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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Plädoyer für mehr evidenzbasierten Unterricht am Patienten

Leitartikel Leitartikel

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  • corresponding author Thomas Rotthoff - Universität Augsburg, Medizinische Fakultät, Medizindidaktik und Ausbildungsforschung, DEMEDA, Augsburg, Deutschland

GMS J Med Educ 2022;39(3):Doc38

doi: 10.3205/zma001559, urn:nbn:de:0183-zma0015590

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2022-39/zma001559.shtml

Eingereicht: 10. März 2022
Überarbeitet: 7. Juni 2022
Angenommen: 7. Juni 2022
Veröffentlicht: 15. Juli 2022

© 2022 Rotthoff.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Leitartikel

Fragt man Ärztinnen und Ärzte in Deutschland nach der Bedeutung des Unterrichts am Patienten erhält man einhellig die Antwort, dass dieser wesentlich für die Medizinische Ausbildung sei. International zeigt sich ein vergleichbares Bild; so waren beispielsweise in einer Studie im Großraum New York 71% der befragten Ärzt*innen der Überzeugung, dass der Unterricht am Krankenbett Priorität haben müsse und 77% sprachen sich für mehr Nachdruck bei der Umsetzung dieses Lehrformates aus [1]. Diese hervorgehobene Bedeutung ist wohl auch dem ärztlichen Selbstverständnis zuzuschreiben, das die Patient*innen in den Mittelpunkt des ärztlichen Handelns und damit auch in den Mittelpunkt des Lehrens und Lernens stellt. Um so erstaunlicher ist es, dass die verfügbare wissenschaftliche Evidenz für dieses Lehrformat sehr überschaubar ist und prospektive, randomisierte Studien zum Unterricht am Krankenbett in der Literatur des letzten Jahrzehnts kaum vorhanden sind [2], [3], [4]. Trotz seiner herausgestellten Bedeutung scheint der Unterricht am Patienten in den letzten Jahren zunehmend unter Druck geraten zu sein und Gefahr laufen vernachlässigt zu werden [5]. Dieses legen auch neuere Veröffentlichungen mit Titeln wie

„Anamnese und körperliche Untersuchung sind auch heute noch unverzichtbar“ [6],
„The road back to the bedside“ [7]

oder auch Videos auf YouTube nahe, in denen Studierende auf ironische Weise ihr „Nicht-Erleben“ von Unterricht am Patienten im Verlauf ihres Studiums verarbeiten [https://youtu.be/heJ5pCMqKoE]. Als Gründe für die Abnahme des Unterrichts am Patienten werden u.a. eine gesteigerte Arbeitsdichte von Ärzt*innen, die Zunahme von bildgebenden Verfahren und Labortests oder die Technisierung und Digitalisierung mit stärkerer Hinwendung zum elektronischen Abbild der Patient*innen genannt [8]. Verghese prägte hierfür anschaulich den Begriff des „iPatient“:

„iPatients werden im Arztzimmer besprochen, während die echten Patienten die Betten warm halten und dafür sorgen, dass die Einträge mit ihren Namen auf dem Computer lebendig bleiben.“ [8]

Aus den Veränderungen des ärztlichen Alltags resultieren geringere Kontaktzeiten zwischen Ärzt*innen und ihren Patient*innen [9], weniger körperliche Untersuchungen und letztlich auch eine Abnahme klinisch praktischer Fähigkeiten junger Ärzt*innen [10]. Das wiederum kann zu einer Zunahme von Fehlern und Fehldiagnosen führen [11]. Heutige Verweise auf das Sir William Osler (1849-1919) zugeschriebene Zitat:

„Medicine is learned by the bedside and not in the classroom“ [12],

wirken vor diesem Hintergrund wie ein Appell, um Anspruch und Wirklichkeit (wieder) in Einklang zu bringen.

Weitere Begleiterscheinungen sind möglicherweise auch geringe medizindidaktische Trainingsangebote für dieses Lehrformat. Eine Anfang 2022 eigens durchgeführte Web-Recherche zu den medizindidaktischen Angeboten der deutschen medizinischen Fakultäten ergab, dass nur ca. 30% der Fakultäten explizite Trainings für die Lehre am Patienten bzw. im klinischen Umfeld auf ihren Webseiten präsentieren. Möglicherweise wird der Unterricht am Patienten im Vergleich zu Formaten wie Vorlesung, Seminar, Tutorium oder auch Online-Kursen als weniger didaktisch eigenständiges, forderndes und erlernbares Lehrformat angesehen. Ärzt*innen fungieren hier in der Rolle als medizinische Expert*innen, die ihre ärztliche Praxis einfach „nur“ im Beisein von Studierenden ausüben. Didaktische Schwächen von Lehrenden bei der Durchführung des Formates wie z.B

  • die Konzentration auf Fakten und weniger auf die Entwicklung von Problemlösungsfähigkeiten und Einstellungen,
  • eine zu hohe Komplexität und zu geringe Dekonstruktion des Patientenfalles,
  • mehr passive Beobachtung statt aktiver Beteiligung der Lernenden und
  • unzureichende Gelegenheit der Reflexion, Diskussion und Feedback,

sind hinlänglich beschrieben [13].

Die didaktische Besonderheit des Lehrformates liegt in seiner kooperativen Durchführung und Triangulation von den drei Personengruppen Arzt/Ärztin- Patient*in -Studierende. Der Unterricht am Patienten bietet dabei wie kein anderes Unterrichtsformat die Möglichkeit, verschiedene ärztliche Kompetenzrollen miteinander zu verknüpfen. Es ist das einzige Format in der medizinischen Ausbildung, in dem im realen klinischen Umfeld die Fähigkeit der Anamneseerhebung und Arzt-Patient-Kommunikation, der körperlichen Untersuchung, des klinischen Denkens, der Entscheidungsfindung, des Einfühlungsvermögens und der Professionalität als integriertes Ganzes gleichzeitig gelehrt und erlernt werden können [13], [14]. Die ärztliche Diagnose und der Therapieverlauf haben den Einzelfall (individuelle Patient*innen) vor Augen, bei dem eine Vielzahl von Bedingungen betrachtet werden [15]. Besonders die Vermittlung zwischenmenschlicher Aspekte erfolgt in der Medizin primär über vorgelebte Rollenmodelle [16] mit ihren jeweiligen Einstellungen und Verhaltensweisen [17]. Alle Beteiligten sind hier gleichermaßen aktive Teilnehmende und die Patient*innen mehr als „Demonstrator*innen“ eines Befundes oder einer Diagnose, da Patient*innen immer auch zu ihren Beschwerden selbst Stellung nehmen und diese bewerten [15]. Der Unterricht am Patienten in Kleingruppen ist ein anspruchsvolles Lehrformat, das neben den zuvor genannten Kompetenzen in ganz besonderer Weise auch die wissenschaftlich kritische Auseinandersetzung mit klinischen Problemen erfordert. In Analogie zu anderen Lehr- und Lernprozessen darf postuliert werden, dass auch für den Unterricht am Patienten die Berücksichtigung lerntheoretischer Hintergründe [18], metakognitiver Impulse, wissenschaftlich kritischer Auseinandersetzung, aktivierender Methoden sowie ein systematisches und (auch handwerklich) gutes Briefing und Debriefing das Lernen und den Wissenstransfer verstärken und damit den klinisch-praktischen Unterricht verbessern können. Das Format ist personell ressourcenaufwendig und in der Approbationsordnung für Ärzt*innen fest verankert. Aus didaktischer Perspektive scheint es daher lohnend und geboten, den Unterricht am Patienten mit Schaffung neuer wissenschaftlicher Evidenz stärker als bisher in den Fokus der Lehr- und Lernforschung und medizindidaktischer Angebote zu rücken.

In der vorliegenden Ausgabe des GMS Journal for Medical Education berichten van der Keylen et al. über den verstärkten Einsatz digitaler Lehr-und Lernformate während der COVID-19-Pandemie und einer guten Akzeptanz seitens der Studierenden [19]. Andere Artikel in dieser Ausgabe unterstreichen jedoch auch die Relevanz der Lehre am Krankenbett, über die Praktiken wie Anamneseerhebung, klinisches Denken und Einfühlungsvermögen vermittelt werden können. Insbesondere Rahmann et al. heben die Bedeutung der Entwicklung von Empathie über Rollenmodelle beim arbeitsplatzbasierten Lernen hervor [20]. Auch Lange et al. weisen auf die hohe Akzeptanz eines Online-Kurses zum Erlernen einer systematischen Anamnese durch die Studierenden hin [21], wobei die Studierenden hierfür Blended-Learning als noch effizienter halten. Flugelman et al. schlagen eine neue Methode des aktiven Lernens in Kleingruppen zum Thema Clinical Reasoning vor, die als Vorbereitung oder Ergänzung für den Unterricht am Krankenbett hilfreich sein könnte [22]. Gegenwärtig verändert sich die medizinische Arbeitswelt und der Anteil der Frauen in der Medizin nimmt zu, was unweigerlich auch mit einer sich verändernden Lehre und der Orientierung an weiblichem Verhalten als Rollenmodell einhergeht. Meyer-Frießem et al. und Hege et al. stellen fest, dass führende Positionen in fast allen medizinischen Abteilungen sowie in der medizinischen Ausbildung immer noch deutlich seltener von Klinikerinnen als von ihren männlichen Kollegen besetzt werden [23], [24]. Sie schlagen vor, Mentoring- und Vernetzungsprogramme einzuführen und Frauen stärker zu berücksichtigen, um ihnen Positionen in den Leitungsgremien zu sichern. Schließlich machen Ulrich et al. aufgrund der zunehmenden Bedeutung der interprofessionellen Zusammenarbeit am medizinischen Arbeitsplatz Vorschläge für die Bezeichnung von Lehrkräften im Bereich der interprofessionellen Ausbildung [25]. Vor diesen Hintergründen muss der Unterricht am Krankenbett verfeinert und weiterentwickelt werden, darf aber keinesfalls ins Hintertreffen geraten. Die laufenden Veränderungen am Arbeitsplatz, wie z.B. der steigende Anteil von Ärztinnen und die intensivere interprofessionelle Zusammenarbeit, beeinflussen letztlich auch den Unterricht am Krankenbett mit Auswirkungen auf die berufliche Identitätsbildung und die Entwicklung der individuellen Berufsrollen.


Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass er keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


Literatur

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