gms | German Medical Science

GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Joachim Küchenhoff, Martin Teising: Sich selbst töten mit Hilfe Anderer. Kritische Perspektiven auf den assistierten Suizid

Buchbesprechung Rezension

Suche in Medline nach

  • corresponding author Luise Wagner - Universitätsklinikum Jena, Institut für Allgemeinmedizin, Jena, Deutschland

GMS J Med Educ 2023;40(4):Doc40

doi: 10.3205/zma001622, urn:nbn:de:0183-zma0016223

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2023-40/zma001622.shtml

Eingereicht: 24. Februar 2023
Überarbeitet: 24. Februar 2023
Angenommen: 24. Februar 2023
Veröffentlicht: 15. Juni 2023

© 2023 Wagner.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Bibliographische Angaben

Joachim Küchenhoff, Martin Teising

Sich selbst töten mit Hilfe Anderer. Kritische Perspektiven auf den assistierten Suizid

Verlag: Psychosozial Verlag

Erscheinungsjahr: 2022, Seiten: 275, Preis: € 34,90

ISBN: 978-3-8379-3171-6


Rezension

Das Deutsche Bundesverfassungsgericht befand Anfang 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zum Suizid für verfassungswidrig. Damit fällte es ein historisches Urteil, in dessen Begründung die zunehmend individualistische Ausrichtung sowohl des individuellen als auch gesellschaftlichen Lebens widerhallt. Joachim Küchenhoff und Martin Teising gaben zwei Jahre später ein Buch heraus, das dieses Urteil und seine Bedeutung für das Individuum und die im Titel bedachten „Anderen“ aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch betrachtet.

Auf ein kontextualisierendes Vorwort der Herausgeber folgen insgesamt 14 jeweils für sich stehende Beiträge in vier Teilen. Am umfangreichsten ist der erste Teil, der sich mit den Rahmenbedingungen der Diskussion über den assistierten Suizid auseinandersetzt. Hierbei liegt der Fokus insbesondere auf dem anlassgebenden Urteil und dessen ‚fehlgeleiteten‘ Verständnis des Autonomie- und Freiheitsbegriffs als zentralem Kritikpunkt. Anschließend folgen im zweiten Teil Überlegungen zum assistierten Suizid in der Medizin. Neben einem breit angelegten Plädoyer des Arztes und Philosophen Giovanni Maio an die Gesellschaft im Allgemeinen und die Medizin im Besonderen für mehr Engagement, um Menschen keinen Grund zu geben, den Suizid in Erwägung zu ziehen, fokussieren sich die anderen beiden Beiträge vor allem auf den psychiatrischen Kontext. Im dritten Teil wird die bisher in der öffentlichen Debatte wenig diskutierte Beziehung zwischen Suizident*innen und ihren Helfer*innen thematisiert. Dies geschieht vorrangig aus der psychoanalytischen Perspektive, welche wiederholt den psychodynamischen Prozess bis an die Wurzel der Suizidalität aufrollt. Abschließend widmen sich im vierten Teil die letzten beiden Beiträge gesellschaftlichen und kulturellen Aspekten des assistierten Suizids. Herausstechend anders ist dabei der Beitrag von Lisa Werthmann-Resch, in dem sie die Dynamik des Suizids in der von Franz Schubert vertonten „Winterreise“ sowie im gleichnamigen zeitgenössischen Film von Hans Steinbichler analysiert.

Die Weite der Blickwinkel sowie die (im Sinne einer mehr oder weniger konstruktiven Kritik) teilweise resultierenden Lösungsansätze und Forderungen variieren zwischen den Beiträgen von breit und allgemein bis fokussiert und konkret: Wortgewaltige philosophische Argumentationen regen weitreichende Gedanken an, lassen lösungsorientierte Leser*innen mangels eines praktikablen Ausblicks jedoch möglicherweise unbefriedigt zurück. In anderen Beiträgen wiederum werden die behandelten Aspekte und konkreten Umgangsmöglichkeiten anhand in der Geschichte oder der Nahfeldempirie der Autor*innen verankerter Fallskizzen plastisch illustriert.

Obwohl der Klappentext breit angelegte interdisziplinäre Betrachtungen der Thematik verspricht, erscheinen die insgesamt 17 Autor*innen auf den ersten Blick durch ihre mehrheitlich psychiatrischen und psychotherapeutischen, insbesondere psychoanalytischen Hintergründe recht homogen. Dieser Umstand findet auch im Vorwort der Herausgeber Erwähnung. Tatsächlich lassen sich inhaltliche Redundanzen einiger zentraler Aspekte in den verschiedenen Beiträgen nicht leugnen. So taucht Freud – wenig überraschend bei einem psychoanalytischen Fokus – sowohl als Urvater psychoanalytischer Gedankenkonstrukte als auch als prominentes historisches Fallbeispiel eines mit Hilfe anderer Sterbenden regelmäßig in den Beiträgen auf. Des Weiteren befassen sich mehrere Beiträge mit dem Paradox zweier unvereinbarer Bestrebungen: Autonomie verstanden als absolute Unabhängigkeit von anderen auf der einen Seite und die grundlegend soziale conditio humana als lebenslanges Angewiesensein auf andere auf der anderen Seite. Wiederum wird in der wiederholten Betonung dieses Konflikts dem Buchtitel Rechnung getragen, der eben jenen anderen – den Suizidassistent*innen, Therapeut*innen, Angehörigen und der Gesellschaft – besondere Beachtung schenkt.

Trotz der deutlich psychoanalytischen Färbung bietet das Buch interessierten Leser*innen eine Vielfalt an Zugängen und Argumentationslinien, um sich ausgewählten Teilaspekten des assistierten Suizids zu nähern. Diese Vielfalt der Betrachtungen einer so existenziellen Thematik fordert unterschiedliche Grade des sich-angesprochen-Fühlens und nachvollziehen-Könnens der einzelnen Beiträge bei den Leser*innen geradezu heraus. Damit kann das Buch in ihnen genau das provozieren, was es auch seinen Autor*innen abverlangt hat: Eine kritische Auseinandersetzung mit Diskussionspunkten rund um den assistierten Suizid und die Suche nach der eigenen inneren Haltung dazu. Die beim Lesen hervorgerufene Zustimmung oder Ablehnung kann hilfreiche Fährten auf dem Weg zu einer eigenen Positionierung legen.

Ein kritischer Blick ist seitens der Leser*innen bei der Lektüre allerdings dahingehend gefordert, als dass der zentrale Begriff des assistierten Suizids nicht in allen Beiträgen immer korrekt von Tötung auf Verlangen abgegrenzt wird. Auch plötzliche Sprünge der inhaltlichen Diskussionen zwischen unterschiedlichen Jahren, Nationen und damit auch verschiedenen rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen können insbesondere bei der erstmaligen Auseinandersetzung mit der Thematik schnell verwirren. Hier wären verbindliche beitragsübergreifende Begriffsdefinitionen und ausdrückliche Deklarationen zeitlicher und geographischer Grenzen zugunsten einer dem inhaltlichen Verständnis zuträglichen Klarheit wünschenswert gewesen.

Als genereller Überblick oder Einstiegslektüre in die Diskussion um Suizidassistenz eignet sich das Buch daher eher weniger. Praktizierenden, Lehrenden, Lernenden und weiteren Interessierten, die sich (weiterführend) mit dem assistierten Suizid, grundsätzlichen Fragen des Lebens und Sterbens und der Rolle insbesondere von Ärzt*innen und Therapeut*innen darin auseinandersetzen möchten, kann das Buch anregende Gedanken und Impulse zur Reflexion und Diskussion bieten. Interesse an der Psychoanalyse und zumindest ein rudimentäres Verständnis ihrer theoretischen Grundsätze sind dabei von Vorteil.


Interessenkonflikt

Die Autorin erklärt, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel hat.