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Zwei- vs. dreisprachige Kitakinder: Unterschiede im Sprachstand und in soziodemographischen Merkmalen
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Veröffentlicht: | 20. September 2023 |
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Gliederung
Zusammenfassung
Hintergrund: In mehreren Bundesländern wachsen inzwischen mehr als die Hälfte aller Kinder im Vorschulalter mindestens zweisprachig auf. Es wurde bisher nicht untersucht, inwiefern sich die Deutschkenntnisse der zwei- (ZK) und dreisprachigen Kinder (DK) sowie soziodemographische, für den Sprachstand relevante Merkmale dieser Kinder und ihrer Familien unterscheiden.
Material und Methoden: In der aktuellen Studie wurde eine Stichprobe von 1256 ZK und 139 DK retrospektiv untersucht. Diese Kinder wurden im Alter von vier Jahren in überwiegend hessischen Kitas mit Sprachtests „Kindersprachscreening“ (KiSS.2), „Sprachscreening für das Vorschulalter“ (SSV) und sog. „quasi-universellen“ Kunstwörtern (QUK) untersucht. Die letzteren wurden für die sprachunabhängige Erfassung des phonologischen Kurzzeitgedächtnisses entwickelt. Soziodemographische Merkmale der Kinder und ihrer Familien wurden mit erweiterten KiSS.2-Fragebögen für Eltern und Kita-ErzieherInnen erfasst. Gesamtscores der richtigen Antworten von ZK und DK in KiSS.2, SSV und QUK wurden mit Mann-Whitney U-Tests verglichen, dichotome Testergebnisse durch die Kreuztabellierung einschl. Berechnung des Chi-Quadrats. Unterschiede in soziodemographischen Charakteristika der ZK und DK wurden, je nach Skalenniveau, durch die Berechnung des Chi-Quadrats (nominal) oder Linear-mit-Linear-Zusammenhangs (ordinal) untersucht.
Ergebnisse: DK zeigten niedrigere Gesamtscores der richtigen Antworten als ZK in KiSS.2 und SSV, ohne signifikante Unterschiede in QUK. In KiSS.2 wurden sie zudem häufiger als sprachpädagogisch förderbedürftig und klinisch abklärungsbedürftig eingestuft. DK sprachen häufiger nur andere Sprachen als Deutsch zuhause, spielten seltener mit deutschsprachigen Kindern, sie und ihre Eltern fingen später an, Deutsch zu erwerben/lernen. In mehreren anderen soziodemographischen Variablen, darunter in der Einschätzung der Muttersprachenkenntnisse durch Eltern, bestanden keine signifikanten Unterschiede zwischen DK und ZK.
Diskussion: DK erwerben Deutsch unter relativ ungünstigen soziodemographischen Bedingungen und verfügen dementsprechend über relativ schwache Deutschkenntnisse, auch im Sinne des klinischen Abklärungsbedarfs. Ihr phonologisches Kurzzeitgedächtnis und ihre Muttersprachenkenntnisse sind dabei nicht besser als die der ZK.
Fazit: Kinder, die zusätzlich zur deutschen Sprache zwei weitere Sprachen erwerben, bedürfen einer besonderen Aufmerksamkeit, vor allem im Sinne der sprachpädagogischen Unterstützung.
Text
Hintergrund
In mehreren Bundesländern wachsen inzwischen mehr als die Hälfte aller Kinder im Vorschulalter mindestens zweisprachig auf (z.B. in Hessen [1]). Es wurde bisher nicht untersucht, inwiefern sich die Deutschkenntnisse der zwei- (ZK) und dreisprachigen Kinder (DK) sowie soziodemographische, für den Sprachstand relevante Merkmale dieser Kinder und ihrer Familien unterscheiden. Anzunehmen wären relativ schwache Deutschkenntnisse und ein besonders eingeschränkter Zugang zum Deutschinput bei DK. Da ZK über ein besseres phonologisches Kurzzeitgedächtnis verfügen als monolingual deutsche Kinder [2], wäre zudem anzunehmen, dass DK Vorteile in diesem Bereich zeigen könnten, verglichen mit ZK.
Material und Methoden
In der aktuellen Studie wurde eine Stichprobe von 1256 ZK und 139 DK retrospektiv untersucht. Diese Kinder wurden im Alter von 4;0 – 4;11 Jahren in überwiegend hessischen Kindertageseinrichtungen (Kitas) mit Sprachtests „Kindersprachscreening“ (KiSS.2 [3]), „Sprachscreening für das Vorschulalter“ (SSV [4]) und sog. „quasi-universellen“ Kunstwörtern (QUK [5]) untersucht. Die letzteren wurden für die sprachunabhängige Erfassung des phonologischen Kurzzeitgedächtnisses entwickelt. Soziodemographische Merkmale der Kinder und ihrer Familien wurden mit erweiterten KiSS.2-Fragebögen für Eltern und Kita-ErzieherInnen erfasst.
Abgesehen vom passenden Alter und Vorliegen einer unterschriebenen Einverständniserklärung der Eltern, bestanden keine weiteren Ein- oder Ausschlusskriterien. Sowohl ZK als auch DK waren durchschnittlich 4;5 Jahre alt, ohne signifikante Unterschiede im Alter und Geschlecht.
Testpunktzahlen von ZK und DK in KiSS.2, SSV und QUK wurden mit Mann-Whitney U-Tests verglichen, dichotome KiSS.2-Ergebnisse durch die Kreuztabellierung einschl. Berechnung des Chi-Quadrats. Unterschiede in soziodemographischen Charakteristika der ZK und DK wurden, je nach Skalenniveau, durch die Berechnung des Chi-Quadrats (nominal), Mann-Whitney U-Tests (metrisch) oder Linear-mit-Linear-Zusammenhangs (lml, ordinal) untersucht.
Ergebnisse
DK erreichten niedrigere Punktzahlen als ZK in KiSS.2 und SSV, ohne signifikante Unterschiede im Nachsprechen der Kunstwörter (s. Tabelle 1 [Tab. 1]).
In KiSS.2 wurden DK zudem häufiger als sprachpädagogisch förderbedürftig und klinisch abklärungsbedürftig eingestuft, verglichen mit ZK (s. Tabelle 2 [Tab. 2]).
Verglichen mit ZK, sprachen DK häufiger nur andere Sprachen als Deutsch zuhause (lml = 39,0, p < 0,001) und spielten seltener mit deutschsprachigen Kindern (lml = 4,30, p = 0,038). Zudem fingen DK (Z = -3,12, p = 0,002), ihre Mütter (Z = -4,36, p < 0,001) und Väter (Z = -3,31, p = 0,001) später an, Deutsch zu erwerben/lernen. In mehreren anderen soziodemographischen Merkmalen bestanden keine signifikanten Unterschiede zwischen DK und ZK, darunter Besuch einer Kinderkrippe, eines Vereins bzw. eines Spielkreises, Länge des Kitabesuchs in Monaten, Kitabesuch halb- vs. ganztags, altersgemäßer Sprachstand in der nicht-deutschen Erstsprache, „Krankheit oder Störung, die auch die Sprache betrifft“, Risiko- bzw. Frühgeburt, Hörstörungen, familiäre Sprachstörungen bzw. Lese-Rechtschreibschwäche.
Diskussion
DK erwerben Deutsch unter relativ ungünstigen soziodemographischen Bedingungen und verfügen über besonders schwache Deutschkenntnisse. Ihr phonologisches Kurzzeitgedächtnis ist dabei nicht besser als das der ZK. Das phonologische Kurzzeitgedächtnis der ZK und DK soll aber in zukünftigen Studien unter der Bedingung der vergleichbaren Deutschkenntnisse verglichen werden, d.h. unter Ausschluss der Kinder, die sprachpädagogisch förderbedürftig bzw. klinisch abklärungsbedürftig sind. In manchen Studien (z.B. [2]) konnten Vorteile der Mehrsprachigkeit in Nachsprechleistungen erst unter dieser Bedingung gezeigt werden. In der aktuellen Studie war es aufgrund der geringen Fallzahl in der DK-Untergruppe nicht möglich. Sehr hohe Anteile klinisch abklärungsbedürftiger Kinder bei DK dürften auf die schwere Unterscheidbarkeit zwischen Sprachförderbedarf und sprachbezogenen medizinischen Auffälligkeiten hindeuten.
Fazit
Kinder, die zusätzlich zur deutschen Sprache zwei weitere Sprachen erwerben, bedürfen einer besonderen Aufmerksamkeit, vor allem im Sinne der sprachpädagogischen Unterstützung.
Literatur
- 1.
- Hessisches Ministerium für Soziales und Integration (HMSI). Der Hessische Integrationsmonitor. Wiesbaden: HMSI; 2022.
- 2.
- Zaretsky E, Lange BP, Hey C. Phonological short-term memory: When bilingualism matters. Language Learning and Development. 2023;19(1):34-48.
- 3.
- Holler-Zittlau I, Euler HA, Neumann K. Kindersprachscreening (KiSS) – das hessische Verfahren zur Sprachstandserfassung. Sprachheilarbeit. 2011;5(6):263-8.
- 4.
- Grimm H. SSV. Sprachscreening für das Vorschulalter. Kurzform des SETK 3-5. 2., überarbeitete und neu normierte Auflage. Göttingen: Hogrefe; 2017.
- 5.
- Chiat S. Non-word repetition. In: Armon-Lotem S, de Long J, Meir N, editors. Assessing Multilingual Children. Disentangling Bilingualism from Language Impairment. Bristol: Multilingual Matters; 2015. p. 125-50.