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22. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Audiologie

Deutsche Gesellschaft für Audiologie e. V.

06.03. - 09.03.2019, Heidelberg

Automatisierte Abschätzung der Hörschwelle und Wachstumsfunktion früher akustisch evozierter Hirnstammpotentiale (BERA) mittels künstlicher Intelligenz

Meeting Abstract

  • presenting/speaker Saskia Mathieu - Universitätsklinikum des Saarlandes, HNO Heilkunde, Homburg, Deutschland
  • Paul Yemen - Universitätsklinikum des Saarlandes, HNO Heilkunde, Homburg, Deutschland
  • Maximilian Linxweiler - Universitätsklinikum des Saarlandes, HNO Heilkunde, Homburg, Deutschland
  • Bernhard Schick - Universitätsklinikum des Saarlandes, HNO Heilkunde, Homburg, Deutschland
  • Achim Langbucher - Universitätsklinikum des Saarlandes, Klinik für Augenheilkunde, Homburg, Deutschland
  • Patrick Metzler - Hochschhule RheinMain, Wiesbaden, Deutschland
  • Dietmar Hecker - Universität des Saarlandes, HNO Heilkunde Uniklinikum Homburg, Homburg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Audiologie e.V.. 22. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Audiologie. Heidelberg, 06.-09.03.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc036

doi: 10.3205/19dga036, urn:nbn:de:0183-19dga0362

Published: November 28, 2019

© 2019 Mathieu et al.
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Text

Einleitung: Störungen in der Hörwahrnehmung und in deren Verarbeitung bedeuten ein schwerwiegendes Hindernis für die Integration in unsere Gesellschaft und führen letztendlich zur Abgrenzung des Individuums von der Gesellschaft. Laut statistischen Bundesamtes besitzen etwa 4,5 % der Deutschen Bevölkerung (= 3,3 Mio.) ein so schlechtes Hörvermögen, dass ein Hörgerät vom HNO-Arzt verordnet wird. In gleicher Höhe bewegen sich auch die Fallzahlen von Menschen mit Ohrgeräuschen (= Tinnitus) in der BRD. 800.000 von ihnen sind dabei so stark belastet, dass sie einer intensiven medizinischen Betreuung bedürfen (Angaben laut Tinnitus-Liga e.V.). Auch Kinder mit einem Aufmerksamkeitsdefizit Syndrom (ADS) haben oftmals ein normvariantes peripheres Hören, obwohl die Wahrnehmung von Geräuschen so stark eingeschränkt ist, dass sie ein über 8fach erhöhtes Risiko besitzen, krankenhauspflichtig im Straßenverkehr zu verunfallen [1](Grützmacher 2001). Zur Erkennung von Hörstörungen werden in der Regel subjektive Testverfahren angewandt.

Soll das Hörvermögen objektiv und frequenzspezifisch abgeschätzt werden, so ist derzeit diese Abschätzung nur bis 4 kHz möglich. Entsprechend eingeschränkt ist demnach auch die Einstellung von Hörgeräten bei Kleinkindern (Hörgerät verstärkt bis 10 kHz). Werden neben der Hörschwelle auch Fragestellungen zur festgestellten Wellenmorphologie der Hörnervantwort gestellt, so ist es aktuell nicht möglich dies objektiv zu quantifizieren, obwohl Hinweise auf veränderte Muster bei Tinnitus (Schaette et al. 2011) und ADS (Pirone et al. 2014) vorliegen.

Aktuell wird die Hörschwelle aus den Ableitungen früher, akustisch ausgelöster Hirnstammpotentiale (BERA) immer noch visuell über einen erfahrenen Facharzt bzw. Audiologen durchgeführt. Im Forschungsbereich werden zwar schon System entwickelt, deren Algorithmus die Welle V schwellennah nachweisen kann (Corona-Strauss, Hecker et al. 2007, Strauss et al. 2004), aber weitere Aussagen über Wachstumsfunktionen und Wellenmorphologie sind derzeit nicht möglich. Ein anderer Ansatz von Mustaffa et al. 2010 basiert auf der Anwendung von nicht linearen Diffusionsfiltern zur Steigerung der Phasenqualität in akustisch evozierten Potentialen. Nun kann aber gerade dieser Phasenjitter Ausdruck eines pathologischen Zustands sein (Hecker et al. 2019).

Nach einer euphorischen Anfangsphase in den 50er und 60er Jahren, war das Interesse am Forschungsgebiet der Künstlichen Intelligenz (KI) sehr verhalten und flammte erst in den letzten 15 Jahren wieder auf. Heutzutage domminieren sie in vielen Bereichen und erleben derzeit eine enorme Attraktivität (Bundesanzeiger vom 23.11.2018, Hecker et al. 2017, Metzler et al. 2017).

Material/Methoden: Ausgehend von vorhandenen BERA Daten in Singlesweeparchitektur aus Hörmessungen im Tiermodell, bei positivem Tierversuchsantrag, wurde das BERA-Signal synthetisiert und mittels zufälligem Rauschens so überlagert, dass definierte Signal-Rauschverhältnisse (SNR) bestimmt werden konnten. Das so erzeugte Signal wurde mit einem SNR von 0 dB bis – 70 dB, in 17 Unterteilungen erzeugt. Weiterhin wurde ein stochastischer Phasenjitter von max. +/- 250 µs bei einem Mittelwert von 0 µs implementiert.

Auf Grundlage eines Top-Down-Prozesses wurde der KI Algorithmus an den Singlesweeps trainiert, um evozierte Potentiale vom Rauschen zu unterscheiden. Mittels Nullhypothese: kein Reizmuster vorhanden bzw. Alternativhypothese: Reizmuster vorhanden wurde eine Konfusionsmatrix aufgestellt und mittels des KI Algorithmus eine CCR Funktion (Correct Classification Rate) in Abhängigkeit des Reizpegels bestimmt.

An 10 hörenden Mäusen wurden visuell die BERA-Hörschwelle und das Amplitudenwachstum ermittelt. Als pathologische Kontrollgruppe diente ein transgener Mausstamm, bei denen die Funktion der inneren Haarzelle ausgeschaltet war.

Ergebnisse: Der KI Algorithmus erfasst die Hörschwelle bei den Mäusen sehr gut und die Abweichungen gegenüber der visuellen Auswertung lag im maximalen Bereich von +/- 5 dB. Mäuse ohne erkennbare Hörschwelle wurden auch vom KI Algorithmus als nicht-hörend klassifiziert. Darüber hinaus wurden mit dem KI Algorithmus Amplitudenunterschiede gegenüber der visuellen Auswertung deutlich sichtbarer. Im Weiteren konnte aus den simulierten Daten bis zu einem SNR von -55 dB Merkmale über den KI-Algorithmus sicher voneinander getrennt werden.

Die CCR-Funktion verläuft ab der erkannten Hörschwelle zuerst steil an und kommt im oberen Reizpegelbereich (ab etwa 30 dB über SL) in die Sättigung. Die visuell ausgewertete Wachstumsfunktion besitzt ebenfalls zuerst einen steilen Anstieg und kommt bei lauten Reizpegeln ebenfalls in die Sättigung.

Die Gegenüberstellung der synthetischen Daten mit Phasenjitter gegen die Daten ohne Phasenjitter zeigen unterschiedliche CCR Funktionen und höhere Schwellenwerte.

Diskussion: Mit dem KI Algorithmus lassen sich Hörschwellen sicher detektieren und Amplitudenwachstumsfunktionen nachbilden bzw. Auffälligkeiten besser darstellen. Darüber hinaus scheint der Algorithmus auch Defizite bei der neuronalen Synchronizität aufzuzeigen. Mit dem erreichten SNR von mindestens -55 dB ist die Anwendung auch für die "Humane BERA" geeignet.

Im Hinblick auf die Möglichkeit, den Verlauf von BERA-Potentialen über lernende Klassifizierungsverfahren zu unterscheiden, eröffnet der Diagnostik eine optimale Perspektive.

Danksagung: Finanziert über das BMBF im Rahmen KMU-Innovativ, Id. Nr.: 13GW0286A

Eine Langfassung des Beitrags erhalten Sie hier:

https://www.dga-ev.com/fileadmin/dga2019/site/data/final/0113.pdf


Literatur

1.
Grützmacher H. Unfallgefährdung bei Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung. Dtsch Arztebl. 2001;98(34-35):A2195-7.
2.
Corona-Strauss FI, Delb W, Bloching M, Strauss DJ. Ultra-fast quantification of hearing loss by neural synchronization stabilities of auditory evoked brainstem activity. Conf Proc IEEE Eng Med Biol Soc. 2007;2007:2476-9. DOI: 10.1109/IEMBS.2007.4352830 External link
3.
Hecker DJ, Metzler P, Schick B, Schorn B. Automatisierte Analyse von ereigniskorrelierten Potenzial-Signalen oder ereigniskorrelierten Potenzial-Signalen einer neuronalen Aktivität, Patentanmeldung DE102017005867. 2017.
4.
Hecker DJ, Linxweiler M, Schulte-Goebel L, Faßbender K, Fousse M, Walter S, Schick B. Singlesweep ausgewertete okulär-vestibulär evozierte myogene Potentiale (oVEMPs) als neuer Parameter bei Patienten mit Multipler Sklerose. Laryngo-Rhino-Otol. 2019; 98(S 02): S97. DOI: 10.1055/s-0039-1686167 External link
5.
Metzler P, Schick B, Hecker DJ. Single Sweep Analyse von BERA-Messungen mit MATLAB Matlabexpo. 2017. Available from: https://www.matlabexpo.com/de/2017/agenda.html External link
6.
Mustaffa I, Trenado C, Schwerdtfeger K, Strauss DJ. Denoising of single-trial matrix representations using 2D nonlinear diffusion filtering. J Neurosci Methods. 2010 Jan;185(2):284-92. DOI: 10.1016/j.jneumeth.2009.09.017 External link