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GMS Medizin — Bibliothek — Information.

Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB)

ISSN 1865-066X

Medizinhistorische Bestände der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien. Virtuelle Bibliotheken an der Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin: Eine Spurensuche

Medical historic stock of the University Library of the Medical University of Vienna. Virtual libraries at the Branch Library for Medical History: Search of evidence

Fachbeitrag Medizinhistorische Quellen an Wiener Universitäten

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  • corresponding author Walter Mentzel - Medizinische Universität Wien, Universitätsbibliothek, Wien, Österreich

GMS Med Bibl Inf 2017;17(1-2):Doc08

doi: 10.3205/mbi000387, urn:nbn:de:0183-mbi0003876

Published: September 21, 2017

© 2017 Mentzel.
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Zusammenfassung

Der Aufsatz thematisiert an Hand von fünf Fallbeispielen das an der Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien unternommene Projekt „Virtuelle Bibliotheken“. Dabei werden Büchersammlungen, die in den letzten 200 Jahren am Standort des Josephinum in Wien übernommen und in den Bibliotheksbestand eingearbeitet wurden, hinsichtlich ihrer Herkunft, ihrer ehemaligen Besitzer und ihrer Provenienzen rekonstruiert. Ziel ist es, diese Bestände als virtuelle Büchersammlungen im Bibliothekskatalog der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien abzubilden, um eine gezielte Recherche zu ermöglichen.

Schlüsselwörter: Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien, Medizinische Fakultät an der Universität Wien, Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin, Josephinische Bibliothek, Bibliothek der Gesellschaft der Ärzte in Wien, virtuelle Bibliotheken, Büchersammlungen, Exlibris, Wiener Medizinische Schulen, Erste Wiener Medizinische Schule, Zweite Wiener Medizinische Schule, Ärztliches Lesezimmer im allgemeinen Krankenhaus in Wien, Bibliothek des Doctoren-Collegiums, Privatbibliothek von Thomas und Camill Lederer, Privatbibliothek von Wilhelm Stekel, Sammlung von Fritz Lejeune

Abstract

The article presents on the basis of five case examples the project “Virtual Libraries” of the Branch Library for Medical History of the University Library of the Medical University of Vienna. The project’s target is to reconstruct book collections – in regard to origin, previous owner and provenance – which had been incorporated into the stacks of the library of the Josephinum during the last 200 years. Its purpose is to indicate these books as virtual book collections in the catalogue of the University Library of the Medical University of Vienna in order to provide specific research.

Keywords: University Library of the Medical University of Vienna, Medical Faculty of the University of Vienna, Branch Library for Medical History, Josephina Library, Library of the College of Physicians in Vienna, virtual libraries, book collections, bookplates, Vienna Schools of Medicine, First Vienna School of Medicine, Second Vienna School of Medicine, “Ärztliches Lesezimmer” at Vienna General Hospital, Library of “Doctoren-Collegium”, Private Library Thomas and Camill Lederer, Private Library Wilhelm Stekel, Collection Fritz Lejeune


Verortung – Identifizierung – Rekonstruktion

Die Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin, die größte medizinhistorische Bibliothek Österreichs, ist ein Teil der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien. Sie ist in der Währingerstraße 25 im Josephinum untergebracht.

Die Bestandserweiterungen der Zweigbibliothek erfolgten seit dem 18. Jahrhundert großteils durch Schenkungen, Nachlässe, erst später durch die Übernahme von ausgeschiedenen Beständen aus Vereinen, Kliniken und Instituten der früheren Medizinischen Fakultät und nur zu einem geringen Teil durch eine systematische Ankaufspolitik [1]. Von den 1930er bis in die 1950er Jahre kam es auch zu umfangreichen Erwerbungen aus dem Antiquariatshandel.

Die Bestände aus den verschiedenen Provenienzen wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts zersplittert, indem eine Bestandseinordnung nach Numerus Currens erfolgte, womit ursprüngliche Herkunftszusammenhänge verwischt und der Corpus der Bibliotheken und Sammlungen in ihrer Gesamtheit zerstört wurde.

Viele Jahrzehnte lang wurden die Bibliotheksbestände im Josephinum ausschließlich nach formalen Kriterien aufgearbeitet und erschlossen (wertvolle historische Monografien, Dissertationen, Separata), die Provenienz der jeweiligen Bestände wurde nicht weiter beachtet. Erst mit den in den 1990er Jahren und danach eingebrachten Beständen wurde die Bestandspolitik dahingehend geändert, dass zusammengehörende Bestände nunmehr auch als Einheit aufbewahrt werden, wie etwa die Obersteiner-Bibliothek oder die Wolf-Bibliothek [2]

Die Zersplitterung der Bestände betraf auch bereits bestehende Bibliotheken, wie die seit der Errichtung des Josephinums hier untergebrachte „militärärztlich-chirurgische Bibliothek“ (später k.k. Militärärztliche Bibliothek“). Diese wurde im Zuge von Inventarisierungsmaßnahmen zerstreut, sodass sie in ihrer ursprünglichen Form und ihrer Bestandsgröße kaum mehr zu eruieren ist (Abbildung 1 [Abb. 1]).

Erste Hinweise auf die ursprünglichen Besitzer von Buchbeständen können in den meisten Fällen nur die in den Büchern eingetragenen Identifizierungsmerkmale wie Exlibris, Stempel und handschriftliche Hinweise geben, weil sich in den Inventarverzeichnissen nur dürftige Hinweise über die Herkunft und die Erwerbung der Bestände finden.

Eine der ersten Büchersammlungen am ehemaligen Institut für Geschichte der Medizin wurde vom Gründer des Institutes Max Neuburger (1868–1955) 1919 aus seiner Privatbibliothek eingebracht, zwei weitere Tranchen seiner Bibliothek folgten in den darauffolgenden Jahren (Abbildung 2 [Abb. 2]).

Erst die 2007 an der Bibliothek begonnene NS-Provenienzforschung, die das Ziel hatte Bücher und Eigentümer jener im Zuge der NS-Verfolgungs- und Enteignungsmaßnahmen nach 1938 entzogenen Bücher zu identifizieren und zu restituieren [3], erhob erstmals systematisch die vielfältigen Besitzmerkmale und machte die differierenden Erwerbungsmodalitäten sichtbar. Dabei zeigte sich, dass zur Identifizierung der ursprünglichen Besitzer und der Herkunft der einzelnen Bestandseinheiten neben der Arbeit am Bücherregal auch umfangreiche Archivrecherchen notwendig sind. Daraus entstand die Projektidee einer übergreifenden Provenienzforschung zur „virtuellen“ Erfassung und Rekonstruktion der Bibliotheksbestände und Sammlungen, der Identifizierung der ursprünglichen Besitzverhältnisse und der Eruierung ihrer früheren Standorte. Ziel ist es, die auf die verschiedenen Teilbibliotheken verstreuten Bücher digital über den Bibliothekskatalog zusammenzuführen. Damit soll auch ein Beitrag zur Geschichte der „Wiener Medizinischen Schulen“ und zum kulturellen Erbe der Medizinischen Universität Wien erfolgen. Die ersten Ergebnisse werden hier am Beispiel von fünf „virtuellen Sammlungen“ dargestellt:

  • „Ärztliches Lesezimmer im AKH Wien“
  • Bibliothek der ältesten medizinischen Ärztevertretung „Doctoren-Collegium“
  • Privatbibliothek der Wiener Ärztefamilie Lederer
  • Privatbibliothek des Psychoanalytikers Wilhelm Stekel
  • Sammlung des NS-Medizinhistorikers und zwischen 1940 und 1945 am Institut für Geschichte der Medizin amtierenden Direktors Fritz Lejeune

Ärztliches Lesezimmer im allgemeinen Krankenhaus in Wien

Das „Ärztliche Lesezimmer im allgemeinen Krankenhaus in Wien“ wurde am 9. Oktober 1869 am Standort des heutigen „Alten AKH“ in Wien auf Initiative von Carl Ludwig Sigmund (1810–1883) und Dr. Josef Grünfeld (1840–1910, „Sekundarärzte“ der Medizinischen Fakultät, gegründet (Abbildung 3 [Abb. 3]). Diese Bibliothek kann damit als die ideelle Vorgängerorganisation der heutigen Universitätsbibliothek an der Medizinischen Universität Wien bezeichnet werden. Das „Ärztliche Lesezimmer“ gehörte rasch zu den frequentiertesten und „beliebtesten medizinischen Lesestätten in Wien“ [4].

Ziel dieser Bibliotheksgründung war es, die Mitarbeiter des AKH mit moderner wissenschaftlicher Literatur und Zeitschriften zu versorgen. Der auf Vereinsbasis geführten Bibliothek stand als Leitungs- und Organisationsorgan ein „Comité“ vor und sie konnte nur von Absolventen der Medizinischen Fakultät und von akademischen Mitarbeitern des AKH benutzt werden [5]. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg zählte diese Bibliothek mit 22.000 Bucheinheiten und Zeitschriften zu den ältesten und größten medizinischen Spitalsbibliotheken Wiens und wurde US-amerikanischen Medizinstudenten bei ihren Postgraduate-Studium in Wien empfohlen [6]. Wie auch andere medizinische Bibliotheken in Wien ist auch das „Ärztliche Lesezimmer im Allgemeinen Krankenhaus“ nach dem „Anschluss“ im Oktober 1939 durch einen Senatsbeschluss des Dekanats der Medizinischen Fakultät Wien im Kontext der sogenannten „Modernisierungs- und Neuordnungspläne“ liquidiert und zerschlagen worden und danach in den Antiquariatshandel gekommen. Schon ein Jahr nach der Liquidierung der Bibliothek wurden 1940 durch den Leiter des Institutes für Geschichte der Medizin, Fritz Lejeune (1892–1966), und später bis in die 1950er Jahre hinein vom Institut einzelne Exemplare der ehemaligen Bibliothek im AKH von einem im NS-Bücherraub involvierten Antiquariat angekauft [7].


Bibliothek des Doctoren-Collegiums

Die Bibliothek des „Doctoren-Collegiums“ ist die älteste medizinische Bibliothek Wiens. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte liegen auf medizinischer und pharmazeutischer Literatur aus dem 18. und 19. Jahrhundert, u.a. Dissertationen zu botanischen Themen. Die Bestände dieser Bibliothek befinden sich heute verstreut in den einzelnen Teilbibliotheken der Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin. Das „Doctoren-Collegium“ war eine Vertretung der Mitglieder (Professoren) der Fakultät und der in Wien praktizierenden Ärzte, bestand seit der Gründung der Universität Wien im Jahr 1365 und war seit der 1389 gegründeten Medizinischen Fakultät hier verankert. Daneben widmete es sich der ärztlichen Fortbildung, caritativen Zwecken und der Erhaltung von Wohlfahrtsorganisationen für Ärzte. Während der Phase der „1848-Revolution“ erfolgte am 27. September 1849 erstmals die provisorische Trennung zwischen einem Professoren- und einem Doctoren-Collegium und damit zur Aufhebung dieser korporativen Einheit zwischen Universitätsangehörigen, die sich ab nun ihren Autonomiebestrebungen zufolge in einem eigenen Professoren-Collegium zusammenschlossen.

Zur endgültigen Aufhebung der Einheit des Lehrkörpers an der Universität und den außerhalb der Universität praktizierenden Ärzten kam es 1873 im Rahmen der gesetzlichen Neuorganisation der Gremien und der inneren Strukturen der Universitäten, womit das „Doctoren-Collegium“ von der Universität vollständig getrennt, ausgeschieden und entmachtet wurde.

Die bis 1974 erworbenen Bücher des „Doctoren-Collegium“ sind durch das Exlibris „Doct. Coll. Der Wiener Medic. Facultät“ identifizierbar (Abbildung 4 [Abb. 4]).

Die vom Collegium weitergeführte Bibliothek, deren Bücher nun mit dem Exlibris „Wiener Medic. Doctoren Collegium“ gekennzeichnet wurden (Abbildung 5 [Abb. 5]), wurde durch einen eigen verwalteten „Bibliotheks-Fonds“ finanziert. Das Ende des „Doctoren-Collegium“ erfolgte nach dem „Anschluss“ im März 1938. Nach der Bestellung eines „kommissarischen Leiters“ im März 1938 kam es mit der Verfügung des Statthalterkommissars zur Liquidierung und zur Übergabe des Vermögens an die Reichsärztekammer in Berlin zur „treuhänderischen Verwaltung“. Die Bibliothek wurde erst im Oktober 1939 aufgelöst und von ihrem Standort im Josephinum entfernt an die Reichsärztekammer Wien abgegeben [8], [9]. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Zuge von Restaurierungsarbeiten am Dachboden des Van Swieten-Hofes in Wien 1, Rotenturmstrasse 19, dem Sitz der „Witwen und Waisen-Societät des Wiener Medizinischen Doctoren-Collegiums”, die hier eingelagerte Bibliothek aufgefunden und erst 1970 von der Ärztekammer Wien dem Institut für Geschichte der Medizin übergeben [10]. Die Bibliothek umfasste zirka 4.000 Bände, darunter „alte Buchbestände der Witwen- und Waisensozietät“ (Drucke aus dem 16. Jh.), die während des Zweiten Weltkrieges am Dachboden des Van-Swieten-Hofes vermauert worden waren.


Private Ärztebibliothek von Thomas und Camill Lederer

An der Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin befinden sich mehrere hundert Bücher aus der Privatbibliothek der Wiener Ärztefamilie Lederer, die zerstreut in den Teilbibliotheken der „Josephinischen Bibliothek“ sowie der Bibliothek „Neuburger-Lesky“ aufgestellt wurden. Diese Privatbibliothek wurde von Thomas Lederer jun. (1791–1874) seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts aufgebaut und von seinem Sohn, dem Homöopathen, Magister der Geburtenhilfe und praktischen Arzt Camill (Kamillo) Lederer (1830–1912) übernommen und bis zu seinem Tode im Jahr 1912 erweitert. Sie stellt eine der größten und ältesten überlieferten privaten Wiener Ärztebibliotheken dar. Die ältesten Werke stammen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Bücher von Camill Lederer sind einheitlich gebunden und enthalten in den meisten Fällen den Exlibris-Stempel: „Camill Lederer Marxergasse 15“, wo Camill Lederer bis 1889 wohnhaft war (Abbildung 6 [Abb. 6]).

Camill Lederer war eines von zehn Kindern von Thomas Lederer jun. und nahm als 18-Jähriger mit seinen Brüdern, dem späteren Wiener Vizebürgermeister Moritz Lederer (1832–1921) und Gustav Lederer (um 1840–1901) in der „akademischen Legion“ an der 1848er Revolution teil. Seine Schwester Melanie Lederer (?–1884) war mit dem Schriftsteller Ferdinand von Saar (1833–1906) und seine zweite Schwester Sidonie Lederer (1826–1872) war mit dem Wiener Gerichtsadvokaten Josef Maresch (?–1874) verheiratet, der nach deren Tod ihre Schwester Konstanze Lederer (1835–1911) heiratete. Thomas Lederer jun. begann seine medizinische Laufbahn als sogenannter Operations-Zögling an der chirurgischen Klinik der Medizinischen Fakultät in Wien. 1819 erfolgte seine Ernennung zum Assistenten an der theoretisch-praktischen Schule der Geburtshilfe für Ärzte und Hebammen und seit 1823 praktizierte er Homöopathie.

1822 veröffentlichte Thomas Lederer – auch sein Exlibris ist in den an der Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin vorhandenen Beständen erhalten (Abbildung 7 [Abb. 7]) – das Handbuch der Hebammenkunst und 1826 sein Hauptwerk „Mutter und Kind. Oder: Schwangerschaft, Entbindung und Wochenbett […]“ (Abbildung 8 [Abb. 8]) für das er 1827 von der Universität Gießen das Diplom zum Dr. der Medizin, Chirurgie und Geburtenhilfe erhielt. Die Arbeit erschien 1842 in einer zweiten verbesserten Auflage. Er arbeitete als Kinderarzt und ab 1837 über viele Jahre als Leibarzt der Fürstin Melanie von Metternich (1832–1919). Er gilt als Modernisierer der Geburtshilfe und der frühkindlichen Förderung.

In dieser Arbeit entwickelte Lederer ein System eines kindergerechten Kinderzimmers, darunter die von ihm entwickelte und propagierte Gehschule („Gehschrank“), die in seinem Buch durch eine Kupfertafel dargestellt wurde und die sich erst langsam im Laufe des 19. Jahrhunderts etablierte, ebenso wie die von ihm geforderte „Reformkleidung“ für Frauen [11], [12]. Das Werk ist mit Kupfertafeln von Julius Schnorr von Karlsfeld (1794–1872) illustriert (Abbildung 9 [Abb. 9], Abbildung 10 [Abb. 10]).


Privatbibliothek von Wilhelm Stekel

Im Bestand der Bibliothek der Gesellschaft der Ärzte in Wien befindet sich der Großteil der ehemaligen Privatbibliothek des Wiener Arztes und Psychoanalytiker Wilhelm Stekel (1868–1940) (Abbildung 11 [Abb. 11]), die er in den 1920er Jahren der „Gesellschaft der Ärzte in Wien in Wien“ gespendet hat. Die von ihm übergegebenen Bücher sind mit dem Stempel „Dr. Wilhelm Stekel“ gekennzeichnet (Abbildung 12 [Abb. 12]); es gibt auch eine Arbeit, die seine handschriftliche Widmung trägt (Abbildung 13 [Abb. 13]).

Stekel studierte seit 1887 an der Medizinischen Fakultät der Universität in Wien Medizin und war hier auch in der unter dem Einfluss von Bertha von Suttner (1843–1914) stehenden Antikriegsbewegung aktiv. Nach seiner Promotion 1893 begann seine Ausbildung an der Klinik von Richard von Krafft-Ebing (1840–1902) und eröffnete 1894 eine Privatpraxis als Nervenarzt. Ab 1901 war er langjähriger Feuilletonist im „Neuen Wiener Tagblatt“ und Autor in zahlreichen deutschen Zeitschriften, womit er eine langjährige Arbeit als Journalist mit dem Schwerpunkt Medizin begann.

Stekel gilt als bedeutender Proponent der frühen Psychoanalyse, insbesondere auf dem Gebiet der Traumdeutung, und er stand in Kontakt mit Sigmund Freud (1856–1939) mit dem er später brach. Zusammen mit Alfred Adler (1870–1937) war er 1910 Mitbegründer des „Zentralblatt für Psychoanalyse“ und Vizepräsident der von Adler und ihm gegründeten „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“. Vor dem Ersten Weltkrieg gründete er in Wien eine Dependance des vom deutschen Sexualforscher Magnus Hirschfeld (1868–1935) gegründeten „Wissenschaftlich-humanitären Komitee“, dessen Berliner Zentrale mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 zerschlagen wurde. Nach dem Krieg widmete er sich einer regen Publikationstätigkeit, darunter auch Novellen und Theaterstücke. Kennzeichnend für seine wissenschaftlichen Arbeiten waren detaillierte und umfangreiche Fallstudien, die einen Einblick in die Gesellschaft Wiens bieten und mit denen er auch zur Popularisierung der Psychoanalyse und der Sexualwissenschaften beitrug. 1931 gründete er die Zeitschrift „Psychoanalytische Praxis“, die in Deutschland von der „Allgemeinen ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie“ und deren damaligen Vorsitzenden Ernst Kretschmer (1888–1964) herausgegeben worden war. Zu seinen Hauptwerken gehört u.a. das bis 1928 in zehn Bänden veröffentlichte Werk „Störungen des Trieb- und Affektlebens“, das auch einen bedeutenden kulturhistorischen Quellencharakter besitzt [13], [14], [15]. Stekel flüchtete auf Grund der NS-„Rassengesetze“ vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten 1938 nach England [16], wo er am 25. Juni 1940 in London Suicid verübte. Seine Autobiografie wurde 1950 posthum herausgegeben.


Sammlung von Fritz Lejeune

Die „Sammlung Fritz Lejeune“ ist nach dem zwischen 1939 und April 1945 amtierenden Direktor des ehemaligen Institut für Geschichte der Medizin benannt und umfasst Bücher, die er 1939 aus Köln nach Wien mitgenommen hat sowie von ihm zwischen 1939 und 1945 privat erworben worden sind und die er nach seiner Flucht vor der Roten Armee am Institut zurückgelassen hat. Die Sammlung besteht vor allem aus antiquarischen Büchern aus dem 19. Jahrhundert und spiegelt die Interessengebiete des NS-Medizinhistorikers Lejeune wieder (Abbildung 14 [Abb. 14]).

Fritz Lejeune (1892–1966) war seit seiner 1922 erfolgten Habilitation im Fach Geschichte der Medizin Privatdozent für Geschichte der Medizin an der Universität Greifswald. Spätestens seit Mai 1925 war er Mitglied der NSDAP. Im selben Jahr erhielt er einen Lehrauftrag für Geschichte der Medizin an der Universität Köln, wo er 1928 zum a.o. Professor ernannt wurde, und war als Mitgründer (1925) und Vorsitzender der „Reichsnotgemeinschaft Deutscher Ärzte“ in einer der einflussreichsten ärztlichen Standesorganisationen Deutschlands aktiv. Seine Einbindung in das Netzwerk der NS-Medizinbürokratie und vor allem seine Stellung in internationalen medizinhistorischen Gremien machte ihn zu einem Proponenten des NS-Außen- und Propagandaministeriums.

Am 1. August 1939 erfolgte seine Ernennung zum Leiter des Institutes für Geschichte der Medizin in Wien, das er mit seinem Amtsantritt am 22. Jänner 1940 bis April 1945 als Nachfolger des von den Nationalsozialisten vertriebenen Max Neuburger leitete.

Durch ihn kam es zu beträchtlichen Bestandszuwächsen in der Bibliothek, darunter auch Raubgut aus Bibliotheken von NS-Verfolgungen. Neben seiner Tätigkeit am Institut engagierte sich Lejeune entsprechend der ideologischen Aufwertung der NS-Medizingeschichte als Berater und Vermittler medizinhistorischer Bücher und beim Aufbau von medizinhistorischen Bibliotheken, wofür er seine Kontakte zu Wiener NS-Antiquariaten anbot. Darunter vermittelte er historische Inkunabeln für den Aufbau der medizinhistorischen Bibliothek an den Pharmakonzern Boehringer & Sohn in Ingelheim am Rhein sowie an den Direktor und Professor Johann Daniel Achelis (1898–1963) vom Physiologischen Institut der Universität Heidelberg, wo ab 1942 eine medizinhistorische Bibliothek mit dem Schwerpunkt „alte Drucke aus dem 15. und 16. Jahrhundert“ aufgebaut wurde. Nach seiner Flucht aus Wien am 2. April 1945 erfolgte am 10. Mai 1945 seine Suspendierung durch das Dekanat der Medizinischen Fakultät Wien und am 2. Juni 1945 seine Enthebung durch das „Staatsamt für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten“. Nach seiner Internierung im Internierungslager Glasenbach/Salzburg wurde er nach Deutschland abgeschoben, wo seine Bemühungen im universitären Betrieb wieder Fuß zu fassen, erfolglos blieben. 1965 übersiedelte Lejeune nach Villach, wo er 1966 verstarb [17], [18], [19], [20].


Darstellung der Forschungsergebnisse

Die Ergebnisse der Forschungen zur Herkunft der medizinhistorischen Bestände in der Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin werden laufend im Van Swieten Blog, das neben Informationen über die Universitätsbibliothek auch regelmäßig Informationen über die medizinhistorischen Bestände der Universitätsbibliothek bringt [21], als eigene Blogserie „Aus den medizinhistorischen Beständen der Ub MedUni Wien“ veröffentlicht [22].

Ergänzend dazu ist geplant, diese Bestände als virtuelle Büchersammlungen im Bibliothekskatalog der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien so abzubilden, dass sie gezielt recherchiert werden können. Mit der Umsetzung dieses Projektes wird nach der Umstellung des bisher eingesetzten Bibliotheksystems Aleph500 auf Alma im Januar 2018 begonnen werden.


Anmerkung

Interessenkonflikte

Der Autor erklärt, dass er keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


Literatur

1.
Albrecht H, Bauer B, Mentzel W. Josephinische Bibliothek und medizinhistorische Bestände der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien. GMS Med Bibl Inf. 2012;12(1-2):Doc11. DOI: 10.3205/mbi000247 External link
2.
Albrecht H. Medizinhistorische Bestände der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien: Die neun historischen Bibliotheken an der Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin. GMS Med Bibl Inf. 2017;17(1-2):Doc07. DOI: 10.3205/mbi000386 External link
3.
Mentzel W, Bauer B. Opfer des Bücherraubes – 10 Fälle aus medizinischen Bibliotheken in Wien: Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien. GMS Med Bibl Inf. 2008;8(3):Doc25. Verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/mbi/2009-8/mbi000122.shtml External link
4.
Neue Freie Presse. 12.9.1915. S. 13.
5.
Morgen-Post. 19.10.1877. S. 4.
6.
Queries and Minor Notes. JAMA. 1911;56(14):1057-8. DOI: 10.1001/jama.1911.02560140041027 External link
7.
Sammlungen der Medizinischen Universität Wien, HSK, Zl. 1517/9.
8.
Wiener Stadt- und Landesarchiv, MA 119, Gelöschte Vereine, Zl. 7.820/1938. Wiener Medizinisches Doctoren-Kollegium.
9.
Archiv der Medizinischen Universität Wien (AUW), Med.Fak. Dekanat, Zl. 105/1939-1940. AUW, Med.Fak. Dekanat, Bestand Doktorencollegium der medizinischen Fakultät (1821-1892) sowie: Sitzungsprotokolle, Vermögensstandbücher, Geschäftsbücher u.a. des Doktoren-Kollegium.
10.
Bibliothek des Wiener medizinischen Doktorencollegiums an das Institut für Geschichte der Medizin übergeben. Österreichische Apotheker-Zeitung. 1970;(6).
11.
Thomas Lederer, Arzt und Geburtshelfer in Wien. Abschrift aus dem Totenprotokoll. 8.3.1828. Lederer Thomas sen. Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin, Abschrift. 912.
12.
Lederer Camill. Einleitung zu einer neuen Auflage von „Mutter und Kind“ von Thomas Lederer. Typoskript aus dem Familienarchiv (6 Seiten). Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin, Sign. SA4.315
13.
Jerabek R. Wilhelm Stekel. In: Frischenschlager O, Hrsg. Wien, wo sonst! Die Entstehung der Psychoanalyse und ihrer Schulen. Wien, Köln, Weimar; 1994.
14.
Kuhn P. „A pretty piece of treachery“: The strange case of Dr. Stekel and Sigmund Freud. The International Journal of Psychoanalysis. 1998;(79):1151-71.
15.
Stekel W. The autobiography of Wilhelm Stekel. The life story of a pioneer psychoanalyst. (Gutheil E, Hrsg.) New York; 1950.
16.
Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundesministerium für Finanzen, Vermögensverkehrsstelle, V.A., Zl. 41.329, Wilhelm Stekel.
17.
AUW, Med. Fak., PA Lejeune Fritz, AUW, Med.Fak., Dekanat, Zl. 323/1941-42.
18.
Mentzel W, Bauer B. Brüche in der Entwicklung medizinischer Bibliotheken in Wien während des NS-Regimes: Anmerkungen zur Geschichte der Vorgängerbibliotheken der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien. In: Enderle-Burcel G, Neubauer-Czettl A, Stumpf-Fischer E, Hrsg. Brüche Kontinuitäten 1933-1938-1945. Fallstudien zu Verwaltung und Bibliotheken. Innsbruck; 2013. S. 287-314. (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs; Sonderband 12).
19.
Mentzel W, Bauer B. Stumme Zeitzeugen. Medizinische und medizinhistorische Bibliotheken an der Medizinischen Universität Wien während der NS-Zeit. In: Alker S, Köstner C, Stumpf M, Hrsg. Bibliotheken in der NS-Zeit. Provenienzforschung und Bibliotheksgeschichte. Göttingen; 2008. S. 273-87.
20.
Schmierer K. Medizingeschichte und Politik. Karrieren des Fritz Lejeune in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Husum; 2002. (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften; 96).
21.
Hartl M, Bauer B. Ein Weblog als Informations- und Kommunikationsinstrument an der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien: 1 Jahr UBMUW-INFO. GMS Med Bibl Inf. 2007;7(1):Doc08. Verfügbar unter: http://www.egms.de/en/journals/mbi/2007-7/mbi000060.shtml External link
22.
Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien. Van Swieten Blog. Verfügbar unter: http://ub.meduniwien.ac.at/blog External link