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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Neuroenhancement und psychische Gesundheit bei Studierenden aus vier Fachbereichen – eine Fragebogen-Querschnittsstudie

Artikel Psychische Gesundheit

  • author Maurice Hajduk - Universitätsklinikum Würzburg, Institut für Allgemeinmedizin, Würzburg, Deutschland
  • author Elena Tiedemann - Universitätsklinikum Würzburg, Institut für Allgemeinmedizin, Würzburg, Deutschland
  • author Marcel Romanos - Universitätsklinikum Würzburg, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Würzburg, Deutschland
  • corresponding author Anne Simmenroth - Universitätsklinikum Würzburg, Institut für Allgemeinmedizin, Würzburg, Deutschland

GMS J Med Educ 2024;41(1):Doc9

doi: 10.3205/zma001664, urn:nbn:de:0183-zma0016647

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2024-41/zma001664.shtml

Eingereicht: 22. August 2023
Überarbeitet: 31. Oktober 2023
Angenommen: 29. November 2023
Veröffentlicht: 15. Februar 2024

© 2024 Hajduk et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Während des Studiums stehen Studierende vor großen Herausforderungen: Leistungsanforderungen seitens der Hochschulen, Konkurrenzerleben, Prüfungsangst und die neu gewonnene Selbstständigkeit können zu Stresserleben, Angst und Depressivität führen. Die vorliegende Studie untersucht, inwieweit psychisch stärker belastete Studierende häufiger Neuroenhancement (NE) nutzen.

Zielsetzung: Ermittlung der Häufigkeit von NE, Alkohol- und Tabakkonsum unter Studierenden sowie Untersuchung der Zusammenhänge zwischen NE und ADHS, Angst, Depressivität und Stresserleben.

Methodik: Im Frühjahr 2021 wurde eine anonyme Online-Querschnittsbefragung bei Studierenden der Medizin, Zahnmedizin, Wirtschaftswissenschaften und -Informatik an Würzburger Hochschulen durchgeführt. Der Survey umfasste die Instrumente ASRS (ADHS), PSS-10 (Stress), PHQ-4 (Depressions- und Angstsymptome) und AUDIT-C (riskanter Alkoholkonsum), sowie Fragen zu Konsumverhalten, Vorwissen und Gründen für NE.

Ergebnisse: 1010 von 5564 Studierenden nahmen am Survey teil (18.2%). Davon gaben 12.4% NE für den Zeitraum des Studiums an. NE wurde insbesondere während der Prüfungsvorbereitung zur Leistungssteigerung und/oder zur emotionalen Regulation eingesetzt, am häufigsten durch Koffeintabletten, Cannabis und Methylphenidat. NE war assoziiert mit riskantem Alkohol- bzw. Tabakkonsum, im geringeren Ausmaß mit ADHS-Symptomen und Stresserleben.

Schlussfolgerung: Bei Studierenden besteht ein Risiko für Substanzmissbrauch und NE. Wirksame Stressbewältigungs- und Präventionsansätze sowie niederschwellige Hilfsangebote sind erforderlich, um Studierende mit Risikoprofil zu erkennen und zu unterstützen.

Schlüsselwörter: Medizinstudent, Neuroenhancement, kognitives Enhancement, Gehirn-Doping, Rauchen, Alkohol


1. Hintergrund

Zu Beginn des Studiums stehen Studierende vor großen Herausforderungen: Viele verlassen erstmals das Elternhaus, orientieren sich sozial neu und müssen ggf. mit Prüfungsangst und Stress umgehen. Um diese Herausforderungen zu kompensieren, konsumieren Studierende Alkohol, Nikotin sowie illegale (z. B. Cannabis, Speed, Kokain) und verschreibungspflichtige Substanzen (z. B. Methylphenidat, Modafinil, Betablocker) [1], [2], z. B. um effizienter lernen oder entspannen zu können [3]. Die Einnahme von Substanzen zur Bewältigung der Herausforderung im Studium, ohne dass diese Substanzen aufgrund einer ärztlichen Diagnose verschrieben wurden, wird im Folgenden als Neuroenhancement (NE) bezeichnet. Für europäische Studierendenkollektive finden sich, abhängig von den beforschten Substanzen, Prävalenzen für NE zwischen <1% und 22.5% [4], [5], [6], [7].

Während NE bei gesunden Personen als ein missbräuchlicher Substanzkonsum zur Leistungssteigerung angesehen wird, gibt es vermehrt Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und NE. So wurde z. B. NE mit Methylphenidat bei Personen mit nicht diagnostizierten Symptomen der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) als Strategie der „Selbstmedikation“ beschrieben [6], [8], [9]. Weitere Befunde legen eine Assoziation mit erhöhtem Stresslevel [10], [11] und Angst [6], [11], [12] nahe, wohingegen der Zusammenhang mit Depressivität unklar ist [8], [11], [12]. Erhöhter Alkoholkonsum und Rauchen scheinen ebenfalls mit NE assoziiert zu sein [2], [12], [13], was ein Hinweis auf eine generell erhöhte Neigung zu Substanzkonsum darstellen könnte [13].

Angesichts des Fehlens von konsistenten Daten über NE bei Studierenden – insbesondere bei Medizinstudierenden – wurde ein anonymer Survey durchgeführt, um die Prävalenz von NE, Alkohol- und Tabakkonsum zu ermitteln. Darüber hinaus sollten die Zusammenhänge zwischen NE und psychischer Gesundheit, insbesondere Symptomen von ADHS, Angst, Depressivität und Stresserleben, untersucht werden.


2. Methodik

2.1. Studiendesign und Stichprobe

Im Wintersemester 2020/21 wurde eine anonyme Online-Querschnittsbefragung durchgeführt, zu der insgesamt 5564 Studierende elektronisch eingeladen wurden. Diese setzten sich zusammen aus Studierenden der Medizinischen und Zahnmedizinischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (n=2764) und der Fakultät für Wirtschaftsinformatik und Wirtschaftswissenschaften der Fachhochschule Würzburg/Schweinfurt (n=2800). Die Fächer der Fachhochschule wurden ausgewählt, um den hohen Frauenanteil im Medizinstudium auszugleichen.

2.2. Fragebogen

Der Fragebogen bestand aus 53 geschlossenen Fragen. Da es keine deutschsprachigen validierten Instrumente zur Erfassung von NE gibt, wurden die Fragen zu NE in Anlehnung an Middendorf et al. formuliert [14]. Der Fragebogen enthielt eine kurze Definition von NE und eine Auflistung der Substanzen, die in dieser Studie als NE kategorisiert wurden (Methylphenidat, Modafinil, Dexamphetamin, Atomoxetin, Betablocker, Antidepressiva, Antidementiva, Koffeintabletten, Kokain, MDMA (Ecstasy), Amphetamine (Speed), Cannabis). Außerdem wurde das Wissen über NE und dessen Verwendung durch Kommiliton*innen, die Verschreibung einer der genannten Substanzen, und eigene NE-Erfahrungen während der Studienzeit jeweils dichotom (ja/nein) abgefragt. Wenn eigenes NE bejaht wurde, konnten alle verwendeten Substanzen ausgewählt und für jede Substanz das Motiv der Einnahme spezifiziert werden (z. B. Steigerung der Konzentration, zur Beruhigung). Die Abweichung von einer verordneten Medikation wurde in einer separaten Frage erfasst (ja/nein). Der Fragebogen schloss mit einem geschlossenen Item zur Erfassung des Tabakkonsums ab. Als Rauchende wurden Personen klassifiziert, die „tägliches“ oder „gelegentliches“ Rauchen angaben.

Folgende validierte Screeninginstrumente wurden genutzt:

  • ADHS: ADHD Self-Report Scale V1.1 Screener (ASRS-V1 [15])
  • Stress: Perceived Stress Scale (PSS-10 [16])
  • Depressions- und Angstsymptome: Patient Health Questionnaire-4 bestehend aus GAD-2 und PHQ-2 (PHQ-4 [17])
  • Riskanter Alkoholkonsum: Alcohol Use Disorders Identification Test-Consumption (AUDIT-C [18])

2.3. Datenerhebung

Der Bogen wurde elektronisch mit EvaSys® 7.1 erstellt. Ein direkter Link wurde per Mail von den zuständigen Studiendekanaten und über die Fachschaften verbreitet und richtete sich an alle Studierende der Fächer Human- bzw. Zahnmedizin (Universität) sowie Wirtschaftsinformatik bzw. Wirtschaftswissenschaften (Fachhochschule). Der Link war zwischen dem 20.01.2021 und dem 09.03.2021 aktiv. Studierende wurden mindestens einmal an die Umfrage über WhatsApp- oder Facebook-Gruppen erinnert. Zur Steigerung der Antwortrate bestand nach Bearbeitung des Fragebogens die Möglichkeit mittels eines separaten Fensters an der Verlosung von Kinogutscheinen teilzunehmen. Zusätzlich wurde die Befragung durch Aushänge in der Uniklinik beworben. Die Datenerhebung erfolgte vollständig anonym.

2.4. Ethik, Datenmanagement, und Datenschutz

Ein positives Votum der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg (Nr. 2020050502) liegt vor. Fragebogen und Datenverwaltung wurden durch den Datenschutzbeauftragten des Universitätsklinikums Würzburg auf Sicherheit, Anonymität und Rechtskonformität geprüft.

2.5. Datenanalyse

Die Charakteristika der Teilnehmenden wurden bezüglich Alter, Studiensemester und NE deskriptiv nach Studienfach analysiert, sofern Angaben auf der ausgewerteten Variable vorhanden waren (kein Fallausschluss). Die Erhebung des Geschlechts der Studierenden war aufgrund der nicht auszuschließenden Identifizierbarkeit einzelner Personen in kleinen Subgruppen (z.B. kleines Studienfach, dritte Geschlechtskategorie) durch Datenschutzbestimmungen nicht möglich.

Sofern Cut-Off Werte für die Screeninginstrumente etabliert sind, erfolgte die Auswertung der Ergebnisse anhand dieser Cut-Off-Werte:

  • ADHS: 4 oder mehr positive Screening-Items (Item 1-3: ≥2 Punkte, Item 4-6: ≥3 Punkte) im ASRS-V1.1 oder aktuelle ADHS-Diagnose
  • Depressionssymptome: PHQ-2: ≥3 Punkte
  • Angstsymptome: GAD-2: ≥3 Punkte
  • Riskanter Alkoholkonsum: AUDIT-C: ≥4 Punkte

Korrelationen wurden mit dem Pearson-Korrelationskoeffizienten berechnet. Um Zusammenhänge zwischen Screeningergebnissen und NE zu untersuchen, wurde für jedes Instrument ein binomiales logistisches Regressionsmodell berechnet. Dafür wurden nur Datensätze verwendet, die für ASRS, PSS-10, PHQ-4, AUDIT-C und Tabakkonsum vollständig waren (listenweiser Fallausschluss). Alle Daten wurden mit SPSS Version 26.0 analysiert und p-Werte <0.05 als statistisch signifikant angesehen.


3. Ergebnisse

3.1. Stichprobenbeschreibung

Von 5564 befragten Studierenden füllten 1010 den Bogen aus (Rücklauf: 18.2%). Der jeweilige Anteil der Studienfächer ist in Tabelle 1 [Tab. 1] dargestellt. Die größte Gruppe (n=594, 61.9%) bildeten die 21-25-jährigen (Jahrgänge 1996-2000). In absteigender Häufigkeit folgten die Jahrgänge 1991-1995 (n=225, 23.5%), >2001 (n=82, 8.6%) und <1990 (n=58, 6%). Die Altersverteilung schwankte über die Fachbereiche hinweg nur in geringem Ausmaß. Die Anzahl der Studierenden im 1. bis zum 4. Semester (n=394, 39%) unterschied sich nicht signifikant von jenen im 5. bis 8. Semester (n=406, 40.2%). Mehr als acht Semester hatten zum Zeitpunkt der Umfrage 20.8% der Teilnehmer*innen (n=210) studiert.

3.2. Neuroenhancement

Von den 1010 ausgefüllten Fragebögen bejahten 125 Studierende NE im Studium praktiziert zu haben. Somit beträgt die Prävalenz von NE im Studium 12.4%. Die Prävalenz von NE während des Studiums, das Wissen über NE und der Anteil der Kommilitonen, von denen bekannt ist, dass sie Substanzen zum NE konsumieren, sind in Tabelle 2 [Tab. 2] nach Studienfach dargestellt.

Zur Regelmäßigkeit von NE machten 124 Studierende Angaben: Etwa die Hälfte (n=61) verneinte einen regelmäßigen Konsum in den letzten 3 Monaten. Einen fast täglichen Konsum berichteten 11.3% (n=14), einen wöchentlichen Konsum 15.3% (n=19), einen monatlichen Konsum 9.7% (n=12) der Studierenden.

Fast die Hälfte der Studierenden mit NE-Erfahrung berichtete von NE in den letzten 30 Tagen (n=57). Für n=25 (20.3%) war NE zwischen 30 Tage und einem Jahr her, für ein Drittel war mindestens ein Jahr seit der letzten Nutzung vergangen. Am häufigsten wurde die Prüfungsvorbereitung (n=102, 10.1% der Gesamtstichprobe; 81.6% der Nutzer) als Grund für NE angegeben; während des Semesters war NE seltener (n=50, 5% der Gesamtstichprobe; 40% der Nutzer).

Eine ärztliche Verordnung für eine der untersuchten Substanzen hatten 4.7% (n=47) der Teilnehmenden. Von diesen waren 17.0% (n=8) von der verschriebenen Dosis für NE-Zwecke abgewichen. Wenn Abweichungen von der verschriebenen Dosis zu NE gezählt wurden, stieg die Prävalenz von NE von 12.4% auf 12.7% (n=128).

Am häufigsten wurden Koffeintabletten, Cannabis und Methylphenidat zum NE konsumiert (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Koffeintabletten, Methylphenidat, Modafinil und Amphetamine wurden vorwiegend zur Verbesserung von Konzentration, Wachheit, Ausdauer oder Leistung verwendet. Cannabis, Beta-Blocker und Antidepressiva wurden hingegen zur Verbesserung von innerer Ruhe und Ausgeglichenheit konsumiert.

Eine ADHS-Diagnose gaben 34 Personen (3.5%) an. Die Mehrheit der Diagnosen wurden in der Kindheit (n=24, 70.6%), deutlich weniger im Jugend- und Erwachsenalter gestellt (je n=5, 14.7%). Ungefähr ein Drittel dieser Personen nahmen zum Zeitpunkt der Studie die verschriebene Dosis ADHS-Medikation ein (n=12, 35.3%). Diese Fälle wurden nicht als NE klassifiziert.

Tabelle 3 [Tab. 3] gibt einen Überblick über die positiven Screenings auf ADHS, Depressivität, Angst, riskanten Alkoholkonsum und Rauchen nach Studiengang. In der Gesamtstichprobe war das Screening am häufigsten positiv für riskanten Alkoholkonsum (n=366, 38.2%) und Angst (n=330, 32.7%). Rauchen war insgesamt (n=110, 11%) selten.

Der Mittelwert für Stress im PSS-10 war M=28.6 (SD=6.8, n=989). Die höchsten Werte wurden bei Zahnmedizinstudierenden gefunden (MW=31.7, SD=7.2, n=74), die niedrigsten bei Humanmedizinstudierenden (MW=28.0, SD=6.6, n=498).

Für die folgenden Analysen wurden nur vollständig ausgefüllte Screening-Instrumente berücksichtigt, was die Anzahl der Fälle auf 912 reduziert (90.3% der Ausgangsstichprobe). ADHS, Stress, Angst, und Depressivität korrelierten alle signifikant miteinander, wobei Angst und Stress die höchste Korrelation aufwiesen (r=.63). Depressivität hing zusätzlich signifikant mit Rauchen und riskantem Alkoholkonsum zusammen (r=.07), Rauchen mit riskantem Alkoholkonsum (r=.16). Die Korrelationen sind in Tabelle 4 [Tab. 4] dargestellt. Insgesamt waren die Korrelationen zwischen den Prädiktorvariablen gering (r<.70). Dies deutet darauf hin, dass Multikollinearität kein konfundierender Faktor für die folgende logistische Regressionsanalyse ist.

Die Ergebnisse eines binomialen Regressionsmodells für jede Variable einzeln und die Kombination aller Variablen sind in Tabelle 5 [Tab. 5] dargestellt. Das gesamte binomiale Regressionsmodell war statistisch signifikant, χ2(6)=28.40, p<0.001. Die Wahrscheinlichkeit für NE war bei Rauchern 2.49-mal höher als bei Nichtrauchern (AOR 2.49, 95%-KI 1.50-4.11, p<0.001). Ebenso gab es eine positive Assoziation zwischen riskantem Alkoholkonsum und NE (AOR 1.56, 95%-KI 1.05-2.32).


4. Diskussion

In dieser Studie wurde NE in einer großen Kohorte von Studierenden aus vier Fachrichtungen untersucht. Die Stichprobe bestand zu gleichen Teilen aus Studierenden der unteren sowie der höheren Semester. Somit sind für das Medizinstudium Vorklinik und Klinik in einem ausgewogenen Verhältnis vertreten. Studierende gaben eine NE Prävalenz für die Zeit des Studiums von 12.4% an. NE wurde vor allem in Zeiten der Prüfungsvorbereitung eingesetzt, am häufigsten wurden Koffeintabletten konsumiert. Auch Autoren aus Deutschland und der Schweiz berichten über ähnlich hohe Prävalenzen, sofern Koffeintabletten zum NE gerechnet werden [3], [19]. Erfahrungen mit und Wissen über NE stimmen gut mit der bestehenden Literatur überein [20], [21], [22], wobei Medizinstudierende höhere Kenntnisse über NE aufweisen [5]. Die Symptomniveaus der Screenings für ADHS, Angst, und Depressivität waren etwas höher als in der deutschen Allgemeinbevölkerung [23], [24]. Trotz des Einsatzes von validierten Instrumenten entspricht ein Screeningverfahren noch keiner klinischen Diagnose, daher müssen diese Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert werden.

Angst-, Depressions- und Stresssymptome nehmen bei Studierenden in Prüfungszeiten zu [25]. Gleiches gilt für die Zeit während der Covid-19-Pandemie [26]: Die Datenerhebung im Winter 2021 fiel in die Phase des Lockdowns, als nahezu nur Online-Lehre stattfand. Eine andere Studie aus dem gleichen Zeitraum fand bei einem Fünftel der befragten Medizinstudierenden ein positives Angst- oder Depressionsscreening, was vergleichbar mit unseren Ergebnissen ist [27]. Das Stressniveau war in unserer Stichprobe im Vergleich zu anderen deutschen Studierenden während der Pandemie sogar höher [28].

NE war positiv mit Symptomen von ADHS assoziiert. ADHS ist ein wichtiger Risikofaktor für Substanzmissbrauch, unser Ergebnis eines höheren Konsums von illegalem oder nicht verschriebenen Substanzen im Sinne von NE bei Personen mit ADHS-Symptomen wird durch die Literatur bestätigt [24].

Verbindungen von Angst, Depressivität und Stress zu NE sind wiederholt berichtet worden [2], [11], [29]. In unserer Studie war Stress nur gering, aber signifikant mit NE assoziiert, wobei Stress hohe Korrelationen mit Angst und Depressivität aufwies. Auch wenn wir keinen detaillierten Einblick in die spezifische Motivation für NE hatten, könnten die Assoziationen darauf hindeuten, dass NE als Bewältigungsstrategie eingesetzt wird, um Stress zu reduzieren, indem die kognitive Leistungsfähigkeit erhöht und negative Emotionen abgeschwächt werden. Diese Interpretation könnte insbesondere für Prüfungsphasen gelten. Andererseits könnten Stress, Depression- und Angstsymptome auch eine Folge des Substanzkonsums sein, was durch eine Querschnittstudie allerdings nicht erfasst werden kann.

In einem Modell mit allen Screeninginstrumenten wurden nur noch Zusammenhänge von NE mit riskantem Alkoholkonsum und Tabakkonsum gefunden, ähnlich wie in anderen Studien [12], [13]. Der Vergleich der Mittelwerte von wahrgenommenem Stress zwischen den Gruppen mit und ohne riskantem Alkoholkonsum bzw. bei Rauchern und Nichtrauchern ergab keine signifikanten Unterschiede. Dies legt nahe, dass Personen, die Alkohol oder Nikotin konsumieren, generell eher zu riskanterem Gesundheitsverhalten neigen.

4.1. Limitationen und Stärken

Unser Rücklauf war mit 18% etwas geringer als in ähnlichen Studien (25% [2] bzw. 22% [3]). Relativ niedrige Rücklaufquoten könnten mit der Koinzidenz zu Prüfungszeiten (Semesterende) zusammenhängen. Eine Stärke, aber auch eine Limitation ist die zeitliche Nähe mit dem zweiten Lockdown der COVID-19-Pandemie. Das Semester wurde größtenteils online abgehalten, soziale Interaktion war seit Dezember 2020 auf ein Minimum reduziert. Dies kann die Vergleichbarkeit mit Studien aus der Zeit vor der Pandemie einschränken. Die vorliegende Studie liefert aber wertvolle Erkenntnisse über das Konsumverhalten bezüglich NE, Alkohol und Tabak sowie die psychische Gesundheit der Studierenden während der Pandemie. Dennoch müssen die Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert werden, da zum Teil hohe Korrelationen zwischen den Prädiktoren vorlagen, wobei keine höher als 0.7 ausfiel.

Das Geschlecht durfte zur Wahrung der Anonymität nicht erhoben werden. Da 72% der Medizinstudierenden in Würzburg weiblich sind, und das männliche Geschlecht eher mit riskantem Gesundheitsverhalten wie Alkoholkonsum und Rauchen einhergeht [30], [31], suchten wir Studiengänge mit einem höheren Anteil männlicher Studierender aus (Wirtschaftsinformatik und -wissenschaften). Allerdings stellten Medizinstudierende immer noch die größte Untergruppe dar, was aufgrund ihres geringeren Konsums zu einer Unterschätzung der Prävalenz von NE geführt haben könnte. Die Startseite der Umfrage könnte durch Salientmachung des Themas NE stark auf die Selektion der Teilnahme gewirkt haben, was zu einer Überschätzung von NE geführt haben könnte. Es wurde zudem nicht für Mehrfachteilnahmen kontrolliert.

Stärken unserer Erhebung sind der große Stichprobenumfang, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass die vorliegende Arbeit als erste Studie sich dem Thema NE am Hochschulstandort Würzburg zuwendet. Weiterhin konnte durch die Nutzung etablierter Screeninginstrumente eine gute Datenqualität erzielt werden.

4.2. Fazit für die Praxis

  • NE ist ein häufiges Phänomen bei Studierenden und mit psychischen Problemen assoziiert, wobei zugrundeliegende kausale und zeitliche Zusammenhänge unklar bleiben.
  • NE kann als Marker für einen Bedarf an psychosozialer Unterstützung für Studierende interpretiert werden.
  • Studierende, die unter starkem psychischen Druck stehen oder gefährdet sind, könnten u.a. von Stressbewältigungsprogrammen profitieren. Diese sollten darauf abzielen, NE durch die Vermittlung alternativer Bewältigungsstrategien zu reduzieren.
  • Die Fortführung der Forschung zu NE am Standort Würzburg, nach der Pandemie und mit einer Ausweitung der Stichprobe auf andere Fachbereiche ist wünschenswert.
  • Ein longitudinales Studiendesign, böte die Möglichkeit die Veränderung von NE und psychischer Gesundheit während des Studiums zu untersuchen

Anmerkungen

ORCIDs der Autor*innen

Erstautorenschaft

Die Autor*innen Maurice Hajduk und Elena Tiedemann teilen sich die Erstautorenschaft.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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