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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

„Und wie frage ich das?” – Einführung des Lehrkurses „Sexualanamnese“ im Peer Teaching für Würzburger Medizinstudierende

Artikel Ärztliche Gesprächsführung

  • corresponding author Jessica Ruck - Universitätsmedizin Würzburg, Institut für Allgemeinmedizin, Würzburg, Deutschland
  • author Maria Pramberger - Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Medizinische Fakultät, Würzburg, Deutschland
  • author Isabelle Späth - Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Medizinische Fakultät, Würzburg, Deutschland
  • author Anne Simmenroth - Universitätsmedizin Würzburg, Institut für Allgemeinmedizin, Würzburg, Deutschland
  • author Janina Zirkel - Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Medizinische Fakultät, Lehrklinik, Würzburg, Deutschland; Universitätsmedizin Würzburg, Medizinische Klinik II, Infektiologie, Würzburg, Deutschland

GMS J Med Educ 2023;40(1):Doc10

doi: 10.3205/zma001592, urn:nbn:de:0183-zma0015928

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2023-40/zma001592.shtml

Eingereicht: 16. August 2022
Überarbeitet: 6. Oktober 2022
Angenommen: 23. November 2022
Veröffentlicht: 15. Februar 2023

© 2023 Ruck et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Im Rahmen der Erweiterung des Kommunikationscurriculums und um bestehende Lücken in der medizinischen Ausbildung zu schließen, wurde an der medizinischen Fakultät der Universität Würzburg ein Kurs zur Sexualanamnese im Peer Teaching-Konzept entwickelt, pilotiert und evaluiert. Eine Implementierung des Kurses im Curriculum soll allen Studierenden die Möglichkeit geben, Kompetenzen in diesem Bereich zu erwerben.

Methoden: Der Kurs bestand aus Teilen der Wissensvermittlung, interaktiven Übungen, Rollenspielen mit strukturiertem Feedback und einem Austausch mit behandelnden Ärzt*innen. Das Modul wurde anschließenden mittels standardisierter Online-Evaluation auf Lehrqualität, subjektiven Lernerfolg und Akzeptanz geprüft. Der vorerst freiwillige Kurs wurde im Sommersemester (SoSe) 2021 in einem Online-Format sowie im Wintersemester (WiSe) 2021/22 in Präsenz durchgeführt. Es nahmen insgesamt 68 Studierende teil. Die Schulung der Tutor*innen erfolgte in Kooperation mit der Deutschen Aidshilfe.

Ergebnisse: Sowohl im Online-Format als auch in Präsenz war der Kurs gut durchführbar. Insgesamt 60 Studierende nahmen an der Kursbeurteilung teil. Die Evaluation zeigte zu über 80% eine gute Strukturierung des Kurses mit einer adäquaten Mischung an Wissensvermittlung und praktischen Übungen. Die Teilnahme verhalf über die Hälfte der Studierenden zu mehr Sicherheit in der Durchführung der Sexualanamnese und förderte einen offenen Austausch unter den Studierenden. Von über 90% wurde die Betreuung durch die Tutor*innen als hilfreich empfunden.

Schlussfolgerungen: Durch die Einführung des Kurses wird eine wichtige Lücke im Würzburger Lehrangebot geschlossen. Ab dem Wintersemester 2022/23 wird er fester Bestandteil im Curriculum. Das Konzept könnte auch auf andere Standorte übertragen werden.

Schlüsselwörter: Sexualmedizin, Sexualanamnese, Kommunikative Kompetenz, Medizinstudium, Anamnese


1. Einführung

Sexualität steht im direkten Zusammenhang mit Gesundheit und Wohlbefinden von Patientinnen und Patienten [1], [2], [3]. Das Risiko sexuell übertragbarer Krankheiten, die Prävalenz sexueller Dysfunktionen und damit einhergehende verminderte körperliche und psychische Lebensqualität sind häufige und wichtige Themen im ambulanten, aber auch im stationären Setting [1], [4]. In Bezug auf das bekannteste sexuell übertragbare Human Immundefizienz-Virus (HIV) stellen sich immer noch viele Patient*innen als „late presenter“ vor [5]. Hier verursachen opportunistische Infektionen ein buntes Bild von Symptomen, die oft eine Vorstellung der Patient*innen in den unterschiedlichsten Fachdisziplinen zur Folge hat. Zur richtigen Einordnung dieser Symptome ist eine differenzierte Sexualanamnese wichtig und sollte deswegen auch interdisziplinär zur Anwendung kommen [5], [6], [7], [8]. Besonders im allgemeinmedizinischen Kontext haben Patient*innen oft den Wunsch, das Thema Sexualität mit ihrer Hausärzt*in zu besprechen [9], [10], [11]. So gaben in einer Schweizer Studie 90% der Teilnehmenden an, gerne von ihrer Ärzt*in nach ihrer Sexualität gefragt zu werden, es wurden aber nur 40% bereits darauf angesprochen [9]. Auch in der Global Study of Sexual Attitudes and Behaviors wird berichtet, dass nur 9% der Teilnehmenden aus 29 Ländern im Zuge von hausärztlichen Routineuntersuchungen nach ihrer sexuellen Gesundheit befragt wurden [12]. Für Deutschland betraf dies 15% der Frauen und 18% der Männer [11], [12]. Gründe hierfür sehen Ärzt*innen im fehlenden sexualmedizinischen Wissen und fehlendem Training während der ärztlichen Aus- und Weiterbildung [11], [13]. Dies lässt sich u. a. darauf zurückführen, dass das Thema Sexualität in den Curricula kaum Platz findet. Der überwiegende Teil medizinischer Fakultäten im internationalen Kontext und auch in Deutschland hat zwar Lehrinhalte bezüglich Sexualität etabliert, es stehen durchschnittlich aber nur zehn Stunden im gesamten Studienverlauf dafür zur Verfügung [13]. Der Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM, [https://www.nklm.de]) in der aktuellen und auch den Vorläuferversionen hatte die „Durchführung einer Sexualanamnese“ (14c.2.4.10) bereits als fachübergreifendes Lernziel aufgeführt. Schon zu Beginn des NKLM-Prozesses, als der „Masterplan Medizin 2020“ im Vordergrund stand, wurde deutlich, dass ein longitudinales Kommunikationscurriculum in Deutschland dringend benötigt wird. Die Umsetzung gerade der kommunikativen Kompetenzen im Bereich Sexualität scheint aber noch unzureichend. Beispielsweise zeigte eine Untersuchung des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und des LVR-Klinikum Essen, dass Studierende das aktuelle Angebot sexualmedizinischer Lehre in den einzelnen Fächern als ungenügend beurteilten und der Wunsch nach mehr sexualmedizinischer Lehre besteht [13].

Das Institut für Allgemeinmedizin und das Skills Lab (Lehrklinik) in Würzburg verfügen über langjährige Erfahrung in der Lehre kommunikativer Kompetenzen. Bislang gab es hier jedoch keinen Baustein zur Sexualanamnese. In diesem Projekt wurde deshalb zusammen mit interessierten Medizinstudierenden im 5. Studienjahr und ärztlichen Mitarbeitenden der Infektiologie des Universitätsklinikums sowie der Deutschen Aidshilfe (DAH) ein Sexualanamnesekurs zur Erweiterung bereits bestehender Anamnesemodule entwickelt und zweimal pilotiert (siehe Anhang 1 [Anh. 1] und Anhang 2 [Anh. 2]). Der Kurs wurde in einem Peer Teaching-Konzept eingebettet und mit einem intensiven Betreuungsschlüssel geplant. Das Erlernen von Anamneseerhebungen durch Peer Teaching hat sich bereits als effektive Methode erwiesen [14]. Das Thema Sexualität ist – sowohl für Studierende als auch für Behandelnde und zu Behandelnde – ein sensibles, teils tabuisiertes und schambehaftetes Thema, auf das viele nur zögerlich zugehen. Eine intensive Betreuung auf Augenhöhe durch die Peer-Tutor*innen baut Hemmungen, über Sexualität zu reden, ab und erleichtert einen offenen Austausch unter den Studierenden.


2. Projektbeschreibung

2.1. Studierende und Setting

Der Kurs wurde zunächst als freiwilliger Kurs für Medizinstudierende im klinischen Abschnitt ab dem 8. Semester konzipiert. Für die Pilotierung wurden Studierende vom 7. bis 12. Semester eingeschlossen. Die Rekrutierung der Teilnehmenden erfolgte über Werbung in Vorlesungen am Semesteranfang, über die Fachschaft Medizin und das elektronische Vorlesungsverzeichnis. Zur potenziellen Strichprobe zählten alle Studierende im klinischen Abschnitt (6. bis 10. Semester) mit einer Semesterstärke von ca. 130, insgesamt ca. 650 Studierende. Der Kurs wurde pandemiebedingt in zwei verschiedenen Versionen geplant: Einer Online-Version über die Plattform Zoom für das Sommersemester (SoSe) 2021 und einer Version in Präsenz für das Wintersemester (WiSe) 2021/22.

2.2. Methodisches Vorgehen

Im Sinne des Kern-Zyklus wurde nach der Wahrnehmung des Defizites im Bereich Sexualanamnese zunächst Lernziele aus dem NKLM identifiziert, die für den Kurs geeignet erschienen. Wir entwickelten darauf basierend ein dreiteiliges Kurskonzept mit dazugehörigen Materialien und Lehrmethoden. Im ersten Teil erfolgte eine Einführung mit einer Powerpoint-Präsentation zur Wissensvermittlung bezüglich Inhalt und Struktur einer Sexualanamnese und häufigen sexualmedizinischen Problemen. Dann wurde eine praktische Übungseinheit mit drei Rollenspielen inklusive einer Feedback-Auswertungsmatrix durchgeführt. Am Ende gab es einen Diskussionsteil mit Expert*innen aus dem allgemeinmedizinischen oder infektiologischen Bereich für anamnesebezogene und fachlichen Ergänzungen sowie zur Klärung offener Fragen. Eine Übersicht des Kursablaufes und der inhaltlichen Themen findet sich in Abbildung 1 [Abb. 1]. Das Onlineformat wurde mit der Plattform Zoom vorbereitet und getestet. Besonderes Augenmerk lag hierbei auf den interaktiven Möglichkeiten wie z.B. Umfragen, Whiteboards und Breakout-Rooms. Die fachliche Betreuung und inhaltliche Supervision wurde von Dozierenden der Allgemeinmedizin und der Infektiologie gewährleistet und die logistische Umsetzung durch die von der DAH geschulten Tutorinnen (Projekt: „Let’s talk about Sex“ [https://www.aidshilfe.de/lets-talk-sex-reloaded]) betreut. Im Onlinekursraum ([https://wuecampus2.uni-wuerzburg.de]) der Universität Würzburg wurden weiterführende Materialien zum Thema Sexualanamnese bereitgestellt. Mithilfe des Online-Evaluationsinstrumentes EvaSys® wurde ein Evaluationsfragebogen erstellt (siehe Anhang 3 [Anh. 3]). Für die Erstellung des Fragebogens wurde ein Musterfragebogen, der regelhaft bei der Evaluation neuer Unterrichtseinheiten eingesetzt wird, hinzugezogen und an wenigen Stellen adaptiert. Er bestand aus 17 geschlossenen und 2 offenen Fragen und konnte am Seminarende eingesetzt werden. EvaSys® ermöglichte sowohl eine Datenerfassung als auch eine basale Auswertung.

2.3. Konzeption und Durchführung

Die Kurskonzeption beinhaltete Lernziele auf den Ebenen des Faktenwissens, des Handlungs- und Begründungswissen sowie der selbstständigen Handlungskompetenzen. In Anlehnung an den NKLM wurden folgende Lernziele formuliert:

  • Selbstreflexion bezüglich eigener Einstellungen zum Thema Sexualmedizin und Sexualanamnese (siehe VIII.2-02.1.8)
  • Erwerb sexualmedizinischen Wissens bezüglich sexueller Dysfunktionen, Menstruation/Menopause, urogenitale Erkrankungen und sexuell übertragbare Erkrankungen (siehe VI. und VII.)
  • Erwerb handlungsbezogenen Wissens bezüglich der Erhebung einer Sexualanamnese sowie bezüglich der Gesprächsführung bei sensiblen Themen (siehe VIII.2-02.1.8, VIII.2-03.2.6)
  • sensibler, direkter, wertfreier und vertrauensvoller Umgang und Kommunikation bezüglich Sexualität, tabuisierten Themen und stigmatisierten Erkrankungen (siehe VIII.2-02.1.8, VIII.2-03.2.6)
  • selbstständiges Erheben einer vollständigen Sexualanamnese (siehe VIII.2-02.4.7)

Im Rahmen der Online Lehre (COVID-19-Pandemie) im Sommersemester 2021 wurden zwei identische Kurstermine à drei Stunden mit insgesamt 22 Teilnehmenden durchgeführt. Dabei handelte es sich um Studierende aus dem 7. bis 12. Semester. Die Betreuung der Studierenden während des Kurses wurde von zwei Dozent*innen der Infektiologie und Allgemeinmedizin und vier geschulten Tutor*innen gewährleistet. Der Kurs selbst war in drei Teile von je einer Stunde gegliedert.

  • Im ersten Teil wurden den Studierenden von den Dozent*innen und Tutor*innen wichtige Aspekte der Sexualanamnese und grundlegende Informationen zu den Beratungsanlässen, die im folgenden Rollenspiel geübt werden sollten, anhand einer Powerpoint-Präsentation vermittelt. Um den Vortrag interaktiv zu gestalten, wurden verschiedene Anwendungen von Zoom (Whiteboards, Umfragen) verwendet.
  • Der zweite Kursteil war den Anamneseübungen (AÜ) gewidmet. Es fanden sich Kleingruppen mit je drei Studierenden und einer Tutorin in Breakout-Sessions zusammen. Es wurden drei AÜ von je zehn Minuten durchgeführt. Eine beispielhafte Rollenanweisung ist in Abbildung 2 [Abb. 2] zu sehen. Die Teilnehmenden übernahmen dabei jeweils einmal die Rolle der Hausärzt*in, der Patient*in oder der Beobachter*in. Jede Kleingruppe wurde von einer Tutor*in betreut. Es folgte anschließend jeweils eine strukturierte Feedbackrunde von zehn Minuten, welche von der betreuenden Tutor*in moderiert wurde. Die Feedbackstruktur und -regeln wurden zuvor eingeführt und die Beobachtenden wurden angewiesen, sich während der AÜ Notizen zu machen. Durch die Auswertungsmatrix wurde ein strukturiertes und standardisiertes Feedback gewährleistet, dass auch um inhaltliche Aspekte ergänzt werden konnte (siehe Abbildung 3 [Abb. 3]). Die Methode der AÜ mit strukturiertem Feedback ist den Studierenden in Würzburg durch Anamnesekurse in der Vorklinik und im 5. Semester bereits bekannt.
  • Im dritten Kursteil sollten Erfahrungen aus den Gesprächsübungen ausgetauscht werden und fachliche Fragen, die von den Tutor*innen nicht beantwortet werden konnten, mit der Hausärzt*in und der Infektiolog*in geklärt werden.
  • Abschließend erfolgte eine Evaluation über einen digitalen Fragebogen und ein kurzes mündliches Feedback der Teilnehmenden.

Im Wintersemester 2021/22 wurde das Kursangebot aufgrund der hohen Nachfrage auf fünf Abendtermine mit insgesamt 60 Plätzen ausgeweitet. Es nahmen 46 Studierende teil. Hierzu wurden weitere sieben Tutor*innen in Kooperation mit der DAH geschult. Da sich gezeigt hatte, dass die Studierenden im Sommersemester von ihrem Vorwissen in den Fächern Urologie, Gynäkologie, Allgemeinmedizin und vor allem der Infektiologie bei den Übungsgesprächen profitiert hatten, wurde der Kurs in diesem Semester als „empfohlener freiwilliger Kurs ab dem 8. Semester“ über die gleichen Quellen wie im SoSe beworben. Die Kursdauer wurde auf 2,5 Stunden verkürzt. Die Evaluationen und eine gründliche Nachbesprechung der Lehrenden nach dem Kurs im Sommersemester legten diese Änderungen nahe. Das Kurskonzept wurde in seinem Aufbau ansonsten aus dem SoSe übernommen. Da der Kurs im WiSe in Präsenz stattfand, wurden einige Anpassungen nötig.

  • Der erste Teil des Kurses umfasste die einstündige interaktive Einführung mittels Powerpoint- Präsentation, die im Präsenzformat nur von zwei Tutorinnen im Peer Teaching gehalten wurden. Die interaktiven Elemente wurden durch einen Fragebogen zur Selbstreflexion, einem „World-Café“ und eine Gruppenarbeit zur Übung angemessener Sexualanamnesefragen in bestimmten Situationen ersetzt.
  • Im zweiten Teil des Kurses fanden die Anamneseübungen (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]) mit anschließendem strukturiertem Feedback (siehe Abbildung 3 [Abb. 3]) im Kleingruppenformat und unter Betreuung von Tutor*innen statt.
  • Der dritte Teil wurde im Vergleich zum Sommersemester um 30 Minuten gekürzt. Die Studierenden fanden sich für Diskussion und Erfahrungsaustausch mit den Dozierenden im großen Plenum ein. Bei den Dozierenden handelte es sich nun um Lehrbeauftragte des Institutes für Allgemeinmedizin (erfahrene Hausärzt*innen), die per Zoom in den Seminarraum zugeschaltet wurden.
  • Die anschließende Evaluation des Kurses fand per Smartphone und mündlichem Feedback statt.

3. Ergebnisse

Die Kurse wurden hinsichtlich Lehrqualität, subjektivem Lernerfolg, studentischer Akzeptanz und Motivation evaluiert. Den Evaluationsfragebogen füllten im SoSe 17 von 22 Studierenden (77%) und im WiSe 43 von 46 Studierenden (94%) aus. Die Evaluationsergebnisse zeigten sich durchweg positiv: Der Besuch der Lehrveranstaltung wurde von 11,8% (SoSe) bzw. 16,7% (WiSe) als eher lohnenswert und von 82,4% (SoSe) bzw. 83,3% (WiSe) als sehr lohnenswert empfunden. Im Mittel zeigte sich bei dieser Aussage eine Zustimmung von 4,1 (SD=1,0; SoSe) bzw. 4,8 (SD=0,4; WiSe) (siehe Abbildung 4a [Abb. 4]). Die Übungsgespräche, die auch in bereits bestehenden Anamnesemodulen der Würzburger Lehre tragende Methode sind, waren für 5,9% (SoSe) bzw. 23,8% (WiSe) eine eher hilfreiche Möglichkeit und für 88,2% bzw. 73,8% eine sehr hilfreiche Möglichkeit, das zuvor erworbene Wissen praktisch umzusetzen. Der Transferunterstützung durch die Übungsgespräche wurde durchschnittlich mit 4,7 (SD=1,0; SoSe) bzw. 4,7 (SD=0,7; WiSe) zugestimmt (siehe Abbildung 4b [Abb. 4]). Besonders das Peer Teaching durch die Tutor*innen wurde mit einer mittleren Zustimmung von 4,8 (SD=1,0; SoSe) bzw. 4,9 (SD=0,7; WiSe) als unterstützend wahrgenommen (siehe Abbildung 4c [Abb. 4]). 92,9% (SoSe) bzw. 94,1% (WiSe) der Studierenden empfanden die Anwesenheit der Tutor*innen als hilfreich. Hervorzuheben ist auch, dass ein offenes Klima in den Kursen herrschte (88,2% im SoSe bzw. 88,1% im WiSe) und die Veranstaltung eine gute Mischung aus Wissensvermittlung und Übung aufzeigte (81% im SoSe bzw. 88,2% im WiSe). Auch die weiteren Ergebnisse, die in Tabelle 1 [Tab. 1] zu finden sind, spiegeln eine erfolgreiche Pilotierung.

In den Freitextoption der Evaluation wurde vor allem das Engagement und die intensive Betreuung der Tutor*innen, die angenehme Arbeitsatmosphäre, der offene und respektvolle Austausch, die klare Struktur und die gut vorbereiteten Rollenspiele als positiv zurückgemeldet. Für die kommenden freiwilligen Kurse wurden weiterführende inhaltliche Informationen zum Kurs in Form von Handouts sowie eine praxisorientierte Vertiefung in kultur- und LGBTQIA*-sensible Themen gewünscht (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]).


4. Diskussion

Im Rahmen der Erweiterung des Kommunikationscurriculums und um bestehende Lücken in der medizinischen Ausbildung zu schließen, wurde an der medizinischen Fakultät der Universität Würzburg ein Kurs zur Sexualanamnese im Peer Teaching-Konzept entwickelt, pilotiert, evaluiert und in modifizierter Form schließlich etabliert. Wir konnten hier den Kernzyklus durchgehend befolgen. Die Evaluationsergebnisse des Kurses „Erheben einer Sexualanamnese“ zeigten, dass die Studierenden einen subjektiven Zuwachs von Wissen und Fertigkeiten erworben haben und die Teilnahme als lohnenswert und hilfreich beurteilt wurde. Der Kurs war sowohl im Online-Format als auch in Präsenz gut durchführbar und didaktisch zufriedenstellend. Besonders das Peer Teaching wurde von den Teilnehmenden als unterstützend wahrgenommen.

Die Erhebung einer Sexualanamnese erfordert neben allgemeinen kommunikativen Kompetenzen (z.B. aktives Zuhören, Paraphrasieren) weitere spezifische Kommunikationskompetenzen in Bezug auf Sexualität (z.B. Voraussetzungen für eine schamfreie Gesprächsatmosphäre schaffen) [15]. Der neue Baustein als Erweiterung bestehender Anamnesebausteine im 5. Semester ist deshalb eine gute Ergänzung und kann mit spezifischen Skills auf den bestehenden Grundkompetenzen aufbauen. Während bei diesem Kurs der Schwerpunkt auf der Lehre kommunikativer Kompetenzen liegt, ist die Erhebung einer Sexualanamnese z.B. wie bei der Universitätsmedizin Greifswald [4] in ein ganzheitlicheres, longitudinales Konzept eingebettet: Das Greifswalder Curriculum vermittelt aus der Perspektive des bio-psycho-sozialen Modells sexualmedizinische Grundlagen sowie kommunikative Kompetenzen, betrachtet die beziehungsorientierte Dimension der Sexualität und bringt Selbsterfahrungsaspekte mit ein.

Anamneseübungen in Kleingruppen mit strukturiertem Feedback sind eine geeignete und gut erprobte Methode, allgemeine und spezifische kommunikative Kompetenzen zu erwerben [2], [16]. Das Würzburger Kurskonzept beinhaltete kognitive Skills (Wissensvermittlung mittels Powerpoint-Präsentation), Einstellungen (Fragen zur Selbstreflexion mittels White Board, Gruppenarbeit und „World-Café“) und Fertigkeiten (Anamneseübungen in Kleingruppen). Die Studierenden konnten so ihr erworbenes Wissen praktisch umsetzen [17], [18]. Peer Teaching ist – wie vielfach nachgewiesen wurde [2], [14], [19], [20] – eine effektive und beliebte Lernmethode. Auch unsere Ergebnisse zeigen, dass der Einsatz von Tutor*innen als besonders hilfreich empfunden wurde. Der hohe Betreuungsschlüssel (3:1) machte es möglich, kleine Gruppen zu bilden und diese intensiv zu betreuen. Durch den intimeren Rahmen in den Kleingruppen und die flache Hierarchie zu den Tutor*innen wurden Hemmungen genommen, über Sexualität zu sprechen. So konnten auch unangenehme oder schambehaftete Themen besser angesprochen werden. Es entstand für die Studierenden eine offene und vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre, die Unsicherheiten nahm und positive Erfahrungen ermöglichen konnte. Die Pilotierung des Kurses demonstriert zudem, dass die Vermittlung kommunikativer Kompetenzen auch im Online-Format möglich ist. Dies wird von internationalen Studien [21], [22] bestätigt und deckt sich mit unseren Erfahrungen aus der digitalen Lehre von Alkohol- und Raucherberatung [23]. In Hinsicht auf die Weiterentwicklung des Kurses sollte auf den Wunsch einer Vertiefung von kultur- und LGBTQIA*-sensiblen Themen eingegangen werden. Die Exploration der sexuellen Identität und der sexuellen Orientierung ist Bestandteil der Sexualanamnese [24]. Das erhöhte Erkrankungsrisiko und die Benachteiligung in der gesundheitlichen Versorgung dieser Patientengruppen sollten zu einer besonderen allgemeinmedizinischen Berücksichtigung führen [25]. Sprachbarrieren, fehlendes Fachwissen, Heteronormativität und Vorurteile sind nur wenige von vielen Schwierigkeiten, die bei der Erhebung der Sexualanamnese dieser Patient*innen auftreten können [25]. Hier muss besonderes Feingefühl gezeigt werden, um korrekte Informationen zu erheben, Stigmatisierung sowie Diskriminierung zu vermeiden und eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung zu fördern [24]. Die entsprechende Schulung in diesen Themenbereichen ist in der zukünftigen ärztlichen Aus- und Weiterbildung unerlässlich.

Limitationen

Bei den Teilnehmenden handelte es sich um eine selbstselektierte Stichprobe. So kann davon ausgegangen werden, dass vorwiegend Studierende teilnahmen, die besonderes Interesse und Offenheit für das Thema mitbrachten. Zudem ist die Stichprobengröße klein, was die Generalisierbarkeit eingrenzt. Dieses Projekt wurde von Studierenden initiiert, welche sich besonders motiviert und engagiert zeigten. Dies könnte einen Einfluss auf die Lehrqualität bzw. die Qualität des Peer Teachings gehabt haben. Des Weiteren fand keine objektive Lernerfolgsmessung z.B. durch einen OSCE (Objective Structured Clinical Examination), eine Klausur, eine Präsentation o.ä. statt. Der Erfolg des Kompetenzerwerbs der Studierenden wurde somit nur subjektiv erhoben, was nur bedingt Aussage über den tatsächlichen Kompetenzerwerb erlaubt.


5. Schlussfolgerungen

Der Kurs „Erheben einer Sexualanamnese“ konnte an der Medizinischen Fakultät Würzburg erfolgreich pilotiert werden. Der Kurs war sowohl im Online-Format als auch in Präsenz gut umsetzbar und wurde von den Studierenden überwiegend positiv bewertet. Der Kurs wird im SoSe 2022 nochmals in Präsenz angeboten und für die halbe Semesterstärke angeboten. Ab dem WiSe 2022/23 wird er als curricularer Bestandteil im 9. Semester integriert. Der Würzburger Kurs zur Erhebung einer Sexualanamnese kann als Beispiel für andere Standorte dienen, um sexualmedizinischen Themen mehr Raum im Curriculum zu geben und um langfristig sexualmedizinischen Fragestellungen im Behandlungsalltag besser begegnen zu können.


Hinweise zu den Abbildungen

Alle Abbildungen wurden selbst erstellt. Die verwendeten Icons entstammen Icons8 [https://icons8.com/].


Ethikvotum

Es wurden keine Daten von Patient*innen erhoben, die Datenerhebung erfolgte anonym, freiwillig und im Rahmen der üblichen Lehrevaluation. Daher war nach Rücksprache mit der Ethikkommission kein Antrag erforderlich, eine empfohlene Beratung durch die Datenschutzbeauftragten ist erfolgt und wurde umgesetzt.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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