gms | German Medical Science

GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Förderung von Diagnosekompetenz in der medizinischen Ausbildung durch Implementation eines Ansatzes zum fallbasierten Lernen aus Lösungsbeispielen

Fostering diagnostic competencies in medical education by implementing the approach of case-based learning through worked-out examples

Projekt Humanmedizin

Suche in Medline nach

  • corresponding author Veronika Kopp - Ludwig-Maximilians-Universität München, Medizinische Fakultät, Schwerpunkt Medizindidaktik, Klinikum der Universität München, Medizinische Klinik - Innenstadt, München, Deutschland
  • author Robin Stark - Universität des Saarlandes, Fakultät für Empirische Humanwissenschaften, Fachrichtung Erziehungswissenschaft, Saarbrücken, Deutschland
  • author Martin R. Fischer - Ludwig-Maximilians-Universität München, Medizinische Fakultät, Schwerpunkt Medizindidaktik, Klinikum der Universität München, Medizinische Klinik - Innenstadt, München, Deutschland

GMS Z Med Ausbild 2007;24(2):Doc107

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/zma/2007-24/zma000401.shtml

Eingereicht: 8. Januar 2007
Veröffentlicht: 23. Mai 2007

© 2007 Kopp et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Die fünfthäufigste Todesursache in den USA sind medizinische Fehler. Darunter fallen auch Fehler beim Diagnostizieren. Die richtige Diagnose stellen zu können ist eine wichtige Voraussetzung für die optimale medizinische Versorgung der Patienten und zentrale Kompetenz eines jeden Arztes. Studierende und angehende Ärzte haben jedoch erfahrungsgemäß erhebliche Schwierigkeiten, die richtige Diagnose zu generieren.

In diesem Artikel soll mit dem fallbasierten Lernen aus Lösungsbeispielen ein Instruktionsansatz vorgestellt werden, mit dem diesem Problem begegnet werden kann. Zuvor werden die Unterschiede zwischen Experten und Novizen in der Medizin erläutert und erklärt, welche Prozesse zur Entwicklung von Expertise führen. Im letzten Kapitel wird auf Möglichkeiten der Operationalisierung von Diagnosekompetenz eingegangen, die auf diesen Ansatz abgestimmt sind.

Schlüsselwörter: beispielbasiertes Lernen, ausgearbeitete Lösungsbeispiele, Diagnosekompetenz, Lernen aus Fehlern, Prozessorientierung

Abstract

Medical Errors are the fifth leading cause of death in the United States. Among these are also diagnostic errors. An important precondition for an optimal health care for the patient is the right diagnosis. Diagnosing is a fundamental competence for every physician. However, students and attending physicians have enormous difficulties ascertaining the right diagnosis.

This article presents the instructional approach of case-based learning through worked-out examples which holds promise to face this problem. Before that, we explain the differences between experts and novices in medicine and introduce the processes which lead to the development of expertise. In the last section, we discuss ways how to operationalize diagnostic competence that are in line with the introduced approach.

Keywords: example based learning, worked-out examples, diagnostic competence, learning from errors, process-oriented learning


Einleitung

In vielen Domänen zeigt sich immer wieder das aus pädagogisch-psychologischer Sicht enttäuschende Phänomen, dass Wissen, das in einem bestimmten Kontext erworben wurde, in einem anderen, mehr oder weniger entfernten Kontext nicht erfolgreich angewandt werden kann [1]. Dieses Problem, das als Problem des "trägen Wissens" [2] bezeichnet wird, zeigt sich auch in der Medizin. So konnten Gräsel und Mandl [3] zeigen, dass der Großteil der Studierenden zu Beginn des klinischen Studienabschnitts bei der Diagnosefindung auf reines "Datensammeln" verfiel, d.h. die Befunde des Patienten wurden ohne Bezug zu Hypothesen erhoben, nicht miteinander verbunden und auch nicht zu möglichen Diagnosen in Beziehung gesetzt. Viele Studierende waren nicht in der Lage, Hypothesen zu generieren, diese auf der Basis der erhobenen Befunde zu bewerten und damit zur richtigen Diagnose zu gelangen. Die Studierenden hatten also noch nicht den dafür nötigen Expertisegrad erreicht. Inwiefern ein Ansatz zum fallbasierten Lernen aus Lösungsbeispielen geeignet ist, die Diagnosekompetenz und damit die Expertise der Studierenden zu fördern, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen.

Dabei wird nach der Vorstellung einer Definition des Expertisebegriffs zuerst die Frage beantwortet, wie man Experte in einer Domäne wird bzw. welche Prozesse bis dahin durchlaufen werden müssen. Anschließend wird der Ansatz zum fallbasierten Lernen aus Lösungsbeispielen vorgestellt und diskutiert, welche Potenziale dieser Ansatz für die Medizinerausbildung birgt. Am Ende wird ein Vorschlag zur Operationalisierung von Diagnosekompetenz gemacht.


Expertise

In der heute am meisten verbreiteten Definition [4] wird ein Experte als Person bezeichnet, die auf einem bestimmten Gebiet dauerhaft, also nicht zufällig und nicht nur ein einziges Mal, herausragende Leistungen erbringt. Seit Jahrzehnten wird hauptsächlich in der Psychologie, aber auch in anderen Bereichen, versucht, dem Phänomen "Expertise" auf die Spur zu kommen. Eine der wichtigsten Fragen, die dabei gestellt werden, ist die Frage, wie man zu einem Experten auf einem bestimmten Gebiet wird [5].

Im Folgenden stellen wir die Ansätze aus der Expertiseforschung dar, die diese Frage für die Domäne "Medizin" – insbesondere für die Diagnosekompetenz – am besten beantworten.

Nach Patel und Groen [6] werden allgemein vier Stufen auf dem Weg zum Experten durchlaufen: vom Novizen bzw. Anfänger über die Stufe des Intermediates und generischen Experten hin zum Experten. Übertragen auf die Medizin bedeutet dies, dass die Wissensbasis von Novizen durch geringes biomedizinisches1 und noch geringeres klinisches Wissen2 gekennzeichnet ist [7], [8]. Sehen sich Novizen einem Patientenfall gegenüber, können sie lediglich auf ihre begrenzte Wissensbasis zurück greifen und versuchen, verschiedene biomedizinische Konzepte zu aktivieren, um Erklärungen für die gegebenen Symptome zu finden, denn ihr Wissen ist in kausalen, propositionalen Netzwerken organisiert. Mit zunehmender Expertise, also auf der Stufe des Intermediates, wird dieses Wissen in einfachere Netzwerke kompiliert, es wird enkapsuliert [9]. Generische Experten verfügen bereits über domänenspezifische Schemata oder sog. Illness Scripts [10], die in der höchsten Expertisestufe durch fallbasierte Instance Scripts [11] angereichert werden. Auf dem Weg zum Experten wird das Wissen also mehrmals restrukturiert. Die wichtigsten Prozesse dabei sind die Wissensenkapsulierung und die Bildung von Illness Scripts.

Wissensenkapsulierung: Durch die wiederholte Anwendung biomedizinischer Konzepte beim Diagnostizieren wird biomedizinisches Wissen mit einer begrenzten Anzahl klinisch relevanter Konzepte verknüpft; es wird enkapsuliert. Enkapsulierte Konzepte fassen somit ganze deklarative Netzwerke in erster Linie biomedizinischer Konzepte zusammen. In der Regel sind Enkapsulierungen diagnostisch relevante Konzepte höheren Niveaus oder vereinfachte kausale Modelle, die Symptome erklären [9]. Diese enkapsulierten klinischen Konzepte, die als domänenspezifische Schemata oder Skripts beschrieben werden können, haben das gleiche Erklärungspotential wie elaborierte biomedizinische Konzepte [12], sind jedoch ökonomischer und v.a. praktikabler [9].

Illness Scripts: Illness Scripts sind Wissensstrukturen, die eine Fülle an Informationen über eine Krankheit beinhalten. Dazu gehören die Symptome der Krankheit, ihre Risikofaktoren, die Umstände, unter denen sich die Krankheit entwickeln kann und ihre Folgen. Den Illness Scripts liegen, je nach Expertisegrad, mehr oder weniger enkapsulierte Konzepte zugrunde. Mit zunehmender Erfahrung werden Illness Scripts mit den Informationen von behandelten Patientenfällen angereichert und in narrative Strukturen umgewandelt, den sog. Instance Scripts. "Diese narrativen Strukturen können im Sinne episodischer Erinnerungen an tatsächliche Patienten bei der Diagnose neuer Fälle ausgenutzt werden" [5].

Das Aktivieren enkapsulierter Konzepte, die mit fallbasierten Illness Scripts angereichert sind, ist ein dynamischer Prozess, der stattfindet, während die klinische Fallinformation aufgenommen wird [12]. Informationen über Symptome aktivieren somit spezifische enkapsulierte Konzepte. Dadurch werden ressourcenschonende Automatisierungen und "Abkürzungen" im Diagnoseprozess möglich [13]. Da das biomedizinische Wissen nicht verloren, sondern in enkapsulierte Konzepte eingebettet ist, können Experten in einem schwierigen Fall jederzeit zu einem nicht-automatisierten Diagnoseprozess unter Heranziehung biomedizinischen Wissens zurückkehren [14].

Ein effektiver Diagnoseprozess kann folgendermaßen beschrieben werden [15], [16]: Schon beim ersten Patientenkontakt während der Anamnese generiert der Arzt eine oder mehrere Hypothesen. Die Hypothesengenerierung wird durch Hinweise ausgelöst, wie beispielsweise wahrgenommene Symptome. Im Verlauf des Diagnoseprozesses dienen diese Hypothesen als Kontext für die weitere Anamnese und die Befunderhebung [15]. Aufbauend auf diesen Hypothesen werden dem Patienten gezielt Fragen gestellt und Befunde erhoben, um auf der Basis der ersten Ergebnisse weitere Schlussfolgerungen ziehen zu können. Sprechen die Daten für die Hypothese, wird sie verfeinert, sprechen sie dagegen, wird sie verworfen. Bei dieser Hypothesenprüfung gleicht der Arzt die Symptome des Patienten mit seiner Repräsentation der Krankheit ab, die er beim Patienten vermutet (Matching) [16]. Das Überprüfen, Verfeinern, Ausschließen und ggf. Neugenerieren von Hypothesen und Einholen weiterer Daten und Befunde wird solange fortgesetzt, bis eine Diagnose gefunden ist. Biomedizinisches Wissen spielt dabei nur eine indirekte Rolle [7].

Um biomedizinisches Wissen reorganisieren, enkapsulieren und um Illness Scripts aufbauen zu können, bedarf es des häufigen Umgangs mit Fällen. Dass der frühe und häufige Einsatz von Fällen wichtig für den Erwerb anwendbaren Wissens ist, zeigten Studien zum fallbasierten und problemorientierten Lernen [17], [3], [18].

Um anwendbares Wissen zu fördern und somit träges Wissen zu vermeiden, wird der Einsatz von Fällen und ausgearbeiteten Lösungsbeispielen empfohlen. Während fallbasiertes Lernen vermehrt Eingang in Curricula gefunden hat, ist ein lösungsbeispielbasierter Ansatz hierfür noch nicht "entdeckt" worden. Inwiefern Lösungsbeispiele zur Förderung der Diagnosekompetenz beitragen könnten und warum, wird im nächsten Kapitel beschrieben.


Fallbasiertes Lernen aus Lösungsbeispielen

Ausgearbeitete Lösungsbeispiele setzen sich aus zwei Teilen zusammen: der Aufgabenstellung und einer (mehr oder weniger) detaillierten Darstellung des Lösungswegs. Beim Lernen aus Lösungsbeispielen studieren Lernende Aufgaben, deren Lösungsschritte ihnen im Anschluss in mehr oder weniger ausgearbeiteter Form präsentiert werden. Die Aufgaben können, wie im hier dargestellten Ansatz, auch in Form von authentischen Fallinformationen vorgegeben werden (fallbasiertes Lernen aus Lösungsbeispielen). In der Regel werden Lösungsbeispiele in Kombination mit Lehrtexten eingesetzt, in denen relevante domänenspezifische Konzepte und Prinzipien vorab definiert und erklärt werden.

Sowohl die Effektivität als auch die Effizienz ausgearbeiteter Lösungsbeispiele beim initialen Lernen ist für verschiedene wohlstrukturierte Inhaltsgebiete (z.B. Mathematik, Informatik und Physik) hinreichend belegt [19], [20], [21], [22], [1]. Insbesondere für den Schemaerwerb, der ein zentraler Bestandteil von Wissensenkapsulierungsprozessen und auch von Prozessen der Generierung von Illness Scripts darstellt, hat sich der instruktionale Einsatz ausgearbeiteter Lösungsbeispiele bewährt (u. a. [23], [24]). Diese Effekte werden nur dann erzielt, wenn auf Seiten der Lernenden Matchingprozesse angeregt werden, die die Schemainduktion unterstützen; deshalb ist es notwendig, instruktional mit Sequenzen gut ausgewählter und systematisch aufeinander abgestimmter Lösungsbeispiele zu operieren [25], [22].

Die Effektivität lösungsbeispielbasierten Lernens kann u. a. mit der Cognitive-Load-Theorie [26] erklärt werden. Im Vergleich zu Problemlöseaufgaben schonen Lösungsbeispiele unter sonst gleichen Bedingungen kognitive Ressourcen und ermöglichen zudem eine lernwirksame Fokussierung der Aufmerksamkeit auf problemlöserelevante Aufgabenaspekte [27]. Dadurch werden sowohl Schemaerwerb als auch Regelautomatisierung gefördert, was wiederum erfolgreiche Wissensanwendung und Transfer ermöglicht [28], [24].

In weniger strukturierten, komplexeren Domänen, zu denen verschiedene Teilgebiete der Medizin zu rechnen sind, wurde die Effektivität beispielbasierten Lernens bisher noch nicht untersucht. Aber gerade in komplexeren Domänen ist der Aufbau differenzierter und elaborierter Schemata eine notwendige Voraussetzung für Enkapsulierungsprozesse und die Entwicklung von Illness Scripts.

Bereits in wohl strukturierten Domänen waren ausgearbeitete Lösungsbeispiele jedoch nicht per se anderen Lernmethoden überlegen. Entscheidend für die Wirksamkeit dieser Lernmethode ist die Qualität der Beispielelaboration [22], die auch als Indikator für Schemainduktion herangezogen werden kann. Es konnte mehrfach gezeigt werden, dass viele Lernende Lösungsbeispiele spontan zu passiv und oberflächlich elaborieren [29], [22] und damit das Potenzial der Lernmethode nicht ausschöpfen. Diesem Problem kann durch Einsatz zusätzlicher Maßnahmen erfolgreich begegnet werden [22], [30]:

Als besonders ökonomische Vorgehensweisen haben sich die systematische Kombination von ausgearbeiteten Lösungsbeispielen und Problemlöseaufgaben [31] oder die Vorgabe unvollständiger, von den Lernenden zu vervollständigender Lösungsschritte [22] erwiesen. Mit beiden Maßnahmen wird nachweislich die Qualität der Beispielelaboration gefördert, die wiederum einen positiven Einfluss auf den Lern- und Problemlöseerfolg im Allgemeinen und auf Schemainduktion im Besonderen hat [22]. Das selbstständige Bearbeiten einzelner Lösungsschritte oder kompletter Problemlöseaufgaben unterstützt Aktivität und Selbststeuerung der Lernenden und dient als Korrektiv für sog. Verstehensillusionen; nachfolgend bereitgestellte Musterlösungen oder analoge, vollständig ausgearbeitete Lösungsbeispiele fungieren als elaborierte Feedbackmaßnahme, die der Korrektur von Fehlern dienen und etwaige Wissenslücken kompensieren kann [31], [32].

In wohl strukturierten Domänen, in denen Problemstellungen sehr überschaubar und auf wenige Lösungsschritte begrenzt bleiben, lassen sich mit den beschriebenen Maßnahmen substanzielle Effekte erzielen. Es ist jedoch anzunehmen, dass in komplexeren Domänen, zu denen die Diagnostik in der Medizin gerechnet werden muss, weiter gehende Maßnahmen angezeigt sind, um die Effektivität beispielbasierten Lernens sicherzustellen bzw. zu fördern. Eine viel versprechende, jedoch noch kaum untersuchte Maßnahme besteht in der Intensivierung des Problemlösefokus durch Verstärkung der Prozessorientierung. Van Gog, Paas und Van Merrienboer [33] realisierten eine prozessorientierte Herangehensweise durch Präsentation von Hintergrundinformationen und durch Erklären von lösungsrelevanten Sachverhalten und Operatoranwendungen. Durch diese zusätzlichen Informationen, die eine spezielle Form der von Renkl [20], [34] eingesetzten instruktionalen Erklärungen darstellen (vgl. [35]), werden auch komplexere Problemlöseschritte nachvollziehbar, was insbesondere bei vorwissensschwächeren Lernenden der Schemainduktion und damit der Wissensanwendung im Allgemeinen und der Transferleistung im Besonderen zugute kommen könnte. Dies dürfte insbesondere dann der Fall sein, wenn nicht wie bei Van Gog et al. [33] nur die im Problemlöseprozess getroffenen Entscheidungen erklärt werden, sondern darüber hinaus auch noch eine Verortung dieser Entscheidungen im gesamten Lösungsprozess veranschaulicht wird, beispielsweise durch Vorgabe eines Entscheidungsbaumes; ein solcher verdeutlicht auch alternative Vorgehensweisen, die unter anderen Voraussetzungen zu wählen wären. Es ist anzunehmen, dass diese Anreicherung von Lösungsbeispielen mit verstehensrelevanten Hintergrundinformationen Wissensenkapsulierungsprozessen zugute kommt.

Die Kombination von Lösungsbeispielen mit authentischer Fallinformation sowie die Anreicherung der Lösungsschritte mit mehr oder weniger ausführlichen Informationen zum Problemlöseprozess bietet auch eine geeignete Möglichkeit, über fehlerhafte Diagnoseschritte bzw. Entscheidungen zu informieren. Aufgrund der weit reichenden Konsequenzen, die aus Fehlern im medizinischen Diagnoseprozess resultieren können [36], ist es entscheidend, dass ein angehender Arzt auch die Konsequenzen seines Handelns bzw. seines unterlassenen Handelns richtig einschätzen kann. Oser, Hascher und Spychiger [37] führen in diesem Zusammenhang das Beispiel eines Chirurgen an, der weiß, was er nicht tun darf, um den Patienten nicht zu gefährden und bezeichnet dieses Wissen als "Negatives Wissen". Mit Oser et al. [37] kann davon ausgegangen werden, dass jeder Fehler Lernpotential beinhaltet.

Fehler beim Diagnostizieren können in verschiedene Fehlertypen eingeteilt werden. Graber, Gordon und Franklin [38] unterscheiden zwischen "no-fault errors", "system errors" und "cognitive errors". "No-fault errors" sind Diagnosefehler, die zwar gemacht wurden, bei denen den diagnostizierenden Arzt jedoch keine Schuld trifft, da die Krankheit entweder unbemerkt verlief, sich untypisch präsentierte oder in ihren Symptomen einer viel gängigeren Krankheit ähnelte. Als "system errors" werden Fehler bezeichnet, die durch den Ablauf im Gesundheitssystem entstehen. "Cognitive errors" schließlich sind Fehler, die beim Prozess des Diagnostizierens im Kopf des Arztes entstehen. Diese Art von Fehlern, die bei der Erfassung von Diagnosekompetenz fokussiert wird, kann erklärt werden durch unzureichendes bzw. fehlerhaftes Wissen, mangelnde bzw. fehlerhafte Datenerhebung, Fehler bei der Interpretation der Daten und metakognitive Fehler.

Damit Fehler produktiv sind und letztlich zu einer Verhaltensänderung im Sinne der Fehlervermeidung führen, bedarf es eines konstruktiven Umgangs mit ihnen. Der Lernende muss den Fehler gezielt als Lernanlass nutzen. Dazu muss der Fehler erkannt, die richtige Lösung nachvollzogen und diese in einem Vergleich zwischen Fehler und richtiger Lösung verstanden werden. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig beim Lernen aus Fehlern die Rolle des Feedbacks ist. Dieses sollte möglichst unmittelbar gegeben werden und so elaboriert sein [32], dass der Lernende versteht, warum genau der vorgeschlagene Diagnoseschritt bzw. die daraus abgeleiteten Konsequenzen fehlerhaft oder falsch sind. Erst der nachvollzogene Fehler, der zu Negativem Wissen geworden ist, befähigt den Lernenden, beim nächsten Mal Fehlerhaftes leichter zu erkennen. Zudem bleibt der Fehler im episodischen Gedächtnis und wirkt dort als Korrektiv für ein ähnliches Problem; an dieser Stelle wird die Schutzfunktion des Negativen Wissens deutlich. Es ist anzunehmen, dass der fall- und beispielbasierte Erwerb negativen Wissens eine Basis für die spätere Entwicklung entsprechender "negativer" Illness Scripts bildet, die ein wichtiges Korrektiv für Diagnosefehler darstellen dürften.


Operationalisierung von Diagnosekompetenz

Abgeleitet aus dem oben beschriebenen effektiven Diagnoseprozess und aus der Fehlertaxonomie zeichnen sich Experten im Vergleich zu Novizen und Intermediates vor allem durch das Erkennen der richtigen Diagnose und das schnellere Lösen von Routinefällen bzw. die Identifikation fehlerhafter Diagnoseschritte und falscher Diagnosen aus. Intermediates und unerfahrene Ärzte brauchen länger, um eine diagnostische Hypothese zu generieren und Informationen zu sammeln; zudem sind sie sich in ihrer Diagnose weniger sicher und machen häufiger Fehler [39]. Vor dem Hintergrund dieser Befunde umfasst das hier verwendete Konzept Diagnosekompetenz nicht nur das Produkt, also die richtige Diagnose, sondern auch den Prozess, in dem der Frühzeitigkeit und Qualität der auf der Basis unvollständiger Daten aufgestellten Arbeitsdiagnose eine zentrale Bedeutung zukommt.

Zur Erhebung der Diagnosekompetenz kann der Key-Feature-Ansatz herangezogen werden [40], [41], [42], [43]. Key-Features zielen auf kritische Entscheidungen bei der Auseinandersetzung mit einem Patientenfall ab, die getroffen werden müssen, um ein klinisches Problem zu lösen. In der Regel beziehen sich die Fragen zur klinischen Situation auf die Differentialdiagnosen, auf die diagnostischen Untersuchungen, die zur weiteren Abklärung der Diagnose nötig sind, und auf das Management und die therapeutischen Entscheidungen. Damit kann sowohl das Produkt, also die richtige Diagnose, als auch der Prozess, die Qualität der Arbeitsdiagnose, operationalisiert werden.

Eine weitere Möglichkeit der Operationalisierung besteht in der Vorgabe von Patientenfällen in Kombination mit unvollständigen Lösungsbeispielen. Bei diesen Lösungsbeispielen sind nicht alle Lösungsschritte ausgearbeitet und müssen von den Lernenden vervollständigt werden. Im Gegensatz zu Key-Feature-Fällen besteht bei der Vorgabe unvollständiger Lösungsbeispiele die Möglichkeit, die Schlussfolgerungen, die Studierende gezogen haben und die sich in der Arbeitsdiagnose oder in weiteren Schritten zur Abklärung der Krankheit niederschlagen, erklären zu lassen. Bei der Auswertung der Antworten sollte berücksichtigt werden, inwiefern Studierende bereits klinisch argumentieren bzw. inwiefern sie pathophysiologische Prozesse zur Erklärung heranziehen. Dies wäre möglicherweise auch ein Ansatz, den Grad der Wissensenkapsulierung zu messen.


Ausblick

Die Effektivität des dargestellten Ansatzes zum fallbasierten Lernen aus Lösungsbeispielen wird zurzeit im Rahmen einer experimentellen Studie systematisch untersucht. Hierbei kommen auch die verschiedenen Operationalisierungen von Diagnosekompetenz zum ersten Mal zum Einsatz und werden in Hinblick auf Brauchbarkeit und Erfüllung testtheoretischer Gütekriterien analysiert werden.


Anmerkung

1 Biomedizinisches Wissen ist Wissen um pathophysiologische Prozesse, die einer manifesten Krankheit zugrunde liegen [13].

2 Klinisches Wissen ist Wissen darüber, wie sich Krankheiten bei Patienten manifestieren können [13].


Förderung

Das Projekt "Förderung diagnostischer Kompetenz durch beispielbasiertes Lernen: Einfluss von Prozessorientierung und Fehler" wird von der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) gefördert (FK: FI 720/2-1; STA 596/3-1).


Literatur

1.
Stark R. Analyse und Förderung beispielbasierten Lernens - Anwendung eines integrativen Forschungsparadigmas. München: Ludwig-Maximilians-Universität. 2001: Unveröffentlichte Habilitationsschrift.
2.
Whitehead AN. The aims of education. New York: Macmillan; 1929.
3.
Gräsel C, Mandl H. Förderung des Erwerbs diagnostischer Strategien in fallbasierten Lernumgebungen. Unter Wiss. 1993;21:355-370.
4.
Posner MI. Introduction: What it is to be an expert? In Chi MTH, Glaser R, Farr MJ. The nature of expertise. New York: Springer. 1988:191-203.
5.
Gruber H. Mustererkennung und Erfahrungswissen. In Fischer MR, Bartens W. Zwischen Erfahrung und Beweis. Bern: Hans Huber. 1999:25-52.
6.
Patel VL, Groen GJ. The general and specific nature of medical expertise: A critical look. In Ericsson KA, Smith J. Toward a general theory of expertise. Cambridge: Cambridge University Press. 1991:93-125.
7.
Boshuizen HP, Schmidt HG. The role of biomedical knowledge in clinical reasoning by experts, intermediates and novices. Cog Scie. 1992;16:153-184.
8.
Schmidt HG, Boshuizen HP. On the origin of intermediate effects in clinical case recall. Mem Cognit. 1993;21(3):338-351.
9.
Boshuizen HP, Schmidt HG, Custer EJ, van de Wiel MW. Knowledge development and restructuring in the domain of medicine: the role of theory and practice. Learn Instruc. 1995;5:269-289.
10.
Charlin B, Tardif J, Boshuizen HP. Scripts and medical diagnostic knowledge: theory and applications for clinical reasoning instruction and research. Acad Med. 2000;75(2):182-190.
11.
Gruber H. Expertise. In Rost DH. Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 1998:126-129.
12.
Rikers RM, Schmidt HG, Boshuizen HP. Knowledge Encapsulation and the Intermediate Effect. Contemp Educ Psychol. 2000;25(2):150-166.
13.
Rikers RM, Loyens SM, Schmidt HG. The role of encapsulated knowledge in clinical case representations of medical students and family doctors. Med Educ. 2004;38(10):1035-1043.
14.
Verkoeijen PP, Rikers RM, Schmidt HG, van de Wiel MW, Kooman JP. Case representation by medical experts, intermediates and novices for laboratory data presented with or without a clinical context. Med Educ. 2004;38(6):617-627.
15.
Kassirer JP, Kopelman RI. Learning Clinical Reasoning. Baltimore: Williams & Wilkins; 1991.
16.
Sox HC, Blatt MA, Higgins MC, Marton KI. Medical Decision Making. Boston: Butterworth-Heinemann; 1988.
17.
Dochy F, Segers M, Van den Bossche P, Gijbels D. Effects of problem-based learning: a meta-analysis. Learn Instruc. 2003;13:533-568.
18.
Hmelo-Silver CE. Problem-Based Learning: What and How Do Students Learn?. Educ Psychol Rev. 2004;16(3):235-266.
19.
Reimann P. Lernprozesse beim Wissenserwerb aus Beispielen. Bern: Huber; 1997.
20.
Renkl A. Explorative Analysen zur effektiven Nutzung von instruktionalen Erklärungen beim Lernen aus Lösungsbeispielen. Unter Wiss. 2001;29:41-63.
21.
Renkl A, Atkinson RK. Cognitive skill acquisition: Ordering instructional events in example-based learning. In: Ritter FE, Nerb J, Lehtinen E, O'Shea T. In order to learn: How ordering effect in machine learning illuminate human learning and vice versa. Oxford: Oxford University Press; in Druck.
22.
Stark R. Lernen mit Lösungsbeispielen. Einfluß unvollständiger Lösungsbeispiele auf Beispielelaboration, Lernerfolg und Motivation. Göttingen: Hogrefe; 1999.
23.
Atkinson RK, Derry SJ, Renkl A, Wortham DW. Learning from examples: Instructional principles from the worked examples research. Rev Educ Res. 2000;70:181-214.
24.
Sweller J, van Merrienboer JJG, Paas FGWC. Cognitive architecture and instructional design. Educ Psychol Rev. 1998;10:251-296.
25.
Ahn W, Brewer WF, Mooney RJ. Schema acquisition from a single example. J Exp Psychol Learn Mem Cogn. 1992;18(2):391-412.
26.
Sweller J. Cognitive load during problem solving: Effects on learning. Cog Scie. 1988;12:257-285.
27.
Sweller J, Chandler P, Tierney P, Cooper M. Cognitive load and selective attention as factors in the structuring of technical material. J Exp Psychol Gen. 1990;119:176-92.
28.
Renkl A, Gruber H, Weber S, Lerche T, Schweizer K. Cognitive Load beim Lernen aus Lösungsbeispielen. Z Padag Psychol. 2003;17:93-101.
29.
Renkl A. Learning from worked-out examples: A study on individual differences. Cog Scie. 1997;21:1-29.
30.
Stark R, Gruber H, Hinkofer L, Mandl H. Overcoming problems of knowledge application and transfer. Development, implementation and evaluation of an example-based instructional approach in the context of vocational school training in business administration. In: Boshuizen HP, Bromme R, Gruber H. Professional Learning: Gaps and transitions on the way from novice to expert. Dordrecht: Kluwer. 2004:49-70.
31.
Stark R, Gruber H, Renkl A, Mandl H. Instruktionale Effekte einer kombinierten Lernmethode: Zahlt sich die Kombination von Lösungsbeispielen und Problemlöseaufgaben aus? Z Pädag Psychol. 2000;14:205-217.
32.
Krause UM. Wissenserwerb mit einer problemorientierten, beispielbasierten Lernumgebung: Effekte von Feedback und kooperativem Lernen. Münster: Waxmann; in Druck.
33.
Van Gog T, Paas F, van Merrienboer JJ. Process-oriented worked examples: Improving transfer performance through enhanced understanding. Instruc Scie. 2004;32:83-98.
34.
Renkl A. Learning from worked-out examples: Instructional explanations supplement self-explanations. Learn Instruc. 2002;12:529-556.
35.
Stark R. Eine integrative Forschungsstrategie zur anwendungsbezogenen Generierung relevanten wissenschaftlichen Wissens in der Lehr-Lern-Forschung. Unter Wiss. 2004;32:257-273.
36.
All-Assaf AF, Bumpus LJ, Carter D, Dixon SB. Preventing Errors in Healthcare: A Call for Action. Hosp Top. 2003;81:5-12.
37.
Oser F, Hascher T, Spychiger M. Lernen aus Fehlern. Zur Psychologie des "negativen" Wissens. In: Althof W. Fehlerwelten: vom Fehlermachen und Lernen aus Fehlern. Beiträge und Nachträge zu einem interdisziplinären Symposium aus Anlaß des 60. Geburtstags von Fritz Oser. Opladen: Leske + Budrich. 1999:11-42.
38.
Graber M, Gordon R, Franklin N. Reducing Diagnostic Errors in Medicine: What's the Goal? Acad Med. 2002;77(10):981-992.
39.
Custers EJFM. The development and function of illness scripts; studies on the structure of medical diagnostic knowledge. Maastricht: Datawyse; 1995.
40.
Bordage G, Brailovsky C, Carretier H, Page G. Content validation of key features on a national examination of clinical decision-making skills. Acad Med. 1995;70(4):276-281.
41.
Page G, Bordage G. The medical council of Canada's key features project: a more valid written examination of clinical decision-making skills. Acad Med. 1995;70(2):104-110.
42.
Page G, Bordage G, Allen T. Developing key-feature problems and examinations to assess clinical decision-making skills. Acad Med. 1995;70(3):194-201.
43.
Kopp V, Möltner A, Fischer MR. Key-Feature-Probleme zum Prüfen von prozeduralem Wissen: Ein Praxisleitfaden. GMS Z Med Ausbild. 2006;23(3):Doc.50.