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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Förderliche Faktoren für die Bereitschaft zu einer ärztlichen Tätigkeit in ländlichen Regionen und Bekanntheit von Landkreisen im Einzugsgebiet der eigenen Universität – eine Querschnittstudie unter Medizinstudierenden in Mitteldeutschland

Artikel Landärztliche Tätigkeit

  • corresponding author Christine Brütting - Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät, Institut für Allgemeinmedizin, Halle (Saale), Deutschland
  • author Sabine Herget - Universität Leipzig, Medizinische Fakultät, Selbständige Abteilung für Allgemeinmedizin, Leipzig, Deutschland
  • author Felix Bauch - Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät, Institut für Allgemeinmedizin, Halle (Saale), Deutschland
  • author Melanie Nafziger - Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät, Institut für Allgemeinmedizin, Halle (Saale), Deutschland
  • author Anja Klingenberg - aQua - Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH, Göttingen, Deutschland
  • author Tobias Deutsch - Universität Leipzig, Medizinische Fakultät, Selbständige Abteilung für Allgemeinmedizin, Leipzig, Deutschland
  • author Thomas Frese - Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät, Institut für Allgemeinmedizin, Halle (Saale), Deutschland

GMS J Med Educ 2023;40(4):Doc52

doi: 10.3205/zma001634, urn:nbn:de:0183-zma0016343

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2023-40/zma001634.shtml

Eingereicht: 23. November 2022
Überarbeitet: 13. März 2023
Angenommen: 6. April 2023
Veröffentlicht: 15. Juni 2023

© 2023 Brütting et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Viele Universitäten bieten landärztliche Praktika für Studierende an. Die vorliegende Umfrage sollte zeigen, wie die ärztliche Tätigkeit auf dem Land von Studierenden wahrgenommen wird, ob diese Wahrnehmungen mit Herkunft und Vorerfahrungen assoziiert sind und wie gut Medizinstudierende ländliche Regionen im Umfeld ihrer Universität kennen. Zudem wurden die Studierenden gefragt, wie man Medizinstudierende dabei unterstützen und dafür begeistern kann, später in einer ländlichen Region zu arbeiten.

Methodik: Die Querschnittstudie basiert auf einer anonymen Online-Umfrage der Medizinstudierenden der Universitäten Halle-Wittenberg und Leipzig. Die Auswertungen beinhalteten deskriptive Statistik, statistische Gruppenvergleiche sowie qualitativ-inhaltsanalytische Analysen von Freitextantworten.

Ergebnisse: Insgesamt nahmen 882 Studierende an der Umfrage teil. Studierende, die in einer ländlichen Region aufgewachsen waren oder länger dort gelebt hatten (71,7% der Befragten), schätzten die Work-Life-Balance (p<0,01) besser und die Patient*innenvielfalt (p<0,05) auf dem Land etwas höher ein als ihre Kommiliton*innen aus der Großstadt. Studierende, die schon einmal in einer Praxis oder einem Krankenhaus in einer ländlichen Region gearbeitet hatten (62,2%), schätzten die Patient*innenvielfalt (p<0,001) und die Abwechslung in der Arbeit (p<0,001), aber auch die Arbeitsbelastung (p<0,01) auf dem Land etwas höher ein als Studierende ohne Vorerfahrung. Die Modellregionen waren im Durchschnitt mehr als 60 % der Studierenden noch unbekannt. Die Vorschläge zur Gewinnung von Medizinstudierenden für eine spätere landärztliche Tätigkeit umfassten neben finanziellen Anreizen vor allem eine bessere Informationsvermittlung über das Landärzt*inleben und die ländlichen Regionen.

Schlussfolgerung: Universitäten und die von ärztlicher Unterversorgung bedrohten Landkreise sollten die Wissens- und vor allem die Erfahrungsvermittlung bezüglich des Landärzt*inlebens für die Studierenden weiter ausbauen.

Schlüsselwörter: Ärztemangel, Curriculumsentwicklung, ländliche Regionen, Studierendenbefragung


Einleitung

In Deutschland sowie in vielen anderen westlichen Ländern zeichnet sich vor allem in ländlichen Regionen ein zunehmender Ärzt*innenmangel ab [1], [2], [3]. Verschiedene Faktoren können dazu beitragen, dass sich Medizinstudierende für eine landärztliche Tätigkeit entscheiden [4]. Besonders wichtig ist dabei ein persönlicher Bezug zur ländlichen Region. So fühlen sich Medizinstudierende, die hauptsächlich in einer ländlichen Region aufgewachsen sind, auch eher mit dieser Region verbunden [5]. Eine Möglichkeit, den Bezug zu ländlichen Regionen zu fördern, stellen regionale Praktika dar [6], [7].

MiLaMed („Mitteldeutsches Konzept zur longitudinalen Integration landärztlicher Ausbildungsinhalte und Erfahrungen in das Medizinstudium“) ist ein kooperatives Lehrprojekt der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Universität Leipzig mit dem Ziel, ein longitudinales Curriculum zur Versorgung im ländlichen Raum zu etablieren [https://www.milamed.de]. Das Konzept beinhaltet in das universitäre Pflicht- und Wahlpflichtcurriculum implementierte Lehrinhalte, ergänzende Online-Lehrinhalte zur Begleitung ländlicher Praktika sowie die gezielte Unterstützung und Förderung von Praktika in 4 von Unterversorgung betroffenen Modellregionen (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Die Förderangebote umfassen dabei alle wesentlichen Praktika des Medizinstudiums in Deutschland, wie z. B. Pflegepraktika, Famulaturen oder PJ-Tertiale in unterschiedlichen Fachbereichen. Zudem werden die Studierenden bei der Suche nach Übernachtungsmöglichkeiten unterstützt und die Kosten für Fahrt und Unterbringung übernommen. Seitens der beteiligten Landkreise wird bei längeren Praktikumsaufenthalten ein Freizeitkostenzuschuss gewährt.

Die Erprobungsphase von MiLaMed begann im April 2020 und wurde durch das aQua-Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH (Göttingen) evaluiert. Zu Beginn der Erprobungsphase wurde eine Befragung unter allen Medizinstudierenden beider beteiligter Universitätsstandorte durchgeführt, um die Ausgangssituation vor Verfügbarmachung der neuen Angebote zu beschreiben. Dabei wurden die Studierenden gefragt, wie sie aktuell die ärztliche Tätigkeit in einer ländlich geprägten Region im Vergleich zur Großstadt einschätzen, inwieweit ihnen 2 ländlich-kleinstädtisch geprägte Landkreise im Einzugsbereich der Universität bekannt sind und wie sie diese bezüglich der landschaftlichen Attraktivität, der vorhandenen Freizeitmöglichkeiten sowie der Infrastruktur bewerten. Zusätzlich wurden die Studierenden gefragt, wie aus ihrer Sicht Medizinstudierende dabei unterstützt und dafür gewonnen werden könnten, später in einer ländlich-kleinstädtischen Region ärztlich tätig zu werden.


Methodik

Studiendesign und Population

Die Querschnittbefragung wurde im Zeitraum vom 08. April bis 18. Mai 2020 online und anonym durchgeführt. Der Link zum Fragebogen sowie ein Anschreiben mit Erläuterungen zum Studienhintergrund wurden allen Studierenden der Humanmedizin der Universitäten Leipzig und Halle-Wittenberg per E-Mail von zentraler Stelle zugesandt. An der Universität Halle waren im Sommersemester 2020 im Studienfach Humanmedizin ca. 1380 Studierende (63,1% weiblich) und an der Universität Leipzig 2250 Studierende (65,9% weiblich) immatrikuliert. Eine gültige E-Mail-Adresse lag unserem Institut in Halle von 1217 und in Leipzig von 1868 Medizinstudierenden vor. Zur Erhöhung der Rücklaufquote wurden zwei Erinnerungs-E-Mails (Reminder nach 3 und 5 Wochen) versendet. Zusätzlich wurde in den jeweiligen Studierendenportalen auf die Befragung aufmerksam gemacht.

Instrument

Der Fragebogen wurde vom aQua-Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH (Göttingen) in Zusammenarbeit mit den Abteilungen für Allgemeinmedizin in Halle und Leipzig in einem interdisziplinären Team entwickelt. Erfasst wurden neben soziodemografischen Angaben, bisherige Berufs- und Praktikumserfahrungen, Einstellungen zu einer späteren ärztlichen Tätigkeit im urbanen oder kleinstädtisch-ländlichen Raum, vergleichende Einschätzungen zu urbaner und ländlicher ärztlicher Tätigkeit sowie Kenntnisse und Einschätzungen zu den MiLaMed-Modellregionen des jeweiligen Standortes. Im Freitextformat wurde erfragt, wie Medizinstudierende hinsichtlich einer späteren ärztlichen Tätigkeit im ländlich-kleinstädtischen Raum unterstützt bzw. dafür gewonnen werden könnten. Vor Durchführung der Hauptbefragung wurde der Fragebogen auf Basis eines Pre-Tests mit 17 Studierenden beider Universitäten (12 weiblich, 5 männlich) optimiert.

Datenanalyse

Die statistische Analyse erfolgte mit IBM SPSS Statistics 25. Zur Berücksichtigung fehlender Werte in einzelnen Items werden Häufigkeiten als % (n/ngültig) dargestellt. Für metrische Variablen wurden das arithmetische Mittel und die Standardabweichung angegeben.

In der Studierendenbefragung konnte man zur Frage der Herkunft zwischen „Großstadt“, „Kleinstadt“ und „Land“ wählen. Da sich die Einstellungen von Studierenden aus der Kleinstadt und vom Land nur marginal unterschieden haben, haben wir diese 2 Gruppen in unserer Auswertung als eine Gruppe betrachtet.

Die Einschätzungen zur ärztlichen Tätigkeit in ländlicher Region im Vergleich zur Großstadt konnten auf einer fünfstufigen Skala (viel geringer, etwas geringer, etwa gleich, etwas höher, viel höher) abgegeben werden. Für die betreffenden Einschätzungen wurden zusätzlich zur deskriptiven Auswertung über die gesamte Stichgruppe Gruppenvergleiche im Hinblick auf die Variablen „Herkunft“ (Land/Kleinstadt vs. Großstadt) sowie „Erfahrung mit landärztlicher Tätigkeit“ (Erfahrung vs. keine Erfahrung) durchgeführt. Für Häufigkeitsvergleiche wurde der Chi-Quadrat-Test, für Vergleiche der zentralen Tendenz (mangels Normalverteilung gemäß Kolmogorov-Smirnov-Test) der Mann-Whitney-U-Test durchgeführt. Signifikanz wurde angenommen für eine Irrtumswahrscheinlichkeit von p<0,05.

Die Freitext-Antworten der Studierenden wurden nach der Methode der inhaltlich-strukturierenden und quantifizierenden Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring [8] kategorisiert. Hierzu wurden nach Sichtung des Gesamtmaterials von zwei unabhängigen Wissenschaftler:innen induktiv Kategoriensysteme erstellt, anschließend verglichen und im Konsensusverfahren angepasst. Danach wurden alle Aussagen diesen Kategorien zugeordnet. Die zusätzliche Zuordnung durch eine dritte, bis dahin unbeteiligte Wissenschaftlerin ergab eine zufallskorrigierte Interrater-Reliabilität von 0,91 (Cohens‘ K). Final wurden für alle Kategorien absolute und relative Häufigkeiten berechnet.


Ergebnisse

Stichprobenbeschreibung

Von den insgesamt angeschriebenen 3085 Studierenden nahmen 882 an der Befragung teil (Rücklaufquote=28,6%). Das Durchschnittsalter der vornehmlich weiblichen Befragten betrug 24,0 Jahre und für knapp zwei Drittel kam eine ländlich geprägte Region für eine spätere ärztliche Tätigkeit generell in Frage (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]). Studierende, welche in einer ländlich geprägten Region aufgewachsen waren oder längere Zeit dort gelebt hatten (632/882), konnten sich eher eine spätere ärztliche Tätigkeit auf dem Land vorstellen als Studierende, die in einer Großstadt aufgewachsen sind (72,6% vs. 37,6%, p<0,001). Studierende, die schon einmal in einer Praxis oder einem Krankenhaus in einer ländlich geprägten Region gearbeitet hatten (549/882), konnten sich eher eine spätere ärztliche Tätigkeit auf dem Land vorstellen als Studierende, die nicht über entsprechende Vorerfahrung verfügten (74,7% vs. 42,9%, p<0,001).

Wahrnehmung ärztlicher Tätigkeit in ländlichen Regionen

Nahezu alle Befragten vermuteten eine größere Kontinuität in der Ärzt*in-Patient*in-Beziehung in ländlichen Regionen im Vergleich zur Großstadt. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, der Anspruch der ärztlichen Tätigkeit und die Möglichkeit zu ausgeglichener Work-Life-Balance wurden in einer ländlichen Region im Durchschnitt über alle Befragten höher eingeschätzt als in der Großstadt, die Lebenshaltungskosten geringer. Die Vielfalt der Patient*innen, die Abwechslung in der ärztlichen Tätigkeit, die Verdienstmöglichkeiten und die Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung wurden dagegen in einer ländlich geprägten Region im Durchschnitt etwas geringer und die Arbeitsbelastung höher eingeschätzt als in großstädtischer Lage (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]).

Studierende, die in einer ländlichen Region aufgewachsen waren (632/882), schätzten die Work-Life-Balance (p<0,01) besser und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (p<0,05) sowie die Vielfalt der Patient*innen auf dem Land (p<0,05) etwas höher ein als ihre Kommiliton*innen aus der Großstadt (siehe Abbildung 3a [Abb. 3]). Studierende, die bereits in einer ländlichen Region in einer Praxis oder einem Krankenhaus gearbeitet hatten (549/882), schätzten die Vielfalt der Patient*innen (p<0,001), die Abwechslung in der ärztlichen Tätigkeit (p<0,001) und die Kontinuität der Ärzt*in-Patient*in-Beziehung (p<0,05), aber auch die Arbeitsbelastung (p<0,01) bei einer ärztlichen Tätigkeit auf dem Land im Vergleich zur Großstadt etwas höher ein als Studierende ohne entsprechende Erfahrungen (siehe Abbildung 3b [Abb. 3]).

Unter den Studierenden, die in einer ländlichen Region aufgewachsen waren, hatten 72,8% schon einmal in einer ländlichen Region in einer Praxis oder einem Krankenhaus gearbeitet (460/632). Von den Studierenden, die in einer Großstadt aufgewachsen waren, hatten immerhin 35,6 % (89/250) in einer ländlichen Region in einer Praxis oder einem Krankenhaus gearbeitet.

Bekanntheit ländlicher Regionen

Von den Studierenden aus Halle kannten 66,4% (182/274) die Region Mansfeld-Südharz und 60,2% (165/274) die Region Anhalt-Bitterfeld bisher nicht oder hatten nur darüber gehört oder gelesen. Im Vergleich dazu kannten von den Studierenden aus Leipzig 49,0% (298/608) die Region Nordsachsen und 66,3% (403/608) die Region Vogtlandkreis bisher nicht oder hatten nur darüber gehört oder gelesen.

Insgesamt wurden die Landkreise zum überwiegenden Teil als landschaftlich attraktiv beschrieben, die Freizeitmöglichkeiten entsprechend der eigenen Interessen und die Infrastruktur wurden hingegen im Durchschnitt deutlich schlechter bewertet. Immerhin ca. 20-25% der Studierenden, die schon mindestens einmal in einer der Modellregionen gewesen waren, konnte sich vorstellen, in diesen Regionen ärztlich zu arbeiten. Knapp 20 % der Studierenden konnten sich sogar vorstellen, dort auch zu wohnen. Interessanterweise konnten in den Kategorien Freizeitmöglichkeiten und Infrastruktur etwa 20% der Studierenden dazu keine Einschätzung abgeben, weil ihnen das entsprechende Wissen fehlte (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).

Anregungen zur Gewinnung Medizinstudierender für eine spätere landärztliche Tätigkeit

Die Teilnehmenden wurden nach ihrer Sichtweise befragt, wie man Medizinstudierende dabei unterstützen und dafür begeistern kann, später in einer ländlich-kleinstädtischen Region zu arbeiten. Hierbei hatten 470 von 882 Studierenden die Möglichkeit einer Freitextangabe genutzt. So konnten insgesamt 1227 Aussagen in 9 Kategorien und 22 Unterkategorien gruppiert werden (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Neben finanziellen Anreizen (z. B. Landarztzuschlag oder Stipendienprogramme sowie geförderte Praktika in ländlichen Gebieten) und mehr Informationen über das Landarztleben während des Studiums (z. B. Erfahrungsaustausch mit Landärzt*innen, Summerschools, Informationen zur Niederlassung) gab es auch Anregungen zu den Regionen (z. B. mehr Informationen über die dortige ärztliche und kulturelle Vielfalt, eine verbesserte Infrastruktur, die Möglichkeit einer Anstellung statt einer Niederlassung).


Diskussion

Wahrnehmung ärztlicher Tätigkeit in ländlichen Regionen

Im Vergleich zur ärztlichen Tätigkeit in der Großstadt sehen viele Studierende im Rahmen einer Tätigkeit im ländlichen Raum eine höhere Kontinuität in der Ärzt*in-Patient*in-Beziehung, eine ausgeglichenere Work-Life-Balance, einen höheren Anspruch der ärztlichen Tätigkeit, aber auch eine höhere Arbeitsbelastung. Hingegen werden Abwechslung in der Tätigkeit und Patient*innenvielfalt ebenso als geringer eingeschätzt, wie Verdienstmöglichkeiten und Möglichkeiten der Freizeitgestaltung (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]). Allerdings sind einige dieser Aspekte Vorurteile. So ist aus der Literatur bekannt, dass die meisten Landärzt*innen ihre Tätigkeit als sehr abwechslungsreich empfinden [9]. Zudem ist das Einkommen der Landärzt*innen durchschnittlich sogar höher als das der niedergelassenen Kolleg*innen in der Stadt [10]. Dafür behandeln Landärzt*innen aber auch tatsächlich im Durchschnitt mehr Patient*innen [11], [12].

Obwohl sowohl eine ländliche Herkunft als auch Vorerfahrungen mit ärztlicher Tätigkeit auf dem Land bei den Studierenden dazu führen, dass sie sich eine landärztliche Tätigkeit eher vorstellen können, unterscheidet sich die Einschätzung einzelner Aspekte landärztlicher Tätigkeit (inklusive der Vorurteile) zu Studierenden aus der Großstadt oder ohne Vorerfahrung interessanterweise nicht sehr stark (siehe Abbildung 3 [Abb. 3]). Möglicherweise braucht es die Erfahrung mehrerer Praktika, um Vorurteile abzubauen. So zeigte sich in einer Langzeitbeobachtung australischer Medizinstudierender, dass sich die Einstellung zum Landarztleben mit der Anzahl der Praktika in ländlichen Regionen immer weiter veränderte [13]. Zudem wurde der positive Einfluss von Mentor*innen umso deutlicher, je weiter die Studierenden in ihrer klinischen Rotation auf dem Land fortgeschritten waren [13]. Da könnten Projekte wie MiLaMed ansetzen, um z. B. durch den Kontakt zwischen Studierenden und Landärzt*innen sowie über die Förderung von Praktika in ländlichen Regionen Vorurteile abzubauen.

Bekanntheit ländlicher Regionen

Nur etwa ein Drittel bis die Hälfte der Studierenden kannte die kleinstädtisch-ländlichen Modell- Regionen im direkten Einzugsgebiet ihrer Universität. Es scheinen dabei Regionen bekannter zu sein, die nah am Studienort liegen. So sind im Landkreis Nordsachsen, welcher sich direkt an die Stadt Leipzig anschließt (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]) und von den Studierenden mit dem Semesterticket kostenlos bereist werden kann, mehr als die Hälfte der befragten Leipziger Studierenden bereits mindestens einmal dort gewesen. Wenn man sich die (haus-)ärztliche Versorgung im Landkreis Nordsachsen genauer ansieht, so weisen die direkt an Leipzig angrenzenden ehemaligen Kreise Delitzsch und Eilenburg im Gegensatz zum weiter entfernten Torgau auch einen deutlich geringeren Ärzt*innenmangel auf [14]. Dieses Muster der besseren ärztlichen Versorgung in urbaneren Regionen ist auch für ganz Deutschland gezeigt worden [15].

Bei etwa einem Viertel der Studierenden, die schon mindestens einmal in einer der Modellregionen waren, gab es eine generelle Bereitschaft, in diesen Landkreisen später ärztlich tätig zu werden. Innerhalb der Gesamtstichprobe konnten sich etwa drei Fünftel der Befragten vorstellen, in einer ländlich geprägten Region zu arbeiten. Die deutlich geringeren Zahlen für die konkreten Modellregionen könnten also durchaus mit den entsprechenden Regionen zusammenhängen. Viele Studierende kommen aufgrund des Zentralvergabeverfahrens der Studienplätze Medizin aus anderen Bundesländern und können sich möglicherweise eher vorstellen, später im Umfeld ihrer Heimatregion tätig zu werden.

In den Landkreisen Nordsachsen, Anhalt-Bitterfeld und Mansfeld-Südharz können sich die Studierenden eher vorstellen, dort zu arbeiten als dort zu wohnen. Im Gegensatz dazu können sich die Studierenden den Voigtlandkreis als potenziellen Lebensmittelpunkt in gleicher Weise vorstellen wie als Arbeitsmittelpunkt. Ursache ist womöglich die lange Pendelzeit. So benötigt man sowohl mit dem Auto als auch mit der Bahn von Leipzig in den Landkreis etwa 1,5 bis 2 Stunden. Man weiß aber aus früheren Befragungen von Medizinstudierenden, dass so gut wie niemand bereit ist, mehr als eine Stunde Pendelzeit zu investieren [16]. Zudem wird der Vogtlandkreis mit Abstand als der landschaftlich attraktivste wahrgenommen und auch im Bereich Freizeitmöglichkeiten schneidet er im Vergleich zu den anderen Regionen doppelt so gut ab (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).

Interessanterweise haben aber etwa 20 % der Studierenden, die schon einmal in den Modellregionen gewesen sind, vor allem in den Bereichen Freizeitmöglichkeiten und Infrastruktur Informationslücken. Auch hier können Projekte wie MiLaMed ansetzen, um Studierende gezielt zu informieren.

Anregungen zur Gewinnung Medizinstudierender für eine spätere landärztliche Tätigkeit

Die Ergebnisse der qualitativen Analyse der Empfehlungen der Studierenden im Hinblick auf eine Motivierung für eine spätere ärztliche Tätigkeit im ländlichen Raum betonen neben finanziellen Anreizen (wie z. B. eine höhere Vergütung für landärztliche Tätigkeiten oder die finanzielle Förderung und kostenfreie Unterbringung bei Praktika) insbesondere die Bedeutung von Informationen und Inhalten zu landärztlichen Themen während des Studiums sowie das Sichtbar- und Erfahrbarmachen von ärztlicher und kultureller Vielfalt in ländlichen den Regionen (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Bei diesen Vorschlägen fällt auf, dass MiLaMed mit seinem konzeptuellen Ansatz sehr vieles von dem bereits bedienen kann. Die vorliegende Studierendenbefragung fand direkt zu Beginn der Erprobungsphase des Projektes MiLaMed statt. Daher ist der Vergleich der hier vorliegenden Ergebnisse der Eingangsbefragung mit den Ergebnissen einer zweiten Online-Befragung, zwei Jahre nach Projektbeginn, von besonderem Interesse. Dieser Vergleich wird zeigen, in welcher Hinsicht das Konzept von MiLaMed erfolgreich war und wo es gegebenenfalls noch optimiert werden könnte.


Stärken und Limitationen

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einem wichtigen Thema von hoher gesundheitspolitischer Relevanz. Die Beteiligung von insgesamt 882 Studierenden aller sechs Studienjahre an zwei Medizinischen Fakultäten unterstützt die Aussagekraft der Ergebnisse. Die Rücklaufquote von insgesamt 28,6 % ist im Kontext freiwilliger Online-Befragungen als gut zu bewerten und die Verteilung wichtiger Stichprobencharakteristika wie Alter und Geschlecht erscheint repräsentativ für die Medizinstudierenden in Deutschland zum Zeitpunkt der Befragung [17]. Einige Limitationen sollten jedoch bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden. Zwar wurden die Medizinstudierenden im Anschreiben zur Online-Befragung ausdrücklich motiviert, unabhängig von ihrer Einstellung zu einer möglichen späteren landärztlichen Tätigkeit an der Befragung teilzunehmen. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass Studierende, die sich für diese Thematik interessieren und dafür offen sind, häufiger teilgenommen haben könnten als andere. Es ist daher möglich, dass unter den Befragungsteilnehmern die Einstellung zu einer ärztlichen Tätigkeit in einer ländlichen Region positiver ausfällt als im Durchschnitt aller Medizinstudierenden. Zudem können wir nicht sagen, ob die von den Studierenden in den Freitexten geäußerten Präferenzen tatsächlich zu einer ärztlichen Tätigkeit im ländlichen Raum führen oder ob zum Zeitpunkt einer möglichen Niederlassung nicht zusätzlich auch andere Faktoren für oder gegen eine Niederlassung im ländlichen Raum sprechen. Hierzu wären Langzeitbeobachtungen oder Vorher-Nachher-Befragungen notwendig.


Förderung

Das Projekt MiLaMed wird gefördert vom Bundesministerium für Gesundheit (FKZ: ZMVI1-2520FEP002).


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

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