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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Digitales Patienten-bezogenes Lernen im Medizinstudium: Eine nationale Lernplattform mit virtuellen Patient*innen im Rahmen des DigiPaL-Projektes

Artikel Virtuelle Patient*innen

  • author Jacqueline Jennebach - Medizinischer Fakultätentag der Bundesrepublik Deutschland e.V., Geschäftsstelle, Berlin, Deutschland
  • corresponding author Olaf Ahlers - Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow Klinikum, Klinik für Anästhesiologie m.S. operative Intensivmedizin CCM/CVK, LOOOP-Projekt, Berlin, Deutschland
  • author Angelika Simonsohn - LMU-Klinikum, Institut für Didaktik und Ausbildungsforschung in der Medizin, München, Deutschland
  • author Martin Adler - Instruct gGmbH, München, Deutschland
  • author Julian Özkaya - Medizinischer Fakultätentag der Bundesrepublik Deutschland e.V., Geschäftsstelle, Berlin, Deutschland
  • author Tobias Raupach - Universitätsklinikum Bonn (AÖR), Institut für Medizindidaktik, Bonn, Deutschland
  • author Martin R. Fischer - LMU-Klinikum, Institut für Didaktik und Ausbildungsforschung in der Medizin, München, Deutschland

GMS J Med Educ 2022;39(4):Doc47

doi: 10.3205/zma001568, urn:nbn:de:0183-zma0015684

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2022-39/zma001568.shtml

Eingereicht: 23. Januar 2022
Überarbeitet: 28. Juni 2022
Angenommen: 5. Juli 2022
Veröffentlicht: 15. September 2022

© 2022 Jennebach et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Auf Grund der Coronavirus-Pandemie haben die Medizinischen Fakultäten in der Bundesrepublik Deutschland ihre Curricula im Frühjahr 2020 großflächig und sehr rasch im Sinne eines Notfallplans auf digitale Formate umgestellt. Parallel wurde damit begonnen, digitale Lehr-/Lernangebote über die bereitgestellte Online-Plattform „LOOOP share“ bundesweit auszutauschen, um lokale Ressourcen zu schonen. Unter anderem wurden auch virtuelle Patient*innen-Fälle (VP) für das fallbasierte Lernen fakultätsübergreifend geteilt, durch welche die Studierenden klinische Entscheidungskompetenzen erwerben können.

Ziele: Im Rahmen des zu dieser Zeit initiierten Kooperationsprojektes „Nationale Lernplattformen für digitales patientenbezogenes Lernen im Medizinstudium“ (DigiPaL) sollte u.a. die Nutzbarkeit von VP für Studierende und Lehrende verbessert und das Spektrum der verbindlich für die Lehre verfügbaren Krankheitsbilder systematisch erweitert werden.

Ergebnisse: Unter Beteiligung vieler Standorte wurden ergänzend zu den bereits bestehenden 403 VP von 96 Fallautor*innen aus 16 Fakultäten insgesamt weitere 150 VP entwickelt. Die thematische Auswahl erfolgte auf Basis von am Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin 2.0 (NKLM) orientierten Kriterien. Diese VP wurden dann nach Fertigstellung ebenfalls über LOOOP share und die Lernplattform CASUS allen Fakultäten zur freien Nutzung zur Verfügung gestellt.

Diskussion: Auch nach der Pandemie sollen diese entwickelten VP den Fakultäten zur Verfügung stehen und so nachhaltig zur Verbesserung der medizinischen Ausbildung in der Bundesrepublik Deutschland beitragen – insbesondere vor dem Hintergrund, dass auf Basis der angepassten aktuellen Ärztlichen Approbationsordnung (ÄApprO) digitale Lehrformate ausdrücklich befürwortet werden. Denkbar ist perspektivisch das gezielte interdisziplinäre Erlernen klinischer Entscheidungsfindung mithilfe von Blended Learning Formaten im Rahmen eines longitudinalen Curriculums.

Die große Zahl beteiligter Kolleg*innen und Fakultäten zeigt, dass die fakultätsübergreifende, national abgestimmte Entwicklung von VP als sinnvoll angesehen wurde.

Schlüsselwörter: kompetenzbasierte Ausbildung, curriculare Kartierung, virtuelle Patient*innen, Problemlösung


1. Einleitung

Im Zuge der Einschränkungen durch die Coronavirus-Pandemie wurde das „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ erlassen, welches u.a. die Ausbildung von Ärzt*innen sicherstellen sollte [http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl120s0587.pdf]. Hierauf aufbauend schaffte der §2 der „Abweichungen zur Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte“ explizit die rechtliche Möglichkeit, digitale Unterrichtsformate als Ersatz für theoretische Präsenzlehrformate und als Ergänzung für praktische Lehrformate in den humanmedizinischen Studiengängen einzusetzen [https://www.gesetze-im-internet.de/epi_appro2002abwv/index.html]. Die Nutzung dieser Option stellte die medizinischen Fakultäten allerdings im Frühjahr 2020 vor große Herausforderungen:

1.
an jeder Fakultät wurden kurzfristig viele digitale Lernmaterialien („Ressourcen“) benötigt,
2.
der Einsatz dieser Ressourcen musste auf die Inhalte des eigenen Curriculums abgestimmt sein und
3.
insbesondere die Kernkompetenz „Klinische Entscheidungsfindung“ sollte digital soweit möglich erworben werden können.

Alle drei o.g. Herausforderungen wurden durch das Autor*innenteam im Rahmen eines zweischrittigen Prozesses adressiert. Die Fakultäten wurden in einem ersten Schritt kurzfristig bei der Durchführung der Lehre während der Pandemie unterstützt. Dieser Schritt war die Grundlage für den in diesem Projektbericht dargestellten Schritt 2. Schritt 2 stellt die Nachhaltigkeit des Projektes – insbesondere mit Blick auf die Anforderungen der neuen Ärztlichen Approbationsordnung (ÄApprO) – sicher, deren Inkrafttreten aktuell für 2025 geplant ist.

1.1. Schritt 1: Kurzfristige bundesweite Bereitstellung bereits vorhandener Online-Ressourcen

Ziel dieses ersten Schrittes war es, bereits vorhandene Online-Ressourcen schnellstmöglich bundesweit zur Nutzung für die Fakultäten zur Verfügung zu stellen. Dies sollte sowohl über Standardbrowser als auch über mobile Endgeräte kostenfrei möglich sein. Zudem sollte den Fakultäten ein niedrigschwelliger Abgleich der angebotenen Ressourcen mit dem eigenen Curriculum ermöglicht werden, um geeignete Ergänzungen der eigenen Präsenzveranstaltungen identifizieren zu können. Ein Schwerpunkt lag dabei auf der Einbindung virtueller Patient*innen-Fälle (VP) im Hinblick auf das Erlernen klinischer Entscheidungsfindung als wichtiger ärztlicher Kompetenz.

1.1.1. Vernetzung vorhandener Online-Ressourcen (adressiert Herausforderung (1))

Im März 2020 wurde die international genutzte LOOOP-Onlineplattform durch das Entwickler*innenteam der Charité – Universitätsmedizin Berlin so angepasst, dass hierüber digitale Ressourcen bundesweit von allen Fakultäten geteilt und damit gemeinsam genutzt werden können (siehe [https://looop-share.charite.de/]). Hierzu können die Fakultäten Links zu ihren online zugänglichen digitalen Ressourcen auf LOOOP share hinterlegen und die Zugriffsrechte auf diese Ressourcen selbst steuern. Die Anpassung der Plattform erfolgte in enger Abstimmung mit dem Medizinischen Fakultätentag der Bundesrepublik Deutschland e.V. (MFT).

Seit Juni 2020 ist der Zugang zu LOOOP share über die Authentifikations- und Autorisierungs-Infrastruktur des Deutschen Forschungsnetzes (DFN-AAI, siehe [https://doku.tid.dfn.de/de:aai:about]) bundesweit einheitlich im Rahmen eines „Single Sign On“ möglich. Diese niedrigschwellige Steuerung der Zugriffsrechte wurde durch eine seit dem 01. Juni 2020 bestehende Förderung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) im Rahmen des Kooperationsprojektes „Nationale Lernplattformen für digitales patientenbezogenes Lernen im Medizinstudium“ (DigiPaL) ermöglicht.

1.1.2. Nutzung der Online-Ressourcen für das eigene Curriculum (adressiert Herausforderung (2))

Um eine inhaltliche Navigation durch die in LOOOP share verlinkten Online-Ressourcen zu ermöglichen, wurde jede Ressource einzeln mit den Inhalten des 2015 veröffentlichten Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin (NKLM, Version 1.0) [1] verknüpft. Diese Verknüpfung erfolgte nach einem Konzept für curriculare Kartierung, das seit 2004 unter Federführung der Charité – Universitätsmedizin Berlin im Rahmen des internationalen LOOOP-Forschungsnetzwerks entwickelt wurde [2]. Grundlage dieses Konzeptes, das aktuell zur Kartierung von ca. 140 Studiengängen in 22 Ländern genutzt wird (siehe [https://looop.charite.de/]), sind unter anderem Vorarbeiten von Harden [3] und Willett [4].

Fakultäten, die ihre eigenen Curricula bereits im Rahmen des LOOOP-Forschungsnetzwerks gegen den NKLM 1.0 kartiert haben, bekommen automatisch die zu ihren Lehrveranstaltungen passenden (mit den gleichen NKLM-Inhalten verknüpften) Ressourcen angezeigt. Fakultäten, die nicht mit LOOOP kartieren, können geeignete Ressourcen in LOOOP share über die Navigation innerhalb des thematisch strukturierten NKLM identifizieren.

1.1.3. Virtuelle Patient*innen-Fälle (adressiert Herausforderung (3))

VP stellen eine effektive Möglichkeit dar, klinisches Denken und insbesondere klinische Entscheidungsfindung zu erlernen, zu trainieren und zu prüfen [5], [6], [7]. Bereits seit 1993 wird die Lernplattform CASUS für das fallbasierte Lernen an VP genutzt [8] und kontinuierlich weiterentwickelt (siehe [https://www.instruct.eu/#casus_software]). So wurden spezielle Funktionen zur klinischen Entscheidungsfindung im Rahmen eines separaten EU-geförderten Projekts ergänzt (siehe [https://www.foliospaces.org/view/view.php?id=56393]). In der Lernumgebung CASUS lag im Frühjahr 2020 ein umfassender Pool von VP vor, welcher von sechs medizinischen Fakultäten erstellt worden war.

Auf LOOOP share wurden im Rahmen von Schritt 1 zu Beginn der Pandemie durch die Fakultäten 403 fertig ausgearbeitete und gegen den NKLM 1.0 kartierte VP hinterlegt, bei denen eine standortübergreifende Nutzung unter Berücksichtigung rechtlicher Rahmenbedingen (z.B. des Urheberrechts) möglich war und bei denen aus Sicht der Fallersteller*innen kein Überarbeitungsbedarf bestand. Diese VP adressierten 94 Erkrankungen des NKLM – in erster Linie aus den internistischen, chirurgischen und pädiatrischen Inhaltsgebieten. Seit Mai 2020 sind sie bundesweit kostenfrei über das DFN-AAI in CASUS zugänglich. Tabelle 1 [Tab. 1] stellt die ansteigenden Zugriffszahlen auf diese VP über vom Sommersemester 2020 bis zum Sommersemester 2021 dar.

1.2. Schritt 2: Inhaltliche Abdeckung für patientenbezogene Lehre mittels VP und Sicherstellung der mittel- und langfristigen Nutzbarkeit

Die im September 2021 verabschiedeten Anpassungen der aktuell gültigen ÄApprO [http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl121s4335.pdf] sowie die Entwürfe zur neuen ÄApprO, deren Inkrafttreten für 2025 geplant ist, erlauben explizit den Einsatz digitaler Lehrformate und ermöglichen damit eine nachhaltige Nutzung der in Schritt 1 beschriebenen Innovationen auch über die Pandemie hinaus. Durch das DigiPaL-Projekt sollen die Fakultäten bei der Nutzung dieser Möglichkeit unterstützt werden.

Hierzu sollten die bereits bestehenden VP um zusätzliche VP aufgestockt werden, um den bundesweit nutzbaren VP-Pool inhaltlich gezielt an den Erfordernissen der neuen ÄApprO auszurichten.

1.2.1. Inhaltliche Vorgaben der neuen Ärztlichen Approbationsordnung und NKLM 2.0

Im Rahmen des Inkrafttretens der neuen ÄApprO soll sich der Inhalt der Curricula an den medizinischen Fakultäten jeweils zu ca. 80% verbindlich an der dann vorliegenden Fassung des NKLM orientieren (sog. „Kerncurricula“). Deshalb wurde zwischen 2018 und 2021 der NKLM 1.0 in einem bundesweiten Prozess unter Beteiligung vieler hundert Expert*innen aus medizinischen Fakultäten und Fachgesellschaften zur Zwischenversion NKLM 2.0 weiterentwickelt und im April 2021 veröffentlicht [https://www.nklm.de]. Diese Weiterentwicklung des NKLM erfolgte im Rahmen eines standardisierten Prozesses [https://nklm.de/zend/objective/list/orderBy/@objectivePosition/modul/200557] gemeinsam mit der Entwicklung des kompetenzorientierten Gegenstandskatalogs und wurde durch die NKLM-Geschäftsstelle (GSt.) am MFT koordiniert.

Auf Grund der Komplexität des NKLM werden im Folgenden nur die für dieses Projekt relevanten NKLM-Abschnitte bzw. -Detailinformationen beschrieben:

Der NKLM 2.0 definiert eine für die Kerncurricula der Fakultäten relevante Auswahl von Erkrankungen. Diese werden wiederum anhand einzelner klinischer Aspekte (sog. „Deskriptoren“) betrachtet, wie z.B. Diagnostik, Therapie, Notfallmaßnahmen und Management. Nicht alle Deskriptoren wurden im NKLM für jede Erkrankung als „relevant“ markiert. Dies hat hauptsächlich zwei Ursachen: Zum einen existieren bestimmte Aspekte bei einigen Erkrankungen schlichtweg nicht, z.B. gibt es nicht bei jeder Erkrankung Notfälle bzw. Notfallmaßnahmen. Zum anderen wurden im NKLM nur diejenigen Aspekte als „relevant“ markiert, welche bereits im Rahmen des Studiums erlernt werden sollten. Daran anknüpfend wurde für jeden als „relevant“ eingestuften Deskriptor entschieden, ob eine kognitive (beispielsweise die Erstellung eines patientenbezogenen Diagnostik- bzw. Therapieplans) oder praktische Handlungskompetenz erworben werden soll. Ergänzend wurde bei jeder Erkrankung auch markiert, ob es sich um eine seltene Erkrankung handelt.

Über Querverbindungen von jeder einzelnen Erkrankung zu anderen Kapiteln des NKLM wurde dann definiert, welche Diagnostik, Therapie, etc. im Kontext dieser Erkrankung erlernt werden soll. Die im NKLM aufgeführten Erkrankungen spielen also eine zentrale Rolle sowohl bei der Definition der klinischen Inhalte des Medizinstudiums als auch bei Auswahl der für das Studium relevanten Aspekte klinischer Entscheidungsfindung.

1.2.2. Projektziele

Als Teil des BMG-geförderten DigiPaL-Projekts zur Entwicklung von Ressourcen für das digitale Patienten-bezogene Lernen sollte der in 2020 bundesweit über LOOOP share geteilte VP-Pool so erweitert werden, dass er nach der Erweiterung die Erkrankungen mit relevanten klinischen Handlungskompetenzen im NKLM 2.0 abdeckt. Die Entscheidung, welche VP hierzu ergänzend benötigt werden, sollte dabei auf Basis standardisierter Kriterien (siehe 2.2) anhand einer Analyse der bereits in LOOOP share vorhandenen VP stattfinden. Zur Identifikation der entsprechenden Erkrankungen sollten standardisierte Kriterien hinsichtlich der Handlungskompetenzen entwickelt werden und anschließend sollten sich bundesweit alle medizinischen Fakultäten koordiniert durch den MFT am Erstellungsprozess beteiligen können.


2. Projektbeschreibung

2.1. Etablierung der Entscheidungs- und Organisationsstrukturen

Nach Bewilligung des DigiPaL-Projektantrages durch das BMG, welcher zusätzlich zum hier beschriebenen Projekt auch die Entwicklung einer digitalen virtuellen Notaufnahme (DIVANA) umfasste, wurde ein „Editorial Board“ eingesetzt. Dieses sollte die zu entwickelnden NKLM-basierten Kriterien zwecks Auswahl der Erkrankungsthemen für die VP verabschieden und auch die darauffolgende Fall-Vergabe an die Fakultäten beschließen. Die Fall-Vergabe erfolgte durch die GSt. am MFT, die Koordination der VP-Überarbeitung bzw. -Neuentwicklung wurde durch das Institut für Didaktik und Ausbildungsforschung in der Medizin der LMU München übernommen.

2.2. Entwicklung standardisierter Kriterien zur VP-Überarbeitung bzw. -Erstellung

Es wurden durch die GSt. auf Basis des NKLM 2.0 standardisierte Kriterien zur Auswahl der wichtigsten Erkrankungen (und derer Deskriptoren) entwickelt, die durch VP abgedeckt sein sollten. Bei Erfüllung eines oder mehrerer dieser in Tabelle 2 [Tab. 2] dargestellten Kriterien wurde eine Erkrankung in die Auswahl aufgenommen. Grundvoraussetzung war, dass es sich nicht um eine „seltene Erkrankung“ handelte.

Bei den Kriterien wurde generell auf die Markierung einer Handlungskompetenz Wert gelegt, um dem Ziel des Kompetenzerwerbs im Bereich der „klinischen Entscheidungsfindung“ durch die VP Rechnung zu tragen.

Die Kombination der Deskriptoren „Diagnostik“ und „Therapie“ bei Kriterium 1 rührte daher, dass sich hier ein klinischer Prozess sehr gut darstellen lässt, wenn hinsichtlich beider Deskriptoren eine Handlungskompetenz gefordert wird. Gleiches gilt für die Kombination der Deskriptoren „Diagnostik“ und „Management“ bei Kriterium 3.

Der Deskriptor „Notfallmaßnahmen“ umfasst sowohl die Notfalldiagnostik (bzw. erst einmal das Erkennen einer Notfallsituation) als auch das Einleiten erster therapeutischer Schritte – weshalb dieser Deskriptor in Kriterium 2 betrachtet wurde. Hier waren die anderen Deskriptoren jedoch nicht in Kombination relevant, da es viele Erkrankungen gibt, bei denen es für Studierende nur wichtig ist, die akute Situation zu erkennen und Maßnahmen einzuleiten – jedoch nicht die generelle Diagnostik und Therapie dieser z.T. komplexen Erkrankungen selbst durchführen zu können.

2.3. Analyse benötigter VP und Abgleich mit dem bereits veröffentlichten VP-Pool

Anhand der unter 2.2 dargestellten Kriterien wurden diejenigen Erkrankungen und Deskriptoren des NKLM 2.0 herausgefiltert, die durch VP abgedeckt werden sollen. Mit Hilfe der im NKLM 2.0 definierten Nachfolgebeziehungen zum NKLM 1.0 wurden dann die Erkrankungen beider Katalogversionen miteinander verglichen und die jeweilige Abdeckung durch bereits veröffentlichte VP in LOOOP share analysiert. Die in dieser Abdeckungsanalyse ermittelten „Lücken“ konnten sich sowohl auf bisher noch nicht über VP abgedeckte Erkrankungen als auch auf in veröffentlichten VP bisher nicht abgedeckte Deskriptoren bereits vorhandener Erkrankungen beziehen.

Auf Grundlage dieser Analysen wurde zuerst ein vorhandener Pool bisher nicht veröffentlichter oder nicht mehr eingesetzter älterer VP (mit umfangreichem Überarbeitungsbedarf) nach 75 geeigneten Fällen zur Abdeckung der notwendigen Themen durchsucht. Anschließend wurden 75 neu zu erstellende VP definiert, um die dann noch verbliebenen „Lücken“ zu schließen.

Ergänzend wurde ein standardisiertes Vorgehen durch das Editorial Board verabschiedet, um bereits vor der Anwendung der o.g. Kriterien festzulegen, wie verfahren werden sollte, wenn – wie zu erwarten – nicht exakt 75 zu überarbeitende und 75 neu zu erstellende VP identifiziert werden.

1.
Falls anhand der Analysen zu wenige VP identifiziert werden, sollten „facettenreiche Erkrankungen“ ergänzend mit aufgenommen werden, auch wenn diese bereits in einem bestehenden CASUS-Fall adressiert werden. Diese VP sollten dann einen alternativen Erkrankungs-Schwerpunkt abdecken.
2.
Falls zu viele VP identifiziert werden, konnte das Editorial Board VP ausschließen, die a) aus inhaltlicher Sicht für die Umsetzung als VP weniger geeignet oder b) bereits durch genügend ähnliche VP abgedeckt waren.
2.4. Ausschreibung der VP und Vergabe

Die 11 Fallpakete (entsprechend den Organsystemkapiteln des NKLM 2.0) wurden daraufhin bundesweit ausgeschrieben und durch das Editorial Board jeweils auf möglichst zwei sich bewerbende Fakultäten verteilt. Diese Fakultäten sollten jeweils hälftig die ausgeschriebenen VP erarbeiten und sich gegenseitig als Review-Partner zur Verfügung stehen.

Die Fakultäten erhielten eine Aufwandsentschädigung von 1.200 € für jeden neu erstellten VP und von 600 € für jeden zu überarbeitenden VP. Das gegenseitige Fall-Review war in diesem Betrag enthalten.

2.5. Erstellung der VP

Die Fallautor*innen erhielten durch die LMU ein umfassendes Schulungsangebot, das sowohl die didaktische Gestaltung von VP als auch die Anwendung des CASUS-Autorensystems beinhaltete. Die insgesamt 96 Autor*innen wurden im gesamten Prozess der Fallentwicklung individuell begleitet und alle VP erhielten nach der ersten Fertigstellung ein formatives didaktisches Review mit detaillierten Überarbeitungsvorschlägen.

2.6. Bereitstellung der VP bundesweit

Nach Finalisierung der jeweiligen VP wurden die Autor*innen um Kurzzusammenfassungen für LOOOP share gebeten. Außerdem fand eine durch die GSt. unterstützte Kartierung der neuen/überarbeiteten VP gegen den NKLM 1.0 statt, sodass auch diese VP von den Fakultäten auf Basis der Zusammenfassungen sowie der Kartierung schnell curricular eingebunden werden können.


3. Ergebnisse

3.1. Zu überarbeitende und neu zu erstellende VP
3.1.1. Auswahl der zu überarbeitenden VP

Aus dem Pool der zu überarbeitenden VP wurden mit Hilfe der unter 2. beschriebenen Kriterien 50 geeignete Fälle identifiziert. Dabei lag die Anzahl der geeigneten VP pro abzudeckender Erkrankung zwischen 1 und 4 (siehe Tabelle 3 [Tab. 3]) und es wurden maximal 2 VP pro Erkrankung ausgewählt (schlussendlich wurden 44 zu überarbeitende VP identifiziert). Anschließend wurden entsprechend 2.3.1. weitere zu überarbeitende VP definiert und so das Ziel von 75 zu überarbeitende VP erreicht.

3.1.2. Definition der neu zu erstellenden VP

Im Rahmen des unter 2. beschriebenen Verfahrens wurden insgesamt 81 Erkrankungen identifiziert, die weder durch bereits veröffentlichte noch durch zu überarbeitende VP abgedeckt waren. Wie unter 2.3. 2. beschrieben, wurden diese Erkrankungen dann auf 75 reduziert. Tabelle 4 [Tab. 4] stellt die sechs Erkrankungen (inkl. der jeweiligen Begründung) dar, für die keine VP erstellt wurden.

3.2. Verteilung der VP-Überarbeitung und -Neuerstellung auf die Fakultäten

Insgesamt 16 Fakultäten haben sich im Rahmen des Ausschreibungsprozesses beworben und wurden den 11 organbezogenen Themenpaketen zugeordnet (siehe Tabelle 5 [Tab. 5]). Tabelle 6 [Tab. 6] gibt einen Überblick über die thematische Zuordnung der Fakultäten.

3.3. Erstellte VP

Alle 150 zu überarbeitenden und neu zu erstellenden VP wurden in der Zeit vom 01.11.2020 bis 12.12.2021 erstellt, einem Peer-Review unterzogen und in LOOOP share verlinkt.


4. Diskussion

Der Pool der bundesweit kostenlos zur Verfügung stehenden VP konnte im Rahmen des DigiPaL-Projektes so erweitert werden, dass nun die wichtigsten Aspekte der im NKLM aufgeführten Erkrankungen durch VP abgedeckt werden. Diese VP sind mit Hilfe der ebenfalls kostenlos nutzbaren Plattform LOOOP share über das DFN-AAI zugänglich und können ab sofort zur dezentralen und ergänzenden Lehre der Fakultäten genutzt werden.

Das Format der VP eignet sich besonders gut zum Trainieren von klinischer Entscheidungsfindung (hinsichtlich Diagnosestellung und Therapieentscheidungen). Thematisch abgeschlossene Fallsammlungen stellen dabei einen besonderen Mehrwert dar. Die seit 2007 an vielen Fakultäten genutzte Fallsammlung zur Arbeits- und Umweltmedizin ist ein erfolgreiches Beispiel für diese fakultätsübergreifende Nutzung von VP [9]. Jedoch können VP generell nur zur Abbildung „kognitiver Handlungskompetenz“ (also zum Beispiel der selbstständigen Erstellung von Diagnostik- und/ oder Therapieplänen) genutzt werden [10]. Daher ist die ergänzende Lehre hinsichtlich prozeduraler und manueller Fähigkeiten (Handhabung; Einüben durch Simulationen) notwendig, um eine erfolgreiche Umsetzung des Gelernten zu ermöglichen [10], [11].

Eine Orientierung der VP am NKLM war vor dem Hintergrund sinnvoll, dass der NKLM nach einer weiteren Überarbeitung voraussichtlich 2025 zur verbindlichen Grundlage der bundesweiten Kerncurricula wird. Die Konzeption der Kriterien beruhte dabei auf der Annahme, dass zunächst nur solche Erkrankungen betrachtet werden sollten, die den Studierenden regelhaft begegnen. Die VP-Situation war dabei als „beschwerdebedingte Konsultation“ gedacht und nicht im Sinne einer präventiven ärztlichen Vorstellung. Des Weiteren wurde einer geforderten „Handlungskompetenz“ eine besondere Wichtigkeit beigemessen, da hier von den Studierenden ein gewisses selbstständiges Handeln am Ende des Studiums erwartet wird.

Die Kriterien wurden auf Basis des Zwischenstandes des NKLM Ende 2020 erarbeitet und angewendet. Ein Abgleich, ob sich letztendlich bei der Finalisierung des NKLM 2.0 bis April 2021 noch etwas an den zu inkludierenden VP verändert hat, wäre möglich. In Anbetracht der bis 2025 geplanten Weiterentwicklung des NKLM liegt es allerdings nahe, eine erneute Überprüfung der durch die erarbeiteten Kriterien selektierten VP auf Basis einer späteren Version des NKLM (z.B. der für 2024 geplanten Version 2.1) vorzunehmen, um den Pool der VP entsprechend der kerncurricularen Inhalte anzupassen. Darüber hinaus ist natürlich auch eine Entwicklung von VP auf Basis der übrigen NKLM-Erkrankungen (welche nicht in die genannten Kriterien fallen) sinnvoll, um den Studierenden die Möglichkeit zu geben, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.

Eine Limitation des DigiPaL-Projektes könnte in der Fokussierung der Fälle auf Erkrankungen (statt beispielswiese auf Konsultationsanlässe im Sinne von „Leitsymptomen“) liegen. Dieses Vorgehen war dem Zeitdruck im Zuge der Pandemie geschuldet, um eine schnelle Nutzbarkeit der VP zu ermöglichen. Eine Fokussierung auf Konsultationsanlässe hätte bedeutet, dass die Dozierenden alle veröffentlichten Fälle mit einem passenden Symptom daraufhin hätten durchschauen müssen, ob sie die von Ihnen zu lehrende Diagnose tatsächlich tangieren. Im Rahmen der oben bereits erwogenen „Nachkartierung“ der VP gegen die NKLM-Version 2.1 wäre aber eine zusätzliche Markierung der in einem VP adressierten Konsultationsanlässe sinnvoll.


5. Schlussfolgerung

Die bundesweite Beteiligung von 17 Fakultäten spiegelt das große Interesse am Format der VP als Bestandteil eines Methodenkanons zur Vermittlung klinischer Entscheidungskompetenzen wider, welches sicherlich im Zuge der besonderen Anforderungen an die Lehre im Rahmen der Corona-Pandemie noch gesteigert wurde. In Anbetracht der geringen Aufwandsentschädigung für die beteiligten Standorte ist neben der Fakultäts- und Fächersichtbarkeit auch von einer gewissen intrinsischen Motivation der Beteiligten auszugehen. Dies zeigt aus unserer Sicht, dass die erwarteten ressourcensparenden Synergieeffekte einer fakultätsübergreifenden Planung und Nutzung von VP von vielen Fakultäten angenommen wurden. Auch die steigenden Nutzungszahlen implizieren, dass die bei der Beantragung des DigiPaL-Projektes antizipierte Wichtigkeit der VP (vor allem während der dezentralen Lehrsituation) korrekt eingeschätzt wurde.

Da nun alle im Rahmen des Projektes definierten Aspekte der im NKLM aufgeführten Erkrankungen durch VP abgedeckt sind, steht den Fakultäten bereits jetzt ein flächendeckend einsetzbarer VP-Pool als methodische Ergänzung zu den etablierten patientenbezogenen Lehrformaten (z.B. im Rahmen des Blended Learnings) zur Verfügung. Dieser kann auch nach der Rückkehr zum Präsenzunterricht gezielt zum Erlernen klinischer Entscheidungsfindung genutzt und mit Hilfe der erarbeiteten Kriterien problemlos an jede neue Version des NKLM angepasst werden.

Im Rahmen des DigiPaL-Projektes wurde damit der Grundstock für einen deutlichen Ausbau der digitalen Lehre im Rahmen der neuen ÄApprO auf Basis des NKLM gelegt.


Beteiligung der Autoren

Jacqueline Jennebach und Olaf Ahlers haben zu gleichen Teilen beigetragen.


Danksagung

Die Autor*innen möchten – auch im Namen der Studierenden und Dozierenden an den medizinischen Fakultäten – allen Kolleg*innen danken, die durch ihr Engagement dieses umfangreiche Projekt ermöglicht haben.


Förderung

DigiPaL wurde aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages durch das BMG unter dem Förderkennzeichen 2520COR200 unterstützt.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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