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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Professionalitätsverständnis von Medizinstudierenden im ersten Jahr der COVID-19-Pandemie – eine qualitative monozentrische Studie

Artikel Professionelle Identitätsentwicklung

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  • author Amelie Prade - Universität Ulm, Medizinische Fakultät, Ulm, Deutschland
  • author Oliver Keis - Universität Ulm, Medizinische Fakultät, Ulm, Deutschland
  • author Tim Sebastian - Universität Ulm, Medizinische Fakultät, Ulm, Deutschland
  • corresponding author Wolfgang Öchsner - Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Ulm, Deutschland

GMS J Med Educ 2023;40(2):Doc23

doi: 10.3205/zma001605, urn:nbn:de:0183-zma0016053

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2023-40/zma001605.shtml

Eingereicht: 14. April 2022
Überarbeitet: 1. Dezember 2022
Angenommen: 21. Dezember 2022
Veröffentlicht: 17. April 2023

© 2023 Prade et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Gemäß der vorhandenen Literatur muss davon ausgegangen werden, dass das Professionalitätsverständnis von Medizinstudierenden internen wie externen Einflüssen unterliegt.

Ziel der Studie war deshalb, das Professionalitätsverständnis Ulmer Medizinstudierender unter dem Einfluss der beginnenden Pandemie zu untersuchen.

Methoden: Im Mai und Juni 2020 wurden 21 semi-strukturierte Telefoninterviews mit Studierenden (8./9. Semester) der Medizinischen Fakultät Ulm durchgeführt. Die Interviews wurden transkribiert und mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet.

Ergebnisse: Es zeigten sich bei den Studierenden Verschiebungen in der Bedeutungswahrnehmung einzelner Aspekte von ärztlicher Professionalität. Kompetenzen aus den Fächern Hygiene, Virologie und Mikrobiologie traten in den Vordergrund, aber auch persönliche Qualitäten wie „Ruhe ausstrahlen“, Empathie, Altruismus, sowie kommunikative Kompetenzen und Reflektionsfähigkeit. Auch wurden potentielle Erwartungshaltungen an die Studierenden als verändert wahrgenommen. Rollenzuschreibungen als wissenschaftliche bzw. medizinische Ratgeber, sowie als Helfende im Gesundheitswesen traten in den Vordergrund, zum Teil war dies emotional belastend.

In Bezug auf die Studienmotivation wurden sowohl hemmende als auch fördernde Faktoren benannt. Motivationsfördernd war beispielsweise die Verdeutlichung der Relevanz des ärztlichen Berufs.

Schlussfolgerung: Die in früheren Studien auf Expert*innenniveau postulierte Kontextabhängigkeit des Professionalitätsverständnisses bestätigt sich auch auf der Ebene der Studierenden. Dabei könnte auch die Wahrnehmung veränderter Rollenerwartungen eine Rolle spielen. Um derartige Dynamiken nicht unkontrolliert ablaufen zu lassen, könnte eine Konsequenz darin bestehen, diese in geeigneten curricularen Veranstaltungen zu thematisieren und mit den Studierenden zu diskutieren.

Schlüsselwörter: Professionalität, Professional Identity Formation (PIF), COVID-19-Pandemie, Medizinstudierende


1. Einleitung und Zielsetzung

Die Begriffe Professionalität und Professionalitätsentwicklung lassen sich mit unterschiedlichen Konzepten hinterlegen [1], [2]. Ihrer Multidimensionalität lässt sich mit dem Konzept der „Professional Identity Formation (PIF)“ wahrscheinlich am ehesten annähern.

Nach van de Camp et al. kommen dabei drei unterschiedliche Domänen zum Tragen:

1.
die intrapersonelle Domäne, welche beispielsweise die eigene Wahrnehmung und emotionale Belastungen einer Situation beinhaltet,
2.
die interpersonelle Domäne, zu der unter anderem Erwartungshaltungen in Bezug auf Rollen gezählt werden, und schließlich
3.
die öffentlich-zugängliche Domäne, welche sich z.B. auf die Position innerhalb der Gesellschaft bezieht [1], [2], [3].

Wenn, wie angenommen werden kann, die Konfrontation mit einem neuartigen globalen Ereignis wie der COVID-19-Pandemie Einfluss auf eine oder mehrere dieser Domänen hat, wären damit auch Auswirkungen der pandemischen Situation auf das Professionalitätsverständnis von Medizinstudierenden zu vermuten.

In den letzten beiden Jahren haben sich diverse Forschungsgruppen mit unterschiedlichen Aspekten der Pandemie beschäftigt [4], [5], [6], [7], [8], [9], dennoch sind in der diesbezüglichen Lehrforschung noch viele Fragen offen. Zielsetzung der Studie war, Einblicke in das studentische Verständnis verschiedener Aspekte ärztlicher Professionalität im Kontext der beginnenden COVID-19 Pandemie zu erhalten.


2. Ausgangslage und Methodik

2.1. Ausgangslage während der Erhebung

Ende Januar 2020 wurde in der Bundesrepublik Deutschland von den ersten COVID-19-Infektionsfällen berichtet [10]. Der nationale Ausnahmezustand wurde Ende März 2020 verhängt, nachdem die WHO die Pandemie ausgerufen hatte [https://covid19.who.int/]. Im Untersuchungszeitraum von Mai bis Juni 2020 war in Deutschland die erste Welle erreicht, mit einem Höchststand von 170.000 Infizierten [https://covid19.who.int/], [11], [12]. Zu diesem Zeitpunkt waren weder ausreichend Schutzausrüstung für medizinisches Personal noch genügend Masken für die Bevölkerung verfügbar. Es standen weder kurative Therapien noch Impfstoffe zur Verfügung.

Im Medizinstudium wurde, wie in anderen Studiengängen auch, nach praktikablen Wegen zur Fortsetzung des Studiums erst noch gesucht, Vieles war noch improvisiert [13]. Das Sommersemester 2020 konnte am Befragungsstandort erst verspätet begonnen werden, Praktika und Prüfungen wurden teilweise verschoben oder abgesagt. Durch die Umstellung auf digitale Lehrformate und durch Kontaktbeschränkungen im beruflichen wie privaten Bereich fehlten soziale Kontakte zu anderen Studierenden und Dozierenden.

Medizinstudierende waren öffentlich aufgerufen worden, sich im Gesundheitswesen zu engagieren, um bei der Bewältigung der Pandemie zu helfen [10], [13]. Dadurch nahmen diese eine gewisse Sonderrolle in der patientennahen Versorgung, sowie beispielweise in Abstrichzentren und in Gesundheitsämtern ein [14].

2.2. Stichprobenzusammensetzung und -auswahl

Die qualitative Studie wurde im Zeitraum von Mai bis Juni 2020 an der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm durchgeführt.

Zielgruppe der Befragung waren Ulmer Medizinstudierende des 8. und 9. Semesters. Da diese zum Zeitpunkt der Befragung bereits über Erfahrungen als Medizinstudierende und über erste Erfahrungen in der Patient*innenversorgung verfügten, wurde ein mindestens implizites Professionalitätsverständnis der Teilnehmenden angenommen.

Nach Freigabe des Projekts seitens der Ethikkommission der Universität Ulm wurden alle 392 Ulmer Medizinstudierenden des 8. und 9. Fachsemesters per Email-Verteiler über die Studie und die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme informiert. Ausschlusskriterien für die Teilnahme waren medizinische Vorausbildung vor dem Studium, eigene Erkrankung durch COVID-19 oder COVID-19-bedingte schwere Erkrankungs- oder Todesfälle nahestehender Personen.

Es meldeten sich 34 Studierende zur Teilnahme an den Interviews, wovon 4 Studierende Ausschlusskriterien aufwiesen. Von den verbleibenden 30 Studierenden wurden 14 weibliche und 7 männliche Studierende randomisiert zur Teilnahme ausgewählt, so dass ein für den Studiengang Humanmedizin an der Universität Ulm repräsentatives Geschlechterverhältnis erreicht wurde. Die ausgewählten 21 Studienteilnehmenden willigten schriftlich in die Verarbeitung ihrer Angaben ein.

2.3. Methodik der Datenerhebung und Auswertung

Zur Durchführung der semi-strukturierten Interviews wurde mit Hilfe der „SPSS-Methode“ nach Helfferich [15] ein Leitfadeninterview erstellt. Bei der Fragenauswahl für das Interview orientierten wir uns unter anderem an obengenannten Domänen, immer in Hinblick auf ihre Bedeutung für das Professionalitätsverständnis (siehe Anhang 1 [Anh. 1]). Es resultierten 17 offen gestellte Fragen mit jeweils 2-3 präzisierenden Unterfragen. Die Interviews wurden von zwei geschulten Interviewer*innen telefonisch durchgeführt und dauerten durchschnittlich 28 Minuten. Die Gespräche wurden elektronisch aufgezeichnet und anschließend mit Hilfe der Software F4-Transkript transkribiert. Dann erfolgte mit Hilfe der Software MAXQDA 2020 eine Codierung der Aussagen, basierend auf der qualitativen Inhaltsanalyse nach Phillip Mayring [16]. Dabei werden die einzelnen Aussagen zunächst in Subcodes, dann in Codes geclustert, mit deren Hilfe sich die jeweiligen Kernaussagen im Gesamtkontext der Interviews sichtbar machen lassen. Die Häufigkeit der einzelnen Codes und die Zahl der Studierenden, die zu den jeweiligen Codes beigetragen haben, sind in den Tabellen im Ergebnisteil jeweils dargestellt.


3. Ergebnisse

3.1. Verständnis von ärztlicher Professionalität im Kontext der beginnenden Pandemiesituation

Die Befragten gaben mehrheitlich an, dass ihr Verständnis von ärztlicher Professionalität durch die Konfrontation mit der Pandemie nicht grundsätzlich verändert wurde. Allerdings erhielten in ihrer Wahrnehmung bestimmte Aspekte von Professionalität mit Beginn der Pandemie eine höhere Gewichtung (Zitat 1). Dazu gehörten neben Fachkompetenz in den Fächern Hygiene, Virologie und Mikrobiologie auch persönliche Qualitäten wie beispielsweise „Ruhe ausstrahlen“ oder kommunikative Kompetenzen (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]). Etwa für die Hälfte der Befragten (10/21) ergab sich daraus die Konsequenz, künftig mehr Lernressourcen für diese Kompetenzen aufzuwenden.

„(…) die Aspekte, die jetzt schon genannt worden sind, sind immer wichtig - kommen jetzt natürlich besonders (…) hervor)“ – (Zitat 1)
3.2. Studentische Wahrnehmung der Pandemiesituation

Von der überwiegenden Mehrzahl der Befragten (18/21) wurde angegeben, dass sie im Vergleich zur Laiengesellschaft die Pandemiesituation realistischer wahrnehmen und einschätzen könnten, und dass sie diese spezifische Wahrnehmung für die Medizinstudierenden insgesamt postulieren. Begründet wurde diese andere Wahrnehmung sowohl mit dem erworbenen Fachwissen (insbesondere in den Bereichen Hygiene, Mikrobiologie, Virologie und Epidemiologie) als auch mit den Erfahrungen durch die pandemiebedingte Mithilfe im Gesundheitswesen.

Auf die Frage nach möglichen Konsequenzen aus dieser spezifischen Wahrnehmung gab es zwei divergierende Antwortkategorien. Mehrheitlich (10/18) führte die genannte medizinerspezifische Wahrnehmung der Situation zur erleichterten Akzeptanz der coronabedingten Einschränkungen und Verhaltensregeln (Zitat 2). 6 Studierende berichteten darüber hinaus, dass sie bei Beobachtung unvorsichtigen Verhaltens mit aktivem Ansprechen der jeweiligen Person reagiert hätten. Für eine geringere Anzahl Studierender (4/18) führte ihre Wahrnehmung der Situation allerdings dazu, sich weniger streng an die in der Pandemie vorgeschriebenen Regeln zu halten. Diese Studierenden gaben an, aufgrund ihres besonderen Hintergrundwissens selbst darüber zu entscheiden, welche Regeln und Maßnahmen sie für sich als sinnvoll akzeptieren (Zitat 3).

„man hat das ein bisschen ernster genommen. (…) völlig überzeugt davon, dass das der richtige Weg ist. Und dass man eben möglichst streng zuhause bleiben sollte und (…) wenig Leute treffen sollte.“ (Zitat 2)
„(…) ich glaube, dass ich eben deshalb [wegen des Medizinstudiums] nicht nur stur (…) jede Regel befolgt hab, sondern jede Regel eben für sich (…) abgewogen hab (…)“ (Zitat 3)
3.3. Subjektive Wahrnehmung von Erwartungen

Mehr als die Hälfte der befragten Studierenden gab an, dass mit Beginn der Pandemie gesteigerte Erwartungen an Medizinstudierende gestellt wurden. Diese Erwartungen bezogen sich größtenteils auf Bereiche, die sich aus den kognitiven Aspekten der Medizinerausbildung herleiten lassen, wie etwa wissenschaftliches bzw. medizinisches Wissen und Verständnis. Daneben wurden aber auch gestiegene Erwartungen in Bezug auf soziale Interaktionen wahrgenommen, wie etwa empathischer Umgang mit Patient*innen, aber auch mit Personen aus dem eigenen Umfeld (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Mit diesen gestiegenen Erwartungen ging für etwa ein Drittel der Befragten auch ein gesteigertes gesellschaftliches Ansehen von Medizinstudierenden einher.

Einige Studierende beschrieben auch das Phänomen, dass zwar kein oder kaum Erwartungsdruck aus ihrem Umfeld auf sie gerichtet wurde, sie allerdings an sich selbst einen internen Erwartungsdruck aufgebaut hätten (Zitat 4).

„Also bei mir hat jetzt niemand erwartet, dass ich irgendwie, irgendwo helfe oder arbeiten würde. Ich von mir selbst aber.“ (Zitat 4)
3.4. Emotionale Belastungen

Nur zwei Studierende gaben an, dass durch den Eintritt in die Pandemie keine stärkere emotionale Belastung aufgetreten sei.

Die von den übrigen Studierenden beschriebenen emotionalen Belastungen wurden vorwiegend durch die Ungewissheit der Situation und durch Gefühle von Hilflosigkeit ausgelöst (Zitat 5), aber auch durch die zur Eindämmung der Pandemie notwendig gewordenen Maßnahmen (siehe Tabelle 3 [Tab. 3]). Darüber hinaus wurde auch der o.g. Erwartungsdruck an die Studierenden als emotional belastender Faktor genannt, insbesondere, wenn das eigene Engagement als unzureichend wahrgenommen wurde.

Als Umgang mit der pandemiebedingten Belastung wurden auf Nachfrage nur wenige konkrete Coping Strategien genannt. Dies waren sportliche Betätigung (3 Codes, 3 Studierende), Achtsamkeits- bzw. Yogaübungen (3 Codes, 1 Studierende) oder Gespräche (2 Codes, 2 Studierende).

„Also überfordert habe ich persönlich mich (…) vor allem (…) mit dieser Perspektivlosigkeit dieser Menschen und dieser Ungewissheit, dass niemand sozusagen weiß wie ist es in einem halben Jahr, (…) , also was kann ich da machen, was kann ich nicht machen, wie geht es hier weiter, wie gehts da weiter.“ (Zitat 5)
3.5. Auswirkungen der Pandemie auf Studienmotivation und Karrierepläne

Die von den Studienteilnehmenden beschriebenen Beobachtungen bei Eintritt der Pandemie im Hinblick auf die eigene Studienmotivation waren, etwa zur Hälfte positiver und zur Hälfte negativer Natur.

Als deutlich motivationshinderlich wurde vor allem die Unsicherheit im Hinblick auf den weiteren Studienverlauf genannt, ebenso wie die zu Beginn der Pandemie inhaltlich-didaktisch und technisch noch nicht ausgereifte Online-Lehre.

Als deutlich motivationsfördernd wirkte die mit Beginn der Pandemie noch stärker wahrnehmbare Relevanz des ärztlichen Berufes in der Gesellschaft, wodurch die Anstrengungen des Studiums als noch sinnvoller erlebt wurden (Zitat 6).

„Aber auch motivierend.(…) diese Bestätigung so, du machst hier was Sinnvolles. Auf jeden Fall, ja.“ (Zitat 6)

Unmittelbare Auswirkungen auf die eigenen Karrierepläne, was angestrebte Fachrichtung oder angestrebtes Beschäftigungsverhältnis angeht, wurden zum weit überwiegenden Teil verneint.


4. Diskussion

4.1. Verständnis von ärztlicher Professionalität im Kontext der Pandemie

Einerseits gaben die von uns befragten Studierenden an, dass sich ihre Vorstellung von ärztlicher Professionalität durch den Eintritt in die Pandemiesituation nicht grundsätzlich verändert habe. Dies könnte zunächst suggerieren, dass ärztliche Professionalität als eine Art festgefügtes Wertesystem verstanden wird.

Andererseits gaben die Befragten aber an, dass zum Befragungszeitpunkt, also kurz nach Beginn der Pandemiesituation, intra- und interpersonelle Aspekte wie „Ruhe ausstrahlen“, „Altruismus“, „Empathie“, gutes Erklären“ und „reflektierte Kommunikation“ im Professionalitätsverständnis deutlich in den Vordergrund traten, ebenso wie die subjektive Gewichtung spezifischer Fachkompetenzen in den Bereichen Hygiene, Virologie und Mikrobiologie. Die explizite Bereitschaft der Studierenden, dafür auch vermehrten Lernaufwand zu betreiben, spricht für einen konkreten Impact auf das eigene Lernverhalten.

Es wurden also einerseits grundsätzliche Veränderungen verneint, andererseits wurden Gewichtungsverschiebungen adressiert:

Um diese bei oberflächlicher Betrachtung potenziell widersprüchlich wirkenden Resultate in einen sinnvollen Gesamtkontext zu stellen, lohnt sich der nochmalige Blick auf das in der Einleitung bereits erwähnte systematische Review von van de Camp [1]. Den Autor*innen des Reviews war damals aufgefallen, dass die an der Validierung der drei Domänen beteiligten Expert*innen im Zuge des Validierungsprozesses jeweils zusätzliche eigene und ganz unterschiedliche Items innerhalb der Domänen ergänzt hatten. Die Tatsache, dass die an der Validierung beteiligten Expert*innen in unterschiedlichen beruflichen Kontexten beschäftigt waren, brachte die Autor*innen dazu, die Möglichkeit oder sogar Wahrscheinlichkeit einer Kontextabhängigkeit des Verständnisses von Professionalität zu postulieren. Diese für das Expert*innenmilieu vermutete Kontextabhängigkeit des Verständnisses von ärztlicher Professionalität wird durch die Ergebnisse unserer Studie auch für das studentische Milieu gestützt. Dass die Studierenden schon wenige Monate nach Beginn der Pandemie veränderte subjektive Gewichtungen einzelner Aspekte von Professionalität äußerten, spricht dafür, dass sich diese Kontextabhängigkeit relativ rasch bemerkbar machen kann, zumindest unter dem Einfluss gewichtiger äußerer Einflüsse, wie sie der Ausbruch der Pandemie darstellte. Möglicherweise werden solche Verschiebungen im Verständnis von Professionalität bei Studierenden dadurch erleichtert, dass Studierende zwar implizite Vorstellungen von ärztlicher Professionalität haben [17], [18], dass diese Vorstellungen aber noch nicht gefestigt sind. Hilton und Slotnick haben diesen Zustand eines noch nicht völlig ausgeprägten Professionalitätsverständnisses als „Proto-Professionalität“ bezeichnet [17].

4.2. Subjektive Wahrnehmung von Erwartungen und Rollenzuschreibungen

Der theoretische Rahmen der „Professional Identity Formation“ sieht die Entwicklung professioneller Identität als Prozess auf individueller, wie auf kollektiver Ebene, wobei sich die beiden Ebenen wechselseitig beeinflussen. Hinzu kommen Einflüsse durch Interaktionen mit Patient*innen, mit Peers und mit Rollenmodellen, durch äußere Ereignisse, wie im vorliegenden Fall der Eintritt in die Pandemiesituation, und nicht zuletzt auch durch die Wahrnehmung von Erwartungen aus dem sozialen Umfeld und der Gesellschaft [2], [3], [18]. Über solche als verändert wahrgenommenen Erwartungen ergaben sich im Kontext der Pandemiesituation veränderte Rollenzuschreibungen an die Medizinstudierenden. Insbesondere wurde die beratende Rolle im Hinblick auf medizinisch-naturwissenschaftliches Hintergrundwissen oder auf Beratung bei Symptomen, und die helfende Rolle, beispielsweise beim Einsatz im Gesundheitswesen, in den Vordergrund gerückt. Das galt auch für Rollen, die mit empathischem Verhalten assoziiert sind. Dass veränderte Gewichtungen im eigenen studentischen Rollenverständnis mit veränderten Gewichtungen im Verständnis von ärztlicher Professionalität einhergehen – wie wir es in unseren Ergebnissen gesehen haben- spricht erneut für das oben genannte Postulat der Kontextabhängigkeit.

4.3. Emotionale Belastungen

Als emotional belastend wurden insbesondere die mit der neuen Pandemiesituation einhergehenden Unsicherheiten und Verhaltensregeln empfunden, sicherlich wenig spezifisch und wenig unterschiedlich zu in der Gesamtbevölkerung verbreiteten Belastungen. Die oben genannten, veränderten Rollenzuschreibungen führten dann zu emotionalen Belastungen, wenn die mit ihnen verbundenen Erwartungshaltungen in der studentischen Selbstwahrnehmung nicht erfüllt wurden.

Im Gegensatz zu anderen Studien [19] wurden von den Teilnehmenden unserer Befragung kaum dezidierte Coping Strategien zum besseren Umgang mit solchen Belastungen benannt.

4.4. Auswirkungen der Pandemie auf Studienmotivation und Karrierepläne

Eine in Genf durchgeführte Studie berichtete vor allem von negativen Auswirkungen des Pandemiebeginns auf die Motivationslage der Studierenden, während der gesteigerte Bedarf an studentischer Mitarbeit im Gesundheitswesen als positive Bestätigung der Studien- und Berufswahl wahrgenommen wurde [20]. In ähnlicher Weise wurden auch seitens der von uns befragten Studierenden gegensätzliche Auswirkungen auf die Motivationslage geschildert. Die ad hoc getroffenen organisatorischen, technischen, zum Teil auch inhaltlichen curricularen Umstellungen führten zu Verunsicherung und Motivationsverlusten bei den Studierenden. Das plötzlich nochmals gestiegene Ansehen des ärztlichen Berufes und des Medizinstudiums in der Gesellschaft wirkten hingegen motivationsfördernd. Letzteres deckt sich mit den Erkenntnissen einer aktuellen Schweizer Studie zur Motivationslage der Generation Z, in der Aspekte externer Motivation wie Ansehen und Prestige bei künftigen Medizinstudierenden eine etwas höheres Gewicht besaßen als in anderen Studiengängen [21].

Einflüsse der Pandemie auf die Karrierepläne der Studierenden fanden wir nicht, auch dies ist vergleichbar mit aktuellen Studienergebnissen anderer Arbeitsgruppen [22]. Eine amerikanische Studie konnte zwar einen Impact auf die Karrierewahl zeigen, dies aber hauptsächlich bei jüngeren Studierenden; bei fortgeschritteneren Studierenden waren solche Effekte kaum noch nachweisbar [20].

4.5. Limitationen

Die vorliegende Arbeit weist folgende Limitationen auf: es handelt sich um eine qualitative Arbeit an einem singulären Standort, bei welcher die subjektiven Meinungsäußerungen einer bestimmten Gruppe Studierender analysiert wurden. Wenngleich der Stichprobenumfang für eine qualitative Arbeit bemerkenswert erscheint, kann eine Verallgemeinerung der Ergebnisse hinsichtlich statistischer Repräsentativität nicht erfolgen. Der Vorzug der qualitativen Herangehensweise besteht darin, sich dem zum Zeitpunkt der Befragung neuartigen Phänomen COVID-19-Pandemie und damit einhergehen Änderungen im Professionalitätsverständnis von Studierenden offen nähern zu können. Dadurch konnte unserer Auffassung nach eine Tiefe erreicht werden, die mit einer quantitativen Befragung schwer vorstellbar gewesen wäre.

Da die Befragung ausschließlich zu einem einzigen Zeitpunkt der Pandemie durchgeführt wurde (Querschnittsdesign), können keine Aussagen darüber getroffen werden, wie sich das Professionalitätsverständnis longitudinal über die verschiedenen Semester entwickelt hätte. Inwiefern das globale Ereignis COVID-19-Pandemie eine langfristige Wirkung bei den befragten Studierenden erzielt hat, kann hier ebenfalls nicht beantwortet werden.

Ob die Kontextabhängigkeit von Professionalitätsverständnis in der studentischen Phase der Proto-Professionalität möglicherweise höher ist als in späteren Phasen der beruflichen Laufbahn, muss durch weitere Untersuchungen abgesichert werden. Diese Frage kann durch unser Studiendesign mit nur einem Befragungszeitpunkt nicht beantwortet werden. Innerhalb der studentischen Phase beschränkt sich die Studie auf Studierende des 8./9. Semesters, die sowohl bereits über ausreichende Studienerfahrung als auch über erste Patient*innenerfahrung verfügen.


5. Take-Home-Messages und Schlussfolgerung

Die Ergebnisse unserer Studie können wie folgt zusammengefasst werden:

1.
Der Ausbruch der Pandemie hat das Professionalitätsverständnis der befragten Studierenden nicht grundlegend verändert. Verschiebungen in Bezug auf die Wertigkeit einzelner Aspekte von Professionalität hat die Pandemie aber mit sich gebracht.
2.
Die Erwartungen an die Rolle von Medizinstudierenden wurden als verändert wahrgenommen, insbesondere was die gestiegene Bedeutung beratender und helfender Rollen anbelangt. Diese Veränderungen in der Wahrnehmung von Erwartungen könnten aufgrund einer Kontextabhängigkeit zu den Verschiebungen im Professionalitätsverständnis der Studierenden beigetragen haben.
3.
Die Auswirkungen auf die Studienmotivation waren sehr unterschiedlich. Pandemiebedingte Unsicherheiten und Unregelmäßigkeiten im Studienablauf wirkten motivationshemmend. Motivationssteigernd hingegen wirkte die gesteigerte Wahrnehmung der Relevanz des ärztlichen Berufs.

Schlussfolgerungen im Hinblick auf curriculare Maßnahmen könnten sein:

Das Professionalitätsverständnis der Studierenden kann durch äußere Ereignisse beeinflusst werden, vermutlich auch durch Verschiebungen in Bezug auf Rollenerwartungen an die Studierenden. Derartige Einflüsse sind nicht in jedem Fall vorhersehbar. Um sie dennoch nicht unkontrolliert ablaufen zu lassen, erscheint es sinnvoll, solche Dynamiken explizit in curricularen Veranstaltungen zum Thema „ärztliche Professionalität“ aufzugreifen und mögliche Auswirkungen mit den Studierenden zu diskutieren.


Danksagung

Freundliche Unterstützung durch die AG Lehrforschung der Universität Ulm mittels Förderung der Honorarkosten.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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