gms | German Medical Science

GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Perspektive deutscher Medizinfakultäten auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens und ihre Auswirkungen auf die Lehre

Artikel Digitalisierung

  • author Maximilian Neumann - Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Witten, Deutschland
  • author Leonard Fehring - Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Witten, Deutschland
  • author Kristian Kinscher - Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Witten, Deutschland
  • author Hubert Truebel - Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Witten, Deutschland
  • author Florian Dahlhausen - Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Witten, Deutschland
  • author Jan P. Ehlers - Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Witten, Deutschland
  • author Thomas Mondritzki - Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Witten, Deutschland; Bayer Pharma AG, Cardiovascular Research, Wuppertal, Deutschland
  • corresponding author Philip Boehme - Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Witten, Deutschland

GMS J Med Educ 2021;38(7):Doc124

doi: 10.3205/zma001520, urn:nbn:de:0183-zma0015202

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2021-38/zma001520.shtml

Eingereicht: 9. Dezember 2020
Überarbeitet: 31. Mai 2021
Angenommen: 16. Juli 2021
Veröffentlicht: 15. November 2021

© 2021 Neumann et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Das Gesundheitswesen in Deutschland befindet sich im Prozess der Digitalisierung. Für Universitäten stellt sich daher die Frage, wie sie ihre Medizinstudierenden auf einen digitalisierten Gesundheitssektor vorbereiten sollten. Der aktuelle Forschungsstand weist hierzu bisher keine systematische Erfassung der Aktivitäten deutscher Medizinfakultäten auf.

Zielsetzung: Ziel dieser Studie war es systematisch zu erfassen, wie deutsche Medizinfakultäten den Einfluss und Fortschritt der Digitalisierung beurteilen und inwieweit die Vorbereitung der Studierenden auf ein „digitaleres“ Gesundheitssystem bereits heute in den Curricula berücksichtigt wird.

Methodik: Ein strukturierter Fragebogen wurde entwickelt. Drei Themen waren dabei im Fokus: Die Sicht der Fakultäten auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens insgesamt, deren Maßnahmen zur Vorbereitung der Studierenden auf den digitalen Wandel im Lehrplan und die übergreifenden, organisatorischen Rahmenbedingungen. Die Daten wurden mit Hilfe des Fragebogens in kurzen Telefoninterviews mit den für den Lehrplan Verantwortlichen verschiedener medizinischer Fakultäten erhoben. Die erhobenen Datensätze wurden anonymisiert und systematisch statistisch ausgewertet.

Ergebnisse: Es wurden 30 Interviews geführt. Die Fakultätsvertreter stimmten mehrheitlich zu, dass Digitalisierung die Rolle von Ärztinnen und Ärzten verändern wird (87% Zustimmung). Individuelle Digitalisierungstrends wurden als unwahrscheinlicher eingeschätzt, z. B. ob Fachwissen durch digitale Assistenzsysteme unwichtiger wird (20% Zustimmung), ärztliche Stellen durch Roboter und Algorithmen ersetzt werden (7% Zustimmung) oder Hierarchien in Krankenhäusern flacher werden (13% Zustimmung). Digitalisierungsinhalten wurde eine wesentliche Bedeutung für das Medizinstudium beigemessen (93% Zustimmung). Diese sollten einen höheren Stellenwert im Curriculum erhalten (87% Zustimmung). Zwei Drittel der Fakultätsvertreter waren der Meinung, dass übergreifende Institutionen wie Ärztekammern und Politik konkretere Pläne zur Umsetzung der digitalen Transformation benötigen und eine schnellere Implementierung von Innovationen in der Praxis notwendig sei.

Schlussfolgerung: Während die Mehrheit der Fakultätsvertreter der Digitalisierung des Gesundheitssystems eine hohe Bedeutung für die universitäre Ausbildung beimisst, zeigen verschiedene Fragen nach strukturellen Lehrmaßnahmen zur Vorbereitung der Studierenden auf den digitalen Wandel, dass es keine einheitliche Ausbildung von Medizinstudierenden für ein digitalisiertes Gesundheitssystem gibt. Außerdem konnten wir zeigen, dass die Mehrheit der Fakultätsvertreter mit den regulatorischen und organisatorischen Rahmenbedingungen für die Digitalisierung im medizinischen Sektor unzufrieden ist.

Schlüsselwörter: Medizinische Ausbildung, deutsche medizinische Fakultäten, Digitalisierung, Fortbildung


1. Einleitung

Der Digitalisierung wird häufig eine enorme transformative Kraft zugeschrieben. Durch die Transformation analoger Informationen in ein digitales Format und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Auswirkungen hat sie in den vergangenen Jahren in praktisch allen Wirtschaftssektoren zu weitreichenden Veränderungen geführt [1], [2]. Im Gesundheitssektor schreitet dieser Prozess – hier verstanden als die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien zur Unterstützung in der klinischen Praxis – langsamer voran als in fast allen anderen Wirtschaftsbereichen. Zwischen 1991 und 2013 lag der Grad der Digitalisierung im Sozial- und Gesundheitswesen nur bei einem Prozent verglichen mit 25-30% in anderen Branchen [3].

In Deutschland gestaltet sich der Digitalisierungsfortschritt besonders langsam. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung untersuchte 2018 den Grad der Digitalisierung im Gesundheitswesen in insgesamt 17 Ländern. Während Estland mit einem Digital-Health-Index von über 80 von 100 die Rangliste anführt, rangiert Deutschland mit 30 Punkten auf dem vorletzten Platz [4].

Die Gründe hierfür sind vielfältig: Das deutsche Gesundheitswesen ist stark fragmentiert. Sowohl auf Prozess- als auch auf Finanzierungsebene ist eine Vielzahl von Interessengruppen involviert, was die Entscheidungsfindung erschwert [3]. Darüber hinaus werden Datenschutzvorschriften in Deutschland strenger ausgelegt als in anderen Ländern [3], [5]. Außerdem hat sich herausgestellt, dass es den berufsständischen Körperschaften (Kammern) und der Ärzteschaft in Deutschland an der Bereitschaft und den erforderlichen Organisationsstrukturen fehlt, um die Digitalisierung voranzubringen [6]. Dies wird häufig auf fehlende Evidenzdaten und unzureichende Kooperationsstrukturen zurückgeführt, während finanzielle Anreize eine geringere Rolle zu spielen scheinen [7], [8].

In einem kürzlich erschienenen Artikel untersuchten Kuhn und Mitarbeiter diese Problematik im Hinblick auf den digitalen Wandel in der ärztlichen Praxis eingehender. Sie kamen zu dem Schluss, dass eine unzureichende Ausbildung in digitalen Kompetenzen ein zentrales Problem darstellt, das bereits auf Lehrplanebene entsteht. Weder der 2015 verabschiedete deutsche Nationale Kompetenzbasierte Lernzielkatalog, noch der Masterplan Medizinstudium 2020 weisen ausreichende Planungen auf, um die Studierenden auf die ärztliche Tätigkeit im digitalen Zeitalter vorzubereiten [9].

Dies ist hoch problematisch. Zunächst einmal ist die Digitalisierung in einigen Bereichen des Gesundheitswesens bereits weiter fortgeschritten, von der Einführung der digitalen Patientenakte bis hin zu kognitiven Computersystemen für die ärztliche Entscheidungsfindung. Zweitens hat der digitale Wandel im Gesundheitssektor in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen [7], [10]. Diese Entwicklung hat sich durch die aktuelle Corona-Pandemie weiter beschleunigt, wie etwa die zunehmende Bedeutung und zügige Einführung von Telemedizin-Lösungen unterstreichen [11].

Dies führt uns zu der Frage, wie gut zukünftige Ärzte und Ärztinnen und andere Fachkräfte im Gesundheitswesen im Rahmen ihres Medizinstudiums auf den digitalen Wandel vorbereitet werden. Im Hinblick auf diese Fragestellung bestand das Ziel dieser Forschungsarbeit darin zu untersuchen, wie deutsche Medizinfakultäten die Digitalisierung wahrnehmen und wie gut sie ihre Studierenden auf ein digitales Gesundheitssystem und die damit verbundenen möglichen Herausforderungen vorbereiten.


2. Methoden

2.1. Studiendesign

Auf der Basis einer Literaturrecherche und exploratorischer Probeinterviews wurde ein vorläufiger strukturierter Fragebogen entwickelt. Diese erste Fassung des Fragebogens wurde von einem interdisziplinären Expertenpanel überarbeitet. Drei Themen standen dabei im Fokus:

  • Die Sicht der Medizinfakultäten auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens insgesamt,
  • die Aufnahme von Maßnahmen zur Vorbereitung der Studierenden auf den digitalen Wandel in den universitären Lehrplan
  • sowie die Untersuchung der Frage, wie die Medizinfakultäten die organisatorischen Rahmenbedingungen beurteilen.

Der vorläufige Fragebogen wurde zunächst 5 randomisierten Probanden (deren Antworten bei der späteren Ergebnisanalyse nicht berücksichtigt wurden) vorgelegt sowie anschließend durch das Expertenpanel geprüft und überarbeitet. Die Befragten wurden gebeten anzugeben, inwieweit sie 17 Aussagen zustimmen. Hierzu verwendeten wir eine numerische, analoge Likert-Skala von 0 (geringste Zustimmung) bis 10 (höchste Zustimmung). Studien weisen darauf hin, dass die Antwortausfallquote bei dieser Skala niedriger liegt, als bei vergleichbaren Skalen [12]. Neben den 17 Fragen unter Verwendung der Likert-Skala und drei Ja/Nein-Fragen stellten wir auch eine offene Frage zu den Plänen der Fakultäten im Hinblick auf die Vorbereitung ihrer Studierenden auf den digitalen Wandel.

2.2. Rekrutierung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer

Wir nahmen Kontakt mit den Sekretariaten aller 42 Medizinfakultäten Deutschlands auf. Um den repräsentativen Charakter unserer Daten zu gewährleisten, baten wir in allen Fällen um einen Gesprächstermin mit dem Dekan/der Dekanin oder dem/der leitenden akademischen Verwaltungsangestellten, der/die für die Entwicklung des medizinischen Curriculums verantwortlich ist. Es wurden keine weiteren Ausschlusskriterien oder Screening-Fragebögen verwendet. Während des Gesprächs wurden alle Befragten über die Einzelheiten der Studie, u. a. auch die Dauer der Befragung und das Datenspeicherungskonzept, informiert. Bei der anfänglichen Gesprächsanfrage per E-Mail wurde der Fragebogen zur Vorabdurchsicht angehängt.

2.3. Datenerhebung und -auswertung

Bei dem Gespräch wurde der Fragebogen von der befragenden Person ausgefüllt und anschließend von dem/der Befragten bestätigt. Daraufhin wurden sämtliche Datensätze anonymisiert. Das Expertenpanel schloss eine Frage zu digitalen Unterrichtsmethoden aufgrund einer möglichen Fehlinterpretation, die nach Durchführung mehrerer Interviews offensichtlich wurde, nach der Auswertung aus. Die Auswertung der Daten erfolgte mit Hilfe der deskriptiven Statistik in Microsoft Excel (Version 16.38). Antwortwerte über 5 (auf einer 10-Punkte-Likert-Skala) wurden als Zustimmung zur gestellten Frage gewertet.


3. Ergebnisse

Insgesamt wurden 30 Personen von 28 staatlichen und 2 privaten Hochschulen befragt. Bei den von uns befragten Fakultätsvertreter/-innen handelte es sich zu 73% um Männer und zu 27% um Frauen.

3.1. Allgemeine Ansichten in Bezug auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens

Die Mehrzahl der Befragten (87%) waren überzeugt davon, dass die Digitalisierung die Rolle von Ärztinnen und Ärzten in den nächsten 10 Jahren verändern wird (medianer Zustimmungswert 9). Lediglich 20 % der Befragten gingen davon aus, dass das medizinische Fachwissen für die Ärzteschaft in Zukunft an Bedeutung verliert (Median 2). Ebenso war nur eine Minderheit der Befragten (7%) der Ansicht, dass digitale Technologien – insbesondere Künstliche Intelligenz und Robotertechnik – Ärzte und Ärztinnen ersetzen werden (Median 2).

Stattdessen waren nahezu alle Befragten (97%) überzeugt, dass der persönliche Kontakt zwischen Arzt/Ärztin und Patient bzw. Patientin seinen zentralen Stellenwert behalten werde (Median 10). Eine solche Sichtweise, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, wird ebenfalls durch den Umstand unterstrichen, dass es Ärzten und Ärztinnen nach Meinung von mehr als zwei Dritteln der Befragten (71%) schwerfällt, Kernkompetenzen an digitale Assistenzsysteme zu übertragen (Median 7).

Während die Befragten unentschieden waren, ob es durch die Digitalisierung aufgrund eines verbesserten interdisziplinären Austauschs zu weniger Behandlungsfehlern kommt (Median 5), stimmten 57% zu, dass sich die Digitalisierung positiv auf die Patientenversorgung auswirkt (Median 6). Flachere Hierarchien in Krankenhäusern aufgrund der Digitalisierung wurden nicht erwartet (Median 2). Lediglich 30% der Befragten gingen davon aus, dass der Arztberuf durch die Digitalisierung an Attraktivität gewinnt (Median 5). Die Ergebnisse sind in Abbildung 1 [Abb. 1] dargestellt.

3.2. Aufnahme von Digitalisierungsinhalten in den universitären Lehrplan

Digitalisierungsinhalte werden von 93% der Befragten als wesentliches Element der Ausbildung von Medizinstudierenden betrachtet (Median 8). Insgesamt 87% der Befragten vertraten die Auffassung, dass Digitalisierungsinhalten ein noch höherer Stellenwert im Curriculum zukommen sollte (Median 8).

Das Ausmaß, in dem die verschiedenen Fakultäten Digitalisierungsinhalte in ihre Lehrpläne integriert haben, differiert. Gut zwei Drittel (72%) der Fakultätsvertreter*innen waren der Meinung, dass der direkte Patientenkontakt im Lichte der Digitalisierung an Bedeutung gewänne, weshalb auf diesen Aspekt im Lehrplan besonderes Augenmerk gelegt werden sollte (Median 7). Hingegen waren nur 15% der Fakultätsvertreter*innen überzeugt, dass die Studierenden ausreichend in digitalen Patientenkontakten ausgebildet werden (Median 3). Lediglich 27% der Befragten vertraten die Ansicht, dass Professoren und Professorinnen über die einschlägigen Kompetenzen verfügen, um ihren Studierenden die notwendigen Fertigkeiten im Umgang mit digitalen Systemen zu vermitteln (Median 4). Die Ergebnisse sind in Abbildung 2 [Abb. 2] dargestellt.

Die Mehrheit der Fakultätsvertreter/-innen (73%) beschäftigt Dozentinnen und Dozenten aus den Bereichen Technik/Technologie oder Informatik für die Vermittlung digitaler Kompetenzen. Jede zweite Fakultät (54%) bietet spezielle Kurse auf dem Gebiet der Digitalbildung an. An 30% der Fakultäten werden derartige Spezialkurse zur Vermittlung digitaler Kompetenzen auch von Studierenden anderer Fachbereiche besucht. Die Ergebnisse sind in Abbildung 3 [Abb. 3] dargestellt.

Im Hinblick auf die jeweiligen Fakultätspläne zur Vorbereitung der Studierenden auf den digitalen Wandel ergab unsere offene Frage, dass lediglich eine sehr kleine Minderheit der Fakultäten (10%) noch keine konkreten Pläne zu diesem Zweck entwickelt hat. Andere Fakultäten haben bereits entsprechende Lehrangebote eingeführt oder die Aufnahme solcher Unterrichtsangebote geplant, etwa Wahlkurse zu Big Data, e-Health und Telemedizin mit einem multidisziplinären Team von Lehrkräften. Mit diesen Angeboten sollen den Studierenden ethische, psychologische und ökonomische Aspekte des digitalen Wandels vermittelt werden. Laut den Angaben von Fakultätsvertreter/inne/n wurden bereits mehrere Professuren für medizinische Informatik oder Datenkompetenz eingerichtet oder sind für die nahe Zukunft geplant.

3.3. Organisatorische Rahmenbedingungen

Neben den Fragen in Bezug auf den digitalen Wandel im Gesundheitswesens und in der Ausbildung von Medizinstudierenden enthielt der Fragebogen auch zwei Fragen zu den regulatorischen Rahmenbedingungen für die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Hier zeigte sich die Mehrheit der Fakultätsvertreter*innen mit den von uns abgefragten Rahmenbedingungen unzufrieden. Mit einem Medianwert von 8 vertraten die Fakultätsvertreter*innen mehrheitlich die Ansicht, dass es zu wenige konkrete Rahmenpläne für die Vorbereitung auf den digitalen Wandel gebe. Darüber hinaus waren sie der Überzeugung, dass zu viel Zeit von einer Innovation bis zu ihrer Umsetzung in der Praxis liege (Median 7). Die Ergebnisse sind in Abbildung 4 [Abb. 4] dargestellt.


4. Diskussion

Ziel der vorliegenden Studie war es systematisch zu erfassen, wie deutsche Medizinfakultäten die Digitalisierung des Gesundheitswesen beurteilen und wie sie ihre Studierenden auf die Herausforderungen des digitalen Zeitalters, mit denen diese bei Aufnahme ihrer ärztlichen Tätigkeit im Gesundheitssektor konfrontiert sind, vorbereiten.

Unseren Ergebnissen zufolge geht der überwiegende Teil der Fakultäten davon aus, dass die Digitalisierung den Gesundheitssektor und die künftige Rolle des Arztes bzw. der Ärztin transformieren werde. Konkretere, individuelle Digitalisierungstrends, die zu solchen Transformationen führen, wurden hingegen eher als relativ unrealistisch eingestuft, beispielsweise der Ersatz ärztlicher Kernkompetenzen durch Künstliche Intelligenz oder Robotertechnik (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).

Diese Diskrepanz wird von einer Vielzahl der Publikation in der Literatur berichtet. Gesamtbedeutung und Nutzen der medizinischen Informatik werden meist allgemein anerkannt – ungeachtet teilweise nur grober Kenntnisse der Medizininformatik und der Digitalisierung selbst. Dies gilt als einer der Hauptgründe für den geringen Stellenwert, der diesen Themen bislang im medizinischen Curriculum beigemessen wurde [13], [14].

Betreffend die Maßnahmen der Fakultäten zur Vorbereitung ihrer Studierenden auf den digitalen Wandel präsentierte sich uns die Landschaft der medizinischen Curricula in einem sehr heterogenen Bild. An manchen Fakultäten sind Digitalisierungsinhalte bereits fester Bestandteil des Lehrplans, während andere Fakultäten ihre Studierenden kaum oder gar nicht auf den digitalen Wandel im Gesundheitswesen vorbereiten (siehe Abbildung 2 [Abb. 2] und Abbildung 3 [Abb. 3]). Ungeachtet dieser Anstrengungen sind jedoch umfassendere Lehrplanmaßnahmen erforderlich, um künftige Ärzte und Ärztinnen fit für die Digitalisierung zu machen.

Diese Erkenntnis deckt sich mit den Ergebnissen anderer Wissenschaftler/-innen, die derartige Maßnahmen ebenfalls fordern. So stellten etwa Kuhn et al. fest, dass in den aktuellen Lehrplänen medizinischer Fakultäten der Vermittlung von Kompetenzen zur Auswertung medizinischer Daten ein zu geringer Stellenwert beigemessen wird, obwohl diese zu den wichtigsten Fertigkeiten künftiger Ärzte und Ärztinnen gehören [15]. Es scheint sich hierbei um ein internationales Phänomen zu handeln. So zeigen McGowan et al., die in den USA eine ähnliche Erhebung wie wir durchführten, dass nur an wenigen medizinischen Hochschulen eine kompetente Evaluierung medizinischer Daten Unterrichtsgegenstand war [16]. Ein vergleichbares Bild zeichnen Edirippulige et al. für Medizinfakultäten in Australien [14]. Die Autoren befragten Personen aller 19 medizinischen Fakultäten Australiens und stellten übereinstimmend fest, dass – trotz der Bedeutung, die der Vorbereitung von Studierenden auf den digitalen Wandel beigemessen wird – andere Prioritäten und systematische Probleme wie zu „dichte“ Lehrpläne die Aufnahme von Digitalisierungsinhalten in die Curricula bislang verhindert haben.

Auch wenn derartige Probleme weltweit festgestellt werden, sollten die Lehrpläne doch auf nationaler Ebene konzipiert werden, um spezifische Bedingungen der jeweiligen Gesundheitssysteme vor Ort berücksichtigen zu können. Dies entspricht auch der Forderung von Haag et al. nach einer nationalen Initiative „Das Medizinstudium im Zeitalter der Digitalisierung” in Deutschland [17]. Der Medizinische Fakultätentag (MFT) und die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (BVMD) unternehmen seit einiger Zeit Anstrengungen, das Thema Digitalisierung in der Ärztlichen Approbationsordnung (ÄAPPO) zu verankern. Aufbauend auf derartigen Anstrengungen könnte eine konzertierte bundesweite Initiative einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung von Unterrichtsmaterialien und nationalen Leitlinien leisten und die Fakultäten darin unterstützen, Digitalisierungsinhalte in ihre jeweiligen Lehrpläne stärker zu integrieren. Eine solche Initiative könnte sich in einem fragmentierten Gesundheitssystem wie dem deutschen, in dem ansonsten die Vielzahl von Interessengruppen den digitalen Wandel ausbremsen könnte, als besonders fruchtbar erweisen. Darüber hinaus liegt die Vermutung nahe, dass Gesundheitssysteme mit zahlreichen Schnittstellen aufgrund eines hohen Fragmentierungsgrades besonders von der Digitalisierung profitieren werden.

4.1. Begrenzungen

Ein Grund für das Auseinanderklaffen zwischen dem generellen Glauben an die transformative Macht der Digitalisierung und der eher skeptischen Haltung im Hinblick auf spezifische, individuellen Digitalisierungstrends liegt u. U. darin, dass die Fakultätsvertreter*innen die Digitalisierung und die mit dieser einher gehenden Umwälzungen unterschiedlich definieren und dass allgemein gehaltene, unspezifische Fragen einen größeren Interpretationsspielraum lassen. Ein weitere Begrenzung unserer Daten besteht darin, dass die Datenerhebung über einen Zeitraum von insgesamt 12 Monaten erfolgte, da unsere Methodik einzelne Gesprächstermine mit den jeweiligen Fakultätsvertreter*innen erforderte. Daher könnten Vertreterinnen bzw. Vertreter von Fakultäten, die in der ersten Phase unserer Datenerhebung befragt wurden, zwischenzeitlich bereits Änderungen im Curriculum vorgenommen haben, die wir in unserer Studie nicht mehr berücksichtigen konnten.


5. Fazit

Unsere Ergebnisse belegen, dass die Medizinfakultäten zwar von der transformativen Wirkung des digitalen Wandels auf das Gesundheitswesen überzeugt sind, bei Fragen zu konkreteren Veränderungen aber eher skeptisch sind. Ferner zeigen unsere Ergebnisse, dass Medizinstudierende an deutschen Hochschulen in sehr unterschiedlichem Maße auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorbereitet werden. Die Mehrzahl der Fakultäten vermisst Rahmenvorgaben, um die Studierenden für den digitalen Wandel fit zu machen.

Aufgrund der Corona-Pandemie mit ihren ganz erheblichen Auswirkungen auf unser Verständnis von standortbezogener Arbeitstätigkeit sowie auf den Kontakt zwischen Arzt/Ärztin und Patient/-in und zwischen Arzt/Ärztin und Angehörigen wird die Digitalisierung im Rahmen der ärztlichen Ausbildung wahrscheinlich an Bedeutung gewinnen. Aus diesem Grunde ist es an den politisch Verantwortlichen und Medizinfakultäten, die Studierenden besser auf die künftigen Herausforderungen des digitalen Wandels vorzubereiten, beispielsweise durch die Entwicklung bundeseinheitlicher Leitlinien und Szenarien, die den Fakultäten als Grundlage für ihre jeweilige Lehrplanung dienen. Im Rahmen von Follow-up-Studien mit Gesundheitsdienstleistern und medizinischen Fakultäten nach dem Ende der Corona-Pandemie könnten diese Entwicklungen weiter untersucht werden.


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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