gms | German Medical Science

GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Norbert Donner-Banzhoff: Die ärztliche Diagnose: Erfahrung – Evidenz – Ritual

Buchbesprechung Rezension

Suche in Medline nach

  • corresponding author Sigrid Harendza - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, III. Medizinische Klinik, Hamburg, Deutschland

GMS J Med Educ 2023;40(2):Doc14

doi: 10.3205/zma001596, urn:nbn:de:0183-zma0015962

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2023-40/zma001596.shtml

Eingereicht: 20. Dezember 2022
Überarbeitet: 22. Februar 2023
Angenommen: 22. Februar 2023
Veröffentlicht: 17. April 2023

© 2023 Harendza.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Bibliographische Angaben

Norbert Donner-Banzhoff

Die ärztliche Diagnose: Erfahrung – Evidenz – Ritual

Hogrefe Verlag, Göttingen

Erscheinungsjahr: 2022, 356 Seiten, Preis: € 44,95

ISBN: 978-3-45-686194-4


Rezension

Die wichtigste Aussage dieses Buches gleich zu Beginn: „Diagnosen werden nicht gefunden, sondern gemacht“. Dies dürfte für alle, die gern Dr. House gesehen haben oder sich in der Mediathek auf eine neue Folge von Abenteuer Diagnose freuen, mit einem kleinen Schreck verbunden sein. Norbert Donner-Banzhoff gelingt jedoch das Wunder, die gesamte Bandbreite ärztlichen Denkens und Handelns inklusive kognitionspsychologischer und medizinhistorischer Perspektiven abzuhandeln, um diese Aussage zu erläutern, ohne ein einziges Mal den Begriff clinical reasoning zu verwenden. Noch nie habe ich so gern über Strategien zum Anreichern der Prävalenz oder die Regression zum Mittelwert gelesen, ganz abgesehen von den hervorragenden Erklärungen und Abbildungen zur Vierfeldertafel, nach deren Lektüre wirklich niemand mehr behaupten kann, diese nicht verstanden zu haben. Und: dass Tests Krankheitswahrscheinlichkeiten gemäß dem Satz von Bayes nur modifizieren und hierfür die Vortestwahrscheinlichkeit entscheidend ist, kann man nicht oft genug lesen – so auch hier. Denn im klinischen Alltag wird dies oft vergessen, wie der Autor an plakativen und auch ein wenig erschreckenden Beispielen erläutert. Vollständige Sicherheit lässt sich also bei den immer wieder kniffligen Zusammenhängen des Diagnostizierens nicht erreichen. Vielleicht wäre es an diesen Stellen zum besseren Verständnis dieser Tatsache noch nützlicher gewesen, nicht davon zu sprechen, dass eine Krankheit „ausgeschlossen“ wurde, sondern lieber davon, dass sie durch einen Test „unwahrscheinlicher“ gemacht wurde. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau.

Dieses Buch ist nicht nur eine Anleitung zum ärztlichen Diagnostizieren, sondern viel mehr als das. Es bietet einen Einblick in die tägliche Arbeit von Ärztinnen und Ärzten bei der kniffligsten Aufgabe und der größten beruflichen Herausforderung: dem Stellen (d.h. „Machen“) einer Diagnose. Hierbei widmet es sich historischen Perspektiven und wissenschaftlichen Traditionen verschiedener Länder, die den diagnostischen Prozess auf unterschiedliche Weise angehen. Damit bietet sich eine hervorragende Möglichkeit, das eigene ärztliche Arbeiten – und Lehren – zu reflektieren und sich teilweise auch schmerzlichen Erkenntnissen zu öffnen. Wie Referenzbereiche zustande kommen und dass biologische Schwankungen die größte Quelle von Unsicherheit sind, thematisiert der Autor ebenso wie die Überschätzung technischer Befunde im medizinischen Alltag und die schädlichen Folgen von Überdiagnostik und Überbehandlung. Theoretische, teils philosophische Passagen zur Erläuterung wichtiger Hintergründe zum status quo des ärztlichen Diagnostizierens mit seinen auch problematischen Folgen („Röntgenaufnahmen und Spritzen sind mächtige Rituale“) wechseln sich mit aktuellen Praxisbezügen ab. Diese erschließen sich für im medizinischen Feld Arbeitende, Studierende und Lehrende plakativ und bieten gute Ansatzpunkte zur Reflexion des eigenen Handelns.

Sehr angenehm fällt auf, dass englische Begriffe bis auf ganz wenige Ausnahmen ins Deutsche übersetzt wurden. Die gewählte Form des Genderns – es wird überall die weibliche Form verwendet, außer wenn ausschließlich Männer gemeint sind – hält den Text angenehm lesbar, auch wenn dieses Prinzip an einigen Stellen gegen Ende etwas schwächelt. Jedes Kapitel schließt mit einem fokussierten Ausblick, der das Gelesene schlüssig auf den Punkt bringt und eine gute Zusammenfassung der jeweils wesentlichen Aspekte bietet. Trotz seiner breiten wissenschaftlichen Basis liest sich das Buch fast wie ein Roman oder Krimi, denn der Lesefluss wird nicht durch Fußnoten gestört. Ein Überblick über die zugrundeliegende Literatur findet sich am Ende der Kapitel und in noch größerem, kommentiertem Umfang in digitalem Zusatzmaterial, welches sich über eine Internetseite herunterladen lässt.

Die berufliche Primärsozialisation beruht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen („Krankheit“), während im täglichen Arbeiten mit Patientinnen und Patienten jede Person einen Einzelfall darstellt („Kranksein“). Dies ist aus meiner Sicht die wichtigste, von Norbert Donner-Banzhoff aufgezeigte Erkenntnis beim Diagnostizieren. Jeder Patient und jede Patientin muss individuell „verstanden“ werden, um eine Diagnose „machen“ zu können. Darin wird auch die größte Herausforderung für die medizinische Lehre gesehen, die diesen Aspekt bisher nur wenig berücksichtigt. Die Komplexität des ärztlichen Diagnostizierens kann von Lehrbüchern und Leitlinien, wie eindrucksvoll beschrieben wird, nicht gänzlich erfasst werden. Dass es möglich ist, die Aufgabe des Diagnostizierens bei aller Unsicherheit zu bewältigen, daran lässt das Buch trotz möglicherweise bei den Lesenden entstehender Bedenken keinen Zweifel. Voraussetzung dafür ist, das eigene ärztliche Handeln und Lehren kritisch zu reflektieren und dann mit neuen Impulsen in die Tat umzusetzen.

Bleibt also zu hoffen, dass dieses Buch von vielen in der medizinischen Ausbildung tätigen Personen gelesen und reflektiert wird, um das Studium und damit die Sozialisierung des ärztlichen Nachwuchses entsprechend anzupassen. Dafür, wie das geschehen könnte, hält das Buch sogar ein eigenes Kapitel bereit. Zum Schluss noch eine „Triggerwarnung“: wie eingangs schon erwähnt enthält das Buch überraschende, wissenschaftlich fundierte Einsichten für alle, die sich bisher nur in geringem Maße reflektiv mit dem Prozess des ärztlichen Diagnostizierens auseinandergesetzt haben. Wenn der erste Schreck überwunden ist, welche Fehler und Probleme auftreten können, ist allerdings gleichzeitig auch schon der erste Schritt getan, die medizinische Ausbildung in Zukunft besser zu gestalten.


Interessenkonflikt

Die Autorin hat für diese Rezension ein Exemplar dieses Buches kostenlos erhalten.