Unterrichtsform ab (Tabelle 2 [Tab. 2], Frage 29). Nur eine Minderheit von 14 Studierenden und zwei Lehrenden waren der Auffassung, dass Vorlesungen eher überflüssig seien (Tabelle 1 [Tab. 1], Frage 6, Skalenwert >3) und nur 2 Studierende folgern hieraus, dass Vorlesungen abgeschafft werden sollten. Somit halten Marburger Studierende und Lehrende Vorlesungen überwiegend für eine zeitgemäße Unterrichtsform in der chirurgischen Lehre und wünschen ihren Fortbestand. Zu der gleichen Auffassung kam auch Nissen. Er berichtet über Studienreformen in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts und war der Auffassung, dass, obwohl er ein sehr entschiedener Anhänger der Bevorzugung des Unterrichtes am Krankenbett sei, die Unterrichtsform Vorlesung zumindest für die Allgemeine Chirurgie erhalten werden solle [9].

Die Analyse der Gründe für den schlechten Vorlesungsbesuch fällt bei Studierenden und Lehrenden in Marburg überraschend ähnlich aus. Im Vordergrund stehen organisatorische Mängel, die eine optimale Nutzung der Unterrichtsform Vorlesung stören. Nach alter Studienordnung kam es in einem gewachsenen Lehrplan zu unkoordinierten Überschneidungen zahlreicher Lehrveranstaltungen, die eine vollständige Nutzung des Lehrangebotes durch die Studierenden unmöglich machten. Es existierte keine Koordination, die verhinderte, dass Studierende zwischen den Lehrveranstaltungen eines Tages enorme Wartezeiten oder Überschneidungen mit anderen Veranstaltungen hatten. Auch der Gesamtumfang des Studienangebotes war so überfüllt, das nur Pflichtveranstaltungen vollständig besucht wurden. In Marburg kommt hinzu, dass verschiedene Institute und Kliniken örtlich voneinander getrennt sind, was eine nicht optimierte Abstimmung in der Koordination der Lehrveranstaltungen aggravierte. Es war aus Sicht des Studierenden also nur vernünftig, verschiedene Veranstaltungen ausfallen zu lassen, um einen einigermaßen sinnvollen und effektiven Studienablauf zu erhalten. Für die Studierenden ist es nahe liegend, Vorlesungen ausfallen zu lassen, bei denen es sich nicht um Pflichtveranstaltungen handelt. Chirurgische Vorlesungen werden also unter anderem nicht besucht, weil die Studierenden ihre Kräfte und ihre Zeit ökonomisch einsetzen und deshalb bei vollem Stundenplan nur die Pflichtveranstaltungen besuchen. Angesichts der Einführung neuer Studienordnungen nach neuer Approbationsordnung besteht gerade aktuell die Gelegenheit, organisatorische Defizite des Medizinstudiums zu beheben. Diese Chance muss unbedingt genutzt werden, wenn die Vorlesungen zu einem effektiven und effizienten Baustein im Medizinstudium werden sollen. Hierbei können die Fakultäten voneinander lernen.

Gerade bei den Vorlesungen ist eine inhaltliche enge Verzahnung der Fächer (Tabelle 2 [Tab. 2], Frage 43) durch eine Neuordnung der Lehre im Rahmen der Umsetzung der Neuen Approbationsordnung möglich.

Während in der Forschung und Krankenversorgung gute und effektive Anreizsysteme für die Dozenten existieren, fehlen diese in der Lehre nahezu vollständig. Lehre muss natürlich eine Selbstverständlichkeit für die Mitarbeiter einer Universität sein. Das gleiche kann jedoch für Forschung und Krankenversorgung in Anspruch genommen werden. Gute Leistungen in diesen beiden Bereichen fördern den beruflichen Aufstieg eines ärztlichen Mitarbeiters und schlechte Leistungen bremsen diesen. Sowohl Studierende als auch Lehrende sind der Meinung, dass auch gute Lehre belohnt werden sollte und schlechte Lehre Konsequenzen haben müsste. Es müssten folglich auch in der Lehre wirksame Anreizsysteme für die Dozenten entwickelt werden, um das Potential der Mitarbeiter wirksam in der Entwicklung der Lehre zu nutzen.

Sowohl die Studierenden als auch die Lehrenden sind der Auffassung, dass Vorlesungen unter anderem deshalb nicht besucht werden, weil es sich hierbei nicht um Pflichtveranstaltungen handelt. Während nur die Hälfte der Studierenden Prüfungen der Vorlesungsinhalte für notwendig hält (Tabelle 2 [Tab. 2], Frage 31, Skalenwert >3), sieht die Mehrzahl der Lehrenden dies als notwendig an, weil die Überprüfung des Erlernten ein Motivator für das Lernen und den Besuch von Vorlesungen für die Studierenden sei. Diese Aussage wurde durch das beschriebene interne Benchmarking mit einer Klinik unseres Fachbereiches bestätigt, die einen überdurchschnittlichen Besuch ihrer Vorlesungen (90% des Semesters) verzeichnen kann. Während nach alter Approbationsordnung im Laufe des klinischen Studiums drei Staatsexamina abzulegen waren, findet nach neuer Approbationsordnung nur noch ein klinisches staatliches Abschlussexamen statt. Die anderen Prüfungen sind auf die Universitäten verlagert worden. Durch die Notwendigkeit benotete Scheine auszustellen, ist es nahe liegend, die Inhalte aller Lehrveranstaltungen zu prüfen, somit auch die Inhalte einer nach Krankheitssystematik aufgebauten Vorlesung. Nicht nur von den Lehrenden, sondern auch von Studierenden wird gesehen, dass eine Prüfung ein wirksamer Anreiz zum Lernen ist. Gerade die Kernfächer Chirurgie und Innere Medizin können auf keinen Fall auf eine verantwortungsvolle Überprüfung der Lerninhalte verzichten, wie dies bislang an vielen Universitäten der Fall war.

Die Studierenden und Lehrenden halten sowohl die Vermittlung einer Krankheitssystematik als auch eine symptombezogene Vorlesung für wünschenswert. Diese beiden Forderungen stehen vordergründig im Widerspruch zueinander. Allerdings ist es gut vorstellbar und didaktisch sinnvoll, zu Anfang des klinischen Studiums eine vollständige Systematik vorzustellen und zum Ende des Studiums eine symptomorientierte und differentialdiagnostische Vorlesung zu halten, in der Vorkenntnisse benötigt werden und Assoziationsfähigkeit gefordert wird.

Von Studierenden wird zum Teil eine zeitliche Kollision zwischen einer Promotionsarbeit und Vorlesungen gesehen. Auch von einzelnen Dozenten wird dieser Punkt genannt. Auch wenn diese Kollision durch Planung des Studiengangs nicht vollständig zu vermeiden ist, kann dieses Problem dadurch abgemildert werden, dass der größte Stoffumfang in den ersten beiden Jahren des klinischen Studiums gelehrt wird, um hierdurch im dritten Jahr des klinischen Studienabschnitts eine partielle Entlastung der Studierenden z.B. für eine Promotionsarbeit, aber auch für Repetition zu erreichen.

Vincenaux berichtete kürzlich, dass 71% der Medizinstudenten der Fakultät Bichat in Paris nie oder nur gelegentlich Vorlesungen besuchte [6]. Auch in Deutschland ist der Vorlesungsbesuch von Medizinstudenten insgesamt als gering einzuschätzen. Um zu überprüfen, ob es sich bei schlechtem Besuch chirurgischer Vorlesungen um ein Marburger oder deutschlandweites Problem handelt, führten wir unter Fachschaftsvertretern von 27 der 35 deutschen medizinischen Fakultäten (klinischer Studienabschnitt) eine Umfrage zum Vorlesungsbesuch durch. An 19 der 27 Fakultäten liegt nach Einschätzung der Fachschaftsvertreter der Vorlesungsbesuch in den chirurgischen Vorlesungen bei 40% und weniger. Somit ist schlechter Vorlesungsbesuch in der Chirurgie nicht nur zurzeit von Nissen, sondern auch heute ein relevantes Problem an deutschen medizinischen Fakultäten.

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie sind teilweise in die Änderungsprozesse anlässlich der Planung der neuen Studienordnung nach neuer Approbationsordnung eingegangen.Zusammenfassend wird deshalb in Marburg der Gesamtumfang der Vorlesungen erheblich reduziert. Um Redundanzen zu vermeiden, werden durchgehende 2-stündige integrierte Vorlesungsbänder zusammengestellt, in die sich die verschiedenen Fachvertreter einbringen. Zu Beginn des klinischen Studiums wird eine integrierte Vorlesung stattfinden, die eine vollständige Systematik relevanter Erkrankungen vorstellt und von inhaltlich in Verbindung stehenden Pflichtpraktika eingerahmt wird. Nicht mehr das Fach, sondern die zu unterrichtende Erkrankung ist unter Beteiligung der Fachvertreter relevant für die Zusammenstellung der Vorlesungsinhalte. Die Vorlesung wird somit hoffentlich auch für die Studierenden integraler Bestandteil der Lehre und organisatorische Hindernisse für einen Vorlesungsbesuch werden nach Umstellung auf die neue Approbationsordnung möglichst vollständig vermieden. Die Inhalte der Vorlesung und Praktika werden geprüft, so dass für die Studierenden der Besuch einen direkten Nutzen für die Prüfungsvorbereitung darstellt. Im dritten Jahr des klinischen Ausbildungsabschnitts wird dann eine symptomorientierte differentialdiagnostische Vorlesung gehalten, die auch einen Wiederholungscharakter hat. Dieses Modell halten wir didaktisch für sinnvoll und wir sind der Auffassung, dass alle wesentlichen der im Rahmen unserer Studie gewonnenen Erkenntnisse bei diesem Konzept berücksichtigt sind. Wir hoffen, hierdurch die Vorlesung zu einem effektiven und effizienten Element in der Lehre entwickeln zu können. Eine Überprüfung der Veränderungsmaßnahmen zur Identifikation weiterer Verbesserungspotentiale ist unverzichtbar [6]. Auch in der Lehre ist ein kontinuierliches Qualitätsmanagement erforderlich.

Allerdings muss durch weiterführende Studien überprüft werden, ob die Vorlesung eine wirksame Unterrichtsform ist.

Die aktuellen Überlegungen zur medizinischen Lehre sind nicht vollständig neu. Deshalb endet diese Arbeit mit der Analyse des erfahrenen chirurgischen Lehrers Rudolf Nissen aus der Mitte des letzten Jahrhunderts [9]:

„Die Lernfreiheit ist bei dem heutigen Ausbildungsziel nicht mehr als das Schlagwort eines Pseudoliberalismus. Man hat sie mit Recht als Pathologie der akademischen Freiheit bezeichnet. Es wäre töricht, dem Studenten, der eben mit den klinischen Fächern in Berührung kommt, die Wahl des Besuches der einen oder anderen Vorlesung oder Demonstration freizustellen. Wenn solche Selektion trotzdem unvermeidlich ist, so liegt es an dem hoffnungslos überlasteten Studienplan, die nicht wenige Fakultäten herausgeben. In früheren Zeiten, als eine gewisse Spezialisierung des Einzelnen schon während der Studienzeit geduldet und von einzelnen Fachvertretern sogar gefördert wurde, hatte der Begriff der Lernfreiheit noch einen gewissen inneren Gehalt. Heute, da Übereinstimmung darin herrscht, dass der Unterricht die Ausbildungsgrundlagen für den Allgemeinpraktiker schaffen soll, ist nichts so notwendig, als das Studienprogramm diesem Zweck entsprechend auszuarbeiten und es so zu begrenzen, dass es dem geistigen Fassungsvermögen und der physischen Kraft des Durchschnitts entspricht. Eine tägliche Unterrichtsdauer von zehn Stunden, wie sie in manchen Programmen vorgesehen wird, ist aber ein Absurdum. Die Trennung in Hauptfächer (allgemeine und spezielle Pathologie, Innere Medizin, Chirurgie, Geburtshilfe, Kinderheilkunde, Psychologie und klinische Pharmakologie) und Nebenfächer muss wesentlich stärker betont werden, als es jetzt der Fall ist; dann ist es auch möglich, auf einem regelmäßigen Besuch der Unterrichtstunden zu bestehen.

Das gilt auch für das klinische Staatsexamen. Aus der großen Zahl der Nebenfächer sollten für jeden Kandidaten zwei Fächer kurz vor Examensbeginn ausgelost werden, in denen er dann geprüft wird. Man hat auf das Schlussexamen ganz verzichten wollen. Das wäre der ernsthaften Erwägung wert, wenn in jedem klinischen Semester und zwar in jedem der Hauptfächer kurze schriftliche Prüfungen abgehalten würden."


Fazit für die Praxis

Die Chirurgische Vorlesung wird von Dozenten und Studierenden gewünscht. Der schlechte Besuch dieser Lehrveranstaltung ist jedoch inakzeptabel, da hier Personalressourcen verschwendet werden. Mit Einführung der neuen Studienordnungen nach neuer Approbationsordnung haben die Fakultäten Gelegenheit, Restrukturierungsmaßnahmen zur Besserung der aktuellen Situation vorzunehmen.


Literatur

1.
Graham HJA, Seabrook MA, Woodfield SJA. Structured packs for independent learning: a comparison of learning outcome and acceptability with conventional teaching. Med Educ. 1999;33:579-584.
2.
Blum K, Müller U. Dokumentationsaufwand im Ärztlichen Dienst der Krankenhäuser. Das Krankenhaus. 2003;544-548.
3.
Blum K, Müller U. Krankenhäuser - Enormer Dokumentationsaufwand. Dtsch Ärztebl. 2003;100:1581-1584.
4.
Lauterbach KW, Lüngen M. Neues Entgeldsystem nach US-Münster. Dtsch. Ärztebl. 2000;100:110-111.
5.
Deutsches Institut für Normung e.V. DIN ISO 8402, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung - Begriffe. Berlin; 1995.
6.
Deming WE. Out of crisis. Cambridge/Mass; 1986. p. 88.
7.
Vinceneux P, Carbon C, Pouchot JA, Crickx B, Maillard D, Regnier B, Desmonts JM, Fontaine A. Undergraduate medical education. Students' perspective and medical school policy. Presse Med. 2000;29:1654-1657.
8.
Siebert G. Benchmarking - Leitfaden für die Praxis. München: Hanser Verlag; 2002.
9.
Nissen R. Helle Blätter-dunkle Blätter Erinnerungen eines Chirurgen. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt GmbH; 1969.