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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Bestimmen Prüfungen das Lernen oder sollte das Lernen für das (Berufs-) Leben die Prüfung bestimmen?

Leitartikel Medizinische Ausbildung

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  • corresponding author Katrin Schüttpelz-Brauns - Universitätsmedizin Mannheim (UMM), Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, Geschäftsbereich Studium und Lehrentwicklung, Abteilung Medizinische Ausbildungsforschung, Mannheim, Deutschland

GMS J Med Educ 2022;39(5):Doc61

doi: 10.3205/zma001582, urn:nbn:de:0183-zma0015828

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2022-39/zma001582.shtml

Eingereicht: 30. September 2022
Überarbeitet: 20. Oktober 2022
Angenommen: 20. Oktober 2022
Veröffentlicht: 15. November 2022

© 2022 Schüttpelz-Brauns.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Leitartikel

Während des Unterrichts fragen mich meine Studierenden immer wieder, ob die besprochenen Themen prüfungsrelevant sind, v. a. bei solch spannenden Themen wie die Aussagekraft von Korrelationskoeffizienten oder das „Max-Kon-Min-Prinzip“. Meine Antwort: „Sie benötigen das für Ihr Leben“, steigert die Aufmerksamkeit nicht. In diesen Fällen scheinen für die Studierenden die Prüfungen wichtiger zu sein als die Inhalte selbst. Und nicht nur für meine Studierenden sind Prüfungen ein wichtiger Lernantrieb. Bei den häufig geführten Diskussionen zum Verhältnis von Lernen und Prüfen wird zunehmend die Position eingenommen: „Was nicht geprüft wird, wird nicht gelernt“.

Tatsächlich lässt sich empirisch nachweisen, dass Prüfungen das Lernen beeinflussen. Ein direkter Einfluss liegt beispielsweise beim Test-Enhanced Learning vor, mit dem nachweislich mehr Wissen behalten wird, oder bei Feedback auf eine (lernprozessbegleitende) Prüfung, bei dem das Lernverhalten aufgrund des Feedbacks angepasst wird. Prüfungen haben also lernsteuernde Wirkungen. So wählen Studierende, weil sie sich auf die Prüfung vorbereiten, anhand der Prüfungsinhalte die Lerninhalte aus und passen ihre Lernstrategien den Prüfungsformaten an, z. B. [1]. Prüfungen werden häufig mit Angst und Druck assoziiert, z. B. [2]. Daher sind Prüfungen nicht nur Mittel zum Zweck, sondern mit ihnen auch emotionale Kosten zum Lernen verbunden.

Dies führt zur Betrachtung des Lernens aus motivationaler Sicht. Hier bieten sich zwei Theorien an: die Selbstbestimmungstheorie von Ryan & Deci [3] sowie die Erwartungs-Wert-Theorie nach Wigfield & Eccles [4]. Bei der Selbstbestimmungstheorie werden drei verschiedene Formen von Motivation unterschieden: Die Amotivation, bei der keine Motivation vorliegt, die extrinsische Motivation, bei der der Antrieb außerhalb der Lernenden liegt sowie die intrinsische Motivation, bei der die Aufgabe selbst der Antrieb zum Lernen ist. Die extrinsische Motivation wird in vier Unterformen weiter ausdifferenziert, bei denen der Ort des Antriebs zunehmend von außen (externale Regulation) über die introjizierte Regulation und die identifizierte Regulation nach innen (integrierte Regulation) verlagert wird. Bezogen auf das Lernen wird bei Amotivation gar nicht gelernt. Bei der externalen Regulation lernen Studierende, weil sie sich durch Dritte unter Druck gesetzt fühlen und in der introjizierten Regulation, weil sie ein schlechtes Gewissen haben oder anderen beweisen möchten, dass sie es können. In der identifizierten Regulation wird das Lernen als Teil des freiwillig gewählten Studiums betrachtet. In der integrierten Regulation werden die Inhalte gelernt, weil sie auf das (Berufs-) Leben vorbereiten. Wenn Studierende lernen, um gute Noten zu erreichen oder um nicht durchzufallen, lernen sie mit großer Wahrscheinlichkeit genau das, was die Prüfung verlangt, sowohl inhaltlich als auch in der Tiefe, welche durch das Prüfungsformat vorgegeben ist. Tatsächlich zeigt sich, dass extrinsische Motivation eher mit oberflächlichen Lernstrategien, wie dem „Bulimie-Lernen“, verbunden ist und intrinsische Motivation eher mit elaborierten Lernstrategien, die auf langfristiges Behalten abzielen [5]. Nach der Selbstbestimmungstheorie lernen also eher extrinsisch motivierte Studierende für die Prüfungen und eher intrinsisch motivierte Studierende für das (Berufs-) Leben bzw. aus Interesse und Freude an der inhaltlichen Auseinandersetzung. Dies lässt sich jedoch nicht pauschal sagen. Es gibt noch andere Mechanismen, die dazu führen, dass sich der Fokus vom Lernen hin zu den Prüfungen ändert. In der empirisch gesicherten Erwartungs-Wert-Theorie wird postuliert, dass die gezeigte Leistung durch die Motivation erklärt werden kann [4]. Diese ergibt sich aus dem Zusammenhang von Erfolgserwartung und Wert einer Aufgabe (z. B. einer Prüfung). Der Wert der Prüfung besteht aus dem intrinsischen Wert, z. B. einer spannenden Herausforderung, der Bedeutsamkeit/Wichtigkeit oder den Kosten, welche auch emotionaler Art sein können. Dass diese Kosten häufig in den Vordergrund rücken, zeigte sich auch in Studien, z. B. [2]. Wenn der Wert der Prüfung sowie die emotionalen Kosten sehr hoch sind, rückt der Fokus wahrscheinlich weg vom Lernen für das (Berufs-) Leben und hin zum Lernen auf die Prüfungen. Theoretisch sollte in einem Curriculum mit Constructive Alignment die Lehre auf die Prüfungen vorbereiten und die Prüfungsvorbereitung daher vor allem eine Wiederholung der gelehrten Inhalte sein. Tatsächlich erfahre ich immer wieder in Gesprächen mit Studierenden, dass sie die Lehrveranstaltungen besuchen, sich aktiv beteiligen, aber das Lernen für die Prüfung davon unabhängig vollziehen (z.B. unter Zuhilfenahme von Altklausuren oder entsprechenden Angeboten wie AMBOSS). In einer solchen Phase wird aufgrund des hohen Wertes der Prüfung und der Zeitknappheit nur gelernt, was geprüft wird.

So ist gut nachvollziehbar, dass die Diskussion zum Verhältnis von Lernen und Prüfen sich zunehmend in die Richtung: „Was nicht geprüft wird, wird nicht gelernt.“ verlagert. Nichtsdestotrotz sollten wir die Ursachen systematisch untersuchen, um die Lehre bzw. das Lernen wieder in den Fokus zu rücken. Nur so können Prüfungen ihre Funktion erfüllen: den Lernprozess zu begleiten und sicherzustellen, dass Mindeststandards erfüllt werden. Nicht mehr und nicht weniger…

In dieser Ausgabe wird der Fokus nur in einem Artikel auf die Prüfung gelegt, einem Tele-OSCE in Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie [6]. Ein Artikel rückt die Studierenden in den Mittelpunkt, indem die Entwicklung von Depressionswerten zu Beginn und im Verlauf des Medizinstudiums aufgezeigt sowie Einflussfaktoren inkl. Resilienzfaktoren identifiziert werden [7]. Mehrere Artikel fokussieren auf Lehrformate, wie einem interprofessionellen Ausbildungstag zur Vermittlung interprofessioneller Kompetenzen [8], einem klinischen Wahlfach zu häuslicher Gewalt [9], Interventionen zum Umgang mit der Pharma-Industrie [10], simulationsbasierter medizinischer Ausbildung [11] und Ausbildung von Medizinstudierenden in der fachspezialistisch ambulanten Versorgung [12]. Zwei Artikel beschäftigen sich mit übergreifenden Themen, wie die Publikationsaktivitäten im Bereich des digitalen Lehrens und Lernens in dieser Zeitschrift [13] sowie mit der Weiterbildungslandschaft in Deutschland [14]. Ein Artikel nimmt ein Messinstrument in den Blick. Die Autor*innen beschreiben hierin die Entwicklung und teststatistische Überprüfung des Fragebogens zur Erfassung von Lehrkompetenzen in der Medizin [15].


Interessenkonflikt

Die Autorin erklärt, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


Literatur

1.
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2.
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3.
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4.
Wigfield A, Eccles J. Expectancy-value theory of achievement motivation. Contemp Educ Psychol. 2000;25(1):68-81. DOI: 10.1006/ceps.1999.1015 Externer Link
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Pelzer A, Sapalidis A, Rabkow N, Pukas L, Günther N, Watze S. Does medical school cause depression or do medical students already begin their studies depressed? A longitudinal study over the first semester about depression and influencing factors. GMS J Med Educ. 2022;39(5):Doc58. DOI: 10.3205/zma001579 Externer Link
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McInerney N, Nally D, Khan MF, Heneghan H, Cahill RA. Performance effects of simulation training for medical students – a systematic review. GMS J Med Educ. 2022;39(5):Doc51. DOI: 10.3205/zma001572 Externer Link
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13.
Kleinsorgen C, Baumann A, Braun B, Griewatz J, Lang J, Lenz H, Mink J, Raupach T, Romeike B, Sauter TC, Schneider A, Tolks D, Hege I. Publication activies related to digital teaching and learning in GMS Journal for Medical Education – a descriptive analysis (1984-2020). GMS J Med Educ. 2022;39(5):Doc59. DOI: 10.3205/zma001580 Externer Link
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