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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Julia Genz, Paul Gévaudan, Hrsg.: Polyphonie in literarischen, medizinischen und pflegewissenschaftlichen Textsorten

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  • corresponding author Leyla Güzelsoy - Klinikum Nürnberg, Klinik für Psychosomatische Medizin und Pyschotherapie, Psychosomatischer Konsiliar- und Liaisondienst & IKP, Nürnberg, Deutschland; Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Nürnberg, Deutschland

GMS J Med Educ 2022;39(1):Doc2

doi: 10.3205/zma001523, urn:nbn:de:0183-zma0015235

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2022-39/zma001523.shtml

Eingereicht: 28. Juli 2021
Überarbeitet: 17. Januar 2022
Angenommen: 17. Januar 2022
Veröffentlicht: 15. Februar 2022

© 2022 Güzelsoy.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Bibliographische Angaben

Julia Genz, Paul Gévaudan, Hrsg.

Polyphonie in literarischen, medizinischen und pflegewissenschaftlichen Textsorten

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage

Erscheinungsjahr: 2021, 243 Seiten, Preis: € 40,00

ISBN: 978-3-8471-0990-7


Rezension

Für eine patient*innenzentrierte Medizin sind Sprache und Kommunikation im Gesundheitswesen bedeutsame Faktoren, die zunehmend in den Fokus der Forschung und medizinischen Ausbildung rücken. Die Konzeption des Sammelbandes „Sprachliche Polyphonie in literarischen, medizinischen und pflegewissenschaftlichen Textsorten“ ging aus einer interdisziplinären Tagung zu Polyphonie aus dem Jahre 2018 an der Universität Witten/Herdecke hervor. Das Treffen sollte Gelegenheit bieten, die Anwendung verschiedener Konzepte sprachlicher, musikalischer und literarischer Polyphonie (Vielstimmigkeit) sowie ihre Rolle und Integration in verschiedenen Textsorten, speziell die des Gesundheitswesens und der medizinischen Ausbildung, zu untersuchen. Hierzu zählen Ärzt*innen-, Patient*innenbriefe und -gespräche sowie Pflegedokumentationen. Sprachliche Polyphonie stellt ein weit verbreitetes aber, auch wenig wahrgenommenes Phänomen dar. Polyphonie, die nicht als solche reflektiert wird, kann oft zu Missverständnissen führen; und dass dies nach wie vor ein Spannungsfeld darstellt, wird bei der Lektüre des Bandes ersichtlich. Der bedachte Einsatz polyphoner Techniken kann hingegen zu einer bedeutsamen Verbesserung der Kommunikation, nicht nur im Gesundheitswesen, führen.

Im Vorfeld erfolgt eine kurze, hilfreiche Einleitung der Herausgeber*in, wodurch ein guter Überblick über die in fünf Abschnitte gegliederten Beiträge geboten wird. Der Sammelband schließt mit einer Beschreibung der einzelnen Autor*innen.

Im ersten Kapitel, „Theoretische Positionen“, werden in zwei sprachwissenschaftlichen Beiträgen Grundlagen zur Theorie der Polyphonie dargelegt. Aktuelle theoretische Positionen und Erläuterungen zu Bachtins 1929 publiziertem Begriff der narrativen Polyphonie, welche Oswald Ducrot später auf argumentative Diskurse übertrug, zeigen die Relevanz der Thematik. Anschließend werden Grundbegriffe der sprachlichen Polyphonie unter drei Gesichtspunkten genau analysiert und diese in eine verständliche deutsche Terminologie transferiert.

Der zweite Abschnitt, „Literarische Polyphonie“, beschäftigt sich in drei Beiträgen, sowohl aus musik- als auch literaturwissenschaftlicher Sicht mit Bachtins Begriff der Polyphonie. Hierbei erfolgt ein kurzer historischer Überblick auf die fünf Epochen musikalischer Polyphonie und die unterschiedlichen Erscheinungen dieser. Anhand literarischer Beispiele wird das Konzept der „Theorie der Textinterferenz“ und die des „unzuverlässigen Erzählers“ einander gegenübergestellt und aufgezeigt, wie diese sich zu ergänzen vermögen. Im letzten Beitrag werden anhand von Romantexten linguistische Dekodierungsprozesse des Lesens aufgezeigt, ein inhaltlich herausfordernder, dennoch spannender Beitrag.

Nach den beiden ersten Abschnitten, die den Fokus auf literaturwissenschaftliche Grundlagen legen, lenkt Kapitel drei, „Schnittstelle zwischen Literatur und Medizin“, in zwei sehr interessanten Beiträgen den Fokus zur Medizin. Julia Genz zeigt anhand zweier Mediziner, Sigmund Freud und Alfred Döblin, die daneben auch sehr „literaturaffin“ waren und Polyphonie ähnlich verwandten, wie sie dabei dennoch unterschiedliche Resultate erzielten. D. Teufel und P. O. Berberat setzen sich mit der Frage auseinander inwiefern die Reflexion zur Polyphonie ins Medizinstudium integriert und wie diese spielerisch eingeübt werden könnte.

Der vierte Abschnitt, „Polyphonie in Arzt-Patienten-Gesprächen“, enthält vier Beiträge, die sich konkret an der klinischen Praxis und dem dortigen Einsatz der Polyphonie orientieren. Begonnen bei der Behandlung onkologischer Patient*innen, über jugendliche Anfallspatient*innen und des Ärzt*innen-Patient*innen-Verhältnisses im Allgemeinen, bis hin zur Kommunikation mit Tieren und ihren Besitzer*innen in der Veterinärmedizin. Dieser letzte Beitrag des Autor*innen-Paares Ehlers sei hier hervorzuheben, da es für Humanmediziner*innen einen besonderen Einblick in die Kommunikation unter und mit Tieren gibt, der spannend und anschaulich ausgeführt wird.

Kapitel fünf, „Textsorten und Diskurse im Gesundheitsbereich“, mit drei Beiträgen zum Einfluss der Polyphonie in Patient*innenbriefen, innerhalb des Diskurses zur Depression sowie der Pflegedokumentation, spannt einen weiteren Bogen in die Praxis und rundet den Sammelband sehr gut ab.

In dem vorliegenden Buch ist es den Herausgeber*innen gelungen, durch umsichtige Auswahl der Themen und Autor*innen, eine Synthese zwischen Literaturwissenschaft, Linguistik, Musikwissenschaft und dem Gesundheitswesen zu schaffen. Der Aufbau des Bandes ermöglicht, auf fundiert theoretischen Wissen einen Transfer zum klinischen Alltag zu spannen, und somit den Einsatz der Polyphonie zu präsentieren, die auch unbedarften Leser*innen durch die facettenreiche und anschauliche Vermittlung von Hintergrundinformationen Handlungshilfen für den klinischen Alltag bietet. Nicht zuletzt auch in Anbetracht des moderaten Preises, kann dieses Buch den an dieser Thematik interessierten Leser*innen empfohlen werden.


Interessenkonflikt

Die Autorin erklärt, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel hat.