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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Friedrich Edelhäuser: Wahrnehmen und Bewegen – Grundlagen einer allgemeinen Bewegungslehre

Buchbesprechung Rezension

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  • corresponding author Christian Scheffer - Universität Witten/Herdeck, Integriertes Begleitstudium Anthroposophische Medizin, Witten, Deutschland

GMS J Med Educ 2023;40(1):Doc2

doi: 10.3205/zma001584, urn:nbn:de:0183-zma0015845

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2023-40/zma001584.shtml

Eingereicht: 5. Dezember 2022
Überarbeitet: 27. Dezember 2022
Angenommen: 27. Dezember 2022
Veröffentlicht: 15. Februar 2023

© 2023 Scheffer.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Bibliographische Angaben

Friedrich Edelhäuser

Wahrnehmen und Bewegen – Grundlagen einer allgemeinen Bewegungslehre

Kohlhammer Verlag, Stuttgart

Erscheinungsjahr: 2022, 198 Seiten, Preis: € 39,00

ISBN: 978-3-17-036270-3


Rezension

Wie bewegt sich der Mensch? Sind seine Handlungen Ausdruck seiner primären motorischen Großhirnrinde oder finden sich darin die Intentionen einer menschlichen Individualität wieder? Wie sehen wir? Sind wir dabei passive Empfänger*innen oder müssen wir das Sehen aktiv gestalten? Was ergibt sich, wenn man sich diesen Fragen nähert, indem man naturwissenschaftliche und phänomenologisch-philosophische Erkenntnisse zusammenbringt? Lassen sich dadurch leitende Gesichtspunkte für eine personenzentrierte Medizin gewinnen?

Diese Fragen werden in dem neu erschienen Buch „Wahrnehmen und Bewegen – Grundlagen einer allgemeinen Bewegungslehre“ von Friedrich Edelhäuser umfassend und vielseitig beleuchtet. Dabei entführt uns der Autor zu erstaunlichen Phänomenen, zu bedenkenswerten Reflexionen und zu tiefgründigen Fragen.

Am Beispiel des Betrachtens einer Berglandschaft werden die ersten Phänomene des Sehens angeschaut: unser Blick geht innerlich durch das Bild, sucht verschiedene Gegenstände und Konturen ab und ordnet die Einzelheiten in einen sinnhaften Gesamtzusammenhang. Das zuerst als fix erscheinende wird somit als Prozess erfahrbar.

Im „objektivierenden“ Blick der Physiologie wird das Sehen als ein Vorgang charakterisiert, der einem Fotoapparat gleicht, bei dem das Licht durch eine Linse auf die Retina trifft und dann zu elektrochemischen nervalen Vorgängen führt. Die qualitativen Wahrnehmungen schmelzen hierbei zu einem messbaren aber qualitätslosen Prozess zusammen. Das Sehen wird somit Beispiel der Reiz-Reaktionsabfolge, bei der ein äußere Sinnesreiz im Inneren, d.h. im Gehirn zu elektrochemischen Vorgängen wird und mit einer Reaktion beantwortet wird. Dabei verschwindet nicht nur die Qualität des Wahrgenommenen, sondern auch die wahrnehmende Person. Im Folgenden wird diese sogenannte Dritte-Person-Perspektive als objektivierende Vorgehensweise durch die Introspektion, die Erste-Person-Perspektive ergänzt.

Im Kapitel 5 „Wahrnehmen und Bewegen“ wird der Sehvorgang genauer unter die Lupe genommen. Dabei wird man darauf aufmerksam, dass zu dem Sehen ein inneres Abtasten der wahrzunehmenden Kontur gehört. Diese unbewusste Bewegung der Augäpfel lässt sich technisch darstellen und weist individuelle Bewegungsmuster auf, ähnlich dem Gang oder der Handschrift. Wird diese Bewegung unterbunden, verschwimmt das Wahrgenommene kurzfristig aufgrund der fehlenden Kontrastierung zu einem Grau-in-Grau. Bei der weiteren Analyse fällt auf, dass man nicht nur mit seiner Augenmuskulatur, sondern mit der gesamten Kopf- und Körperhaltung auf den zu sehenden Gegenstand ausgerichtet ist. Erst diese Eigenbewegung ermöglicht das Sehen. Ähnliches lässt sich auch für das Hören und weitere Sinnesmodalitäten zeigen.

Im Blick zurück auf die Berglandschaft wird deutlich, dass es einen zirkulären Zusammenhang gibt, die Wahrnehmung des Bildes und die darin auffindbaren Konturen sind leitend für die Abtastbewegungen des Auges, die wiederum Bedingungen für das zu sehende sind. Es herrscht also kein monokausales Verhältnis mit zeitlichem Nacheinander vor, sondern ein sich gegenseitig bedingendes.

Im Kapitel 6 wird der Gestaltkreis von W. V. Weizsäcker eingeführt und das gegenseitige Ermöglichen von Wahrnehmen und Bewegen genauer untersucht. Das Organismus-Umwelt-Verhältnis konstituiert sich in einem umgreifenden, zirkulären Wahrnehmungs- und Bewegungsgeschehen. Als weitere Untersuchungsgegenstand wird nun die intentionale Aufmerksamkeit untersucht. Anhand von optischen Beispielen, bei denen man im selben Formzusammenhang je nach Intention Verschiedenes sehen kann (z.B. entweder einen nach vorne oder einen nach hinten ausgerichteten durchsichtigen Würfel) wird deutlich, dass Wahrnehmung nicht etwas einfach Vorgegebenes oder Abgebildetes ist, sondern etwas Aufgegebenes, etwas durch einen gerichteten, intentionalen Wahrnehmungsakt Erzeugtes. Diese intentionale Aufmerksamkeit beeinflusst mein Sehen in unterschiedlicher Weise, so kann sie zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Vorder- und Hintergrund, zwischen Zukünftigen und Vergangenem wechseln. Das sinnlich Gegebene ist in der Weise seines Erscheinens nicht eindeutig, sondern mehrdeutiger Interpretationen zugänglich.

Das Kapitel 7 wendet sich nun der der menschlichen Bewegung zu. Im Sinne des Reiz-Reaktionsmodells geht man hier in den traditionellen Vorstellungen von einem rein efferenten Prozess aus, bei der aus der Zentrale, dem Gehirn, ein Bewegungsimpuls über motorische Nerven an die Zielmuskulatur geht und die Bewegung auslöst. Auch hier wartet das Buch mit spannenden Phänomenen auf. So mit der Falldarstellung des Ian Waterman, der 19-jährig an einer Virusinfektion erkrankt und innerhalb weniger Tage vom Hals an abwärts sowohl den Berührungssinn sowie die Propriozeption und somit Lage- und Stellungssinn für die Gliedmaßen verliert. Damit verliert er auch zugleich die Fähigkeit der Bewegung, da diese nicht nur eine efferente nervale Struktur voraussetzt, sondern auch eine Wahrnehmung des Bewegungskontextes. Der Patient löst dies mit einer außerordentlichen Leistung, indem er in einem mühevollen Lernprozess den fehlenden Bewegungssinn durch den Sehsinn ausgleicht und die Bewegung über das Sehen der Gliedmaßenbewegungen steuert. Daran – und an gezielten Experimenten – wird deutlich, dass eine sich sinnvoll in den Kontext stellende Bewegung erst durch ein komplexes Zusammenspiel von efferenten und afferenten Prozessen möglich wird, die zugleich der intentionalen Gestaltung des Subjektes bedürfen. Bewegen setzt also das Wahrnehmen voraus und umgekehrt. Die intentionalen Gestaltungsprozesse werden in Anlehnung an Aristoteles die Selbstbewegung genannt.

Beides, sowohl das Wahrnehmen als auch das Bewegen sind also zirkulär kausal miteinander verbunden Prozesse, die ohne den jeweils anderen Part nicht sinnhaft funktionieren. Zugleich wird deutlich, dass in der Art und Weise, wie über die Selbstbewegung das Wahrnehmen und über die Wahrnehmung das Bewegen gesteuert wird, die individuelle Intentionalität wirksam wird. Somit ist nicht nur das Gehirn bzw. das Nervensystem Ausdruck der Individualität, sondern auch die Bewegungsorganisation. Dieser Grundgedanke wird in den weiteren Kapiteln mit der funktionellen Dreigliederung Rudolf Steiners sowie mit moderner Embodimentforschung weitergeführt, bei der es um die Frage geht, wie der gesamt Leib mit dem Erleben und den Intentionen einer Individualität in Resonanz steht.

Auch konkrete therapeutisch-physiologische Fragestellungen werden behandelt, u.a. an der Frage, wie sich Alltagsbewegungen sowie meditative Bewegungsformen wie die Heileurhythmie auf die Herz-Kreislauf-Regulation auswirken.

Das Buch spannt einen weiten Bogen von Alltagsphänomenen über spannende Falldarstellungen und der Reflexion eigener Wahrnehmungsprozesse zu sehr grundlegenden philosophischen und anthropologischen Fragestellungen. Das ist zuweilen anspruchsvoll, aber zugleich fruchtbar und anregend.

Braucht es ein solches Buch in der Ausbildung von Ärzt*innen und weiteren Gesundheitsberufen? Ich hätte mir in meinem Medizinstudium ein solches Buch gewünscht, in dem physiologische Prozesse so anschaulich dargestellt und in den Zusammenhang mit grundlegenden anthropologischen Fragestellungen gebracht werden. Die sonst häufige Trennung in „objektive“, den inneren Menschen ausblendende Physiologie und eine philosophische Vorgehensweise, die zugleich die naturwissenschaftlichen Bedingungen ausblendet, werden hier in spannender, gut nachzuvollziehender und erhellender Weise zusammengeführt. Daraus lassen sich nicht nur hilfreiche Gesichtspunkte für eine Medizin ableiten, die die Individualität eines Menschen in der Intentionalität seiner Wahrnehmungen und Bewegungen, in seiner Selbstbewegung und in seinem gesamten leiblichen Ausdruck wahrnimmt, sondern auch für die Lehre. Denn auch hier haben wir oft ein passives Bild von den Lernenden, die in erster Linie Inhalt aufzunehmen haben während wir der inneren intentionalen Selbstbewegung der Studierenden nur ungenügend Raum geben.


Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass er keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel hat.