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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Anamnesegespräch neu aufgegriffen: Einfache Techniken zur Förderung der Arzt-Patienten-Kooperation, Verbesserung der Datenerhebung und Herstellung eines Vertrauensverhältnisses mit dem Patienten

Artikel Anamnese

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  • corresponding author Moshe Y. Flugelman - Lady Davis Carmel Medical Center, Department of Cardiovascular Medicine, Haifa, Israel; Technion, Israel Institute of Technology, Rappaport Faculty of Medicine, Haifa, Israel

GMS J Med Educ 2021;38(6):Doc109

doi: 10.3205/zma001505, urn:nbn:de:0183-zma0015057

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2021-38/zma001505.shtml

Eingereicht: 5. Juni 2020
Überarbeitet: 18. Januar 2021
Angenommen: 20. Mai 2021
Veröffentlicht: 15. September 2021

© 2021 Flugelman.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Die Bedeutung und der Stellenwert des Anamnesegesprächs sind durch bessere Bildgebungstechnologien, die webbasierte Medizin und die Nutzung künstlicher Intelligenz in den Hintergrund getreten. Das Anamnesegespräch verfolgt drei Ziele:

1.
Präzise medizinische Informationen über den Patienten und die Ätiologie der Symptome und Anzeichen erheben;
2.
Persönlichkeit, Kultur und Überzeugungen des Patienten kennenlernen und
3.
eine Vertrauensbasis mit dem Patienten schaffen und ausbauen.

Reduzierte Personalressourcen im Gesundheitssystem und größere Engstände in der Gesprächssituation, beispielsweise in der Notaufnahme und in ambulanten Kliniken, haben den Bedarf nach qualitativ hochwertigen und effizienten Gesprächen verstärkt, mit welchen sich die drei Ziele des Anamnesegesprächs erreichen lassen.

Dieses Manuskript stellt eine Struktur aus sechs methodischen Schritten vor, die zur Erhöhung der Qualität und Effizienz des Anamnesegesprächs beitragen, wobei ein besonderer Schwerpunkt darauf liegt, Informationen über das Leben des Patienten zu gewinnen und Vertrauen zu schaffen.

Schlüsselwörter: Anamnese, Vertrauen, Patientenzentriertheit, Einfühlungsvermögen


Einleitung

In die Kunst des Anamnesegesprächs eingeführt wurde ich durch das Buch „Interviewing the Patient“ von Engel und Morgan [1]. Die Umsetzung der im Buch beschriebenen Konzepte und Techniken hat mir über mehr als 40 Jahre in der Praxis gute Dienste geleistet. Darüber hinaus dient mir dieses Buch auch als Leitfaden, wenn ich im Hörsaal oder auch am Patientenbett das Anamnesegespräch lehre. Während die grundlegenden ethischen und methodischen Ansätze der medizinischen Praxis in den vergangenen Jahrzehnten keine wesentlichen Veränderungen erfahren haben, hat sich die Arzt-Patienten-Beziehung erheblich verändert. Es besteht eine geringere Distanz und Förmlichkeit zwischen Ärzten und Patienten und die Autorität des Arztes hat abgenommen. Zu diesen Veränderungen kam es durch die deutlich besseren verfügbaren Diagnostika und Therapeutika einerseits und die einfache Zugänglichkeit von Informationen und soziale Veränderungen andererseits, welche allesamt zu einer nunmehr gemeinsamen Entscheidungsfindung von Patienten und Ärzten über die zu ergreifenden diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen führten [2], [3].

Die Bedeutung der Anamnese mag bei den besseren technischen Diagnostika und Therapeutika scheinbar abgenommen haben, in der täglichen Praxis bestätigt sich jedoch, dass das Anamnesegespräch nach wie vor den wichtigsten Anteil an der Erfassung präziser medizinischer Daten, der Kenntnis des Patienten und der Vertrauensbildung hat. Vertrauen ist der Grundstein der Arzt-Patienten-Beziehung und erhöht die Effizienz der Arzt-Patienten-Begegnung. Vertrauen erleichtert Patienten auch das Durchleben der Erkrankung mit weniger Angst und Besorgnis [4], [5], [6], [7].

Die nachstehend beschriebenen Techniken können das strukturierte, umfassende Gespräch keinesfalls ersetzen, vielmehr stellen sie Hilfsmittel zur Verfügung, mit denen sich alle Ziele des Anamnesegesprächs erreichen lassen, wobei der Schwerpunkt auf dem Kennenlernen des Patienten und der Vertrauensbildung liegt. Den Patienten kennenzulernen und Vertrauen aufzubauen ist essenziell für die Erstellung einer präzisen Anamnese und Arbeitshypothese oder die Gewinnung der nötigen Informationen für eine Differenzialdiagnose der Anzeichen und Symptome des Patienten. Die Beispiele in diesem Manuskript und die vorgeschlagenen Methoden wurden während meiner Tätigkeit in Israel entwickelt. Sie spiegeln definitiv die kulturellen und sozialen Gegebenheiten der modernen israelischen Gesellschaft wider. Ich diskutiere fortwährend mit Kollegen und Studenten über Anamnesegespräche und sehe die Fähigkeit dazu als lebenslangen Lernprozess an. Gleichzeitig sind humanistische Werte und die Notwendigkeit, unsere Patienten zu kennen und Vertrauen aufzubauen allgemeingültig, weshalb die Grundsätze der vorgeschlagenen Methoden auf alle medizinischen Anamnesegespräche übertragbar sein dürften, wo auch immer sie stattfinden. Wie oben erwähnt, liegt der Schwerpunkt des vorliegenden Manuskripts darauf, die Persönlichkeit, Kultur und Überzeugungen des Patienten kennenzulernen und eine Vertrauensbasis mit dem Patienten zu schaffen und auszubauen, auf deren Grundlage eine präzise Erhebung der medizinischen Daten stattfinden kann.


Methoden der Anamnese

1. Die 4 Fragen

Verschiedene Merkmale definieren jeden Einzelnen von uns als Individuum. Aus philosophischer und humanistischer Sicht mag nahegelegt werden, Definitionen grundsätzlich zu vermeiden. Von einem pragmatischen Standpunkt aus jedoch unterscheiden wir uns als Individuen schon rein technisch von anderen durch unseren Namen, Wohnort, Familienstand und Beruf. Während weitere Merkmale wie Hobbys und persönliche Überzeugungen uns zusätzlich als Individuen definieren, sind die ersten vier genannten Punkte allgemeine Merkmale und in der Regel nicht mit Themen assoziiert, die unangenehm für den Patienten oder den Arzt sind. Nachdem diese vier Punkte mit den nachstehend erläuterten Techniken erfragt wurden, sollten wir bereits ein gutes Gespür für den Patienten und seine Lebensbedingungen entwickelt haben. Wichtig ist, dass wir selbst wenn wir uns irren, weil wir verallgemeinert und Einordnungen vorgenommen haben, unsere Schlüsse im Laufe des Anamnesegesprächs verändern können, wenn zusätzliche Informationen nicht mehr zu unserer anfänglichen Einschätzung des Patienten passen.

Nur wenn wir aufrichtiges Interesse am Patient haben, können wir seine Lebensbedingungen korrekt einschätzen. Stoßen wir auf einen relevanten oder interessanten Punkt (wie beispielsweise einen ungewöhnlichen Namen), sollten wir dazu weitere Fragen stellen, zum Beispiel nach dem Ursprung des Namens (siehe „Kettenreaktion“ unten). Reges Interesse an der Person des Patienten vermittelt diesem eine klare Botschaft: Ich mache mir Gedanken um ihn und möchte mehr von ihm erfahren. Die Zeit für diese vier Fragen hängt vom Verlauf des Gesprächs ab. Die erste Frage an den Patienten sollte wie immer lauten „Wie geht es Ihnen?“. Wenn Sie den Namen des Patienten kennen, brauchen Sie ihn nicht danach zu fragen, sondern sprechen ihn vielmehr mit seinem Namen an und leiten damit Ihre Fragen ein.

2. Kettenreaktion

Die Kettenreaktionsmethode bezieht sich auf die bewusste Verwendung einer Fragenreihe zu einem bestimmten Thema, wobei die Antwort jeweils als Grundlage für die Formulierung der nächsten Frage verwendet wird, mit der zusätzliche Informationen mit höherer Aussagekraft gewonnen werden. Hier ein einfaches Beispiel für eine Folgefrage: Nachdem der Patient seinen Namen genannt hat, könnte die nächste Frage lauten: Woher stammt Ihr Name? Die anschließende Frage wäre: Seit wann ist Ihre Familie hier? In der nächsten Frage könnte seine Verbundenheit mit den Herkunftstraditionen erfragt werden, beispielsweise ob er den Sportmannschaften des Herkunftsortes verbunden ist oder man findet andere Anknüpfpunkte zu diesem Thema. Am Ende einer Folge von 4 Fragen, die Bestandteil einer „natürlichen“ Unterhaltung sind (kein Fragebogen), hat der Arzt eine Menge Informationen über den Patienten gesammelt und dem Patienten das Gefühl vermittelt, an ihm/ihr interessiert zu sein und eine scheinbar lockere Unterhaltung mit ihm/ihr zu führen. Dies ist extrem wichtig, wie in Abschnitt 4. näher erläutert.

3. Erkennung von Normabweichungen

Ärzte sind geschult darin zuzuhören, zu beobachten und Krankheitsbilder zu erkennen. Die größte Herausforderung liegt darin zu bestimmen, was normal ist und was von der Norm abweicht und deshalb potenziell pathologisch ist. Während die Grenzen zwischen normal und pathologisch in der körperlichen Untersuchung, in Labortests und in der Bildgebung klar zu definieren sind, sind die Grenzen zwischen normal und abweichend von der Norm in der Persönlichkeit, den kulturellen Gepflogenheiten und Überzeugungen des Patienten weniger klar definiert. Persönlichkeit, Kultur und Überzeugungen spielen bei der Vertrauensbildung zwischen Patient und Arzt eine extrem wichtige Rolle. Die strukturierte Befragung ermöglicht es uns, Informationen über das Leben des Patienten zu gewinnen und die anzuwendenden diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen auf den Patienten zuzuschneiden. Die vier oben genannten Fragen und die Kettenreaktionstechnik dienen dazu, den Patienten als Person kennenzulernen. Ein Arzt mit einem breiten kulturspezifischen Wortschatz kann erkennen, was für den konkreten Patienten normal ist und was so weit von der Norm abweicht, dass es als pathologisch definiert werden kann. So berichtet beispielsweise ein 82-jähriger Patient, dass er vier Kinder hat. Die Folgefrage lautet: Wo leben Ihre Kinder? Er antwortet, dass drei seiner Kinder auswärts leben, ein Sohn lebt bei ihm. Der Sohn, der bei ihm lebt, ist 35 Jahre alt. In den meisten westlichen Ländern stellt dies eine Abweichung von der Norm dar. Weitere Fragen ergeben, dass der 35-jährige Sohn geistig behindert ist und die größte Sorge des Patienten in der Versorgung seines Sohnes während seines Krankenhausaufenthaltes liegt, da der Sohn nicht alleine für sich sorgen kann. Dieser Umstand bewirkt eine andere Betrachtungsweise der medizinischen Situation und erfordert einen anderen Ansatz als wenn der Patient während seiner Genesung von seinem Sohn unterstützt werden könnte. Zu erwägen sind eine kürzere Verweildauer im Krankenhaus, eine Unterstützung in der Betreuungslösung für seinen Sohn oder ein Verschieben des Eingriffs, bis eine Betreuungslösung für den Sohn gefunden ist. Aufmerksamkeit für solche Abweichungen, die sich aus den vier oben genannten Fragen ergeben, und die Verwendung der Kettenreaktionsmethode ermöglichen uns tiefgehende Einblicke in die Belange und die Psychologie des Patienten.

4. Begegnung auf Augenhöhe

Die konventionelle Beziehung zwischen Patient und Arzt ist die zwischen einer hilfesuchenden und einer helfenden Person. Eine solche Beziehung schafft Ungleichheit zwischen dem Patienten und dem Arzt. Ferner wird häufig davon ausgegangen, dass sich Patienten gegenüber der Autorität des Arztes sozial unterlegen und schwach fühlen. Diese Ungleichheit spiegelt sich in wiederholten Aufforderungen an Ärzte wider, verständlich auf Augenhöhe zu sprechen, sowie in einem allgemeinen Misstrauen gegenüber Autoritätspersonen. Um diese Ungleichheit zu überwinden und Vertrauen und eine Beziehung mit dem Patienten aufzubauen, kann folgende Technik angewandt werden: im Gespräch mit dem Patienten sollte der Arzt zeigen, dass ihn gemeinsame Interessen mit dem Patienten verbinden. Ergänzt werden kann dies, indem der Arzt sein Interesse am Beruf des Patienten ausdrückt. Arbeitet der Patient beispielsweise bei der Müllabfuhr, fragen Sie ihn nach der Arbeitssicherheit der Müllfahrzeuge oder ob er schon einmal etwas Außergewöhnliches im Müll gefunden hat. Eine weitere Strategie liegt darin, auf gemeinsame Interessen oder gemeinsame Bekannte hinzuweisen. Häufig liegen gemeinsame Interessen in den Bereichen Sport, Musik, Kultur oder Essen. Eine beiden bekannte Person kann eine berühmte Person aus der Nachbarschaft des Patienten oder ein Bekannter aus seinem beruflichen Umfeld sein. Gemeinsame Interessen könnten eine Sportmannschaft sein oder eine Unterhaltung über eine bekannte Person aus der Nachbarschaft des Patienten oder eine Veranstaltung, die mit dem Umfeld des Patienten oder seinem Arbeitsplatz in Verbindung steht. All diese Anknüpfpunkte können bei der Begegnung eine positive, ungezwungene Atmosphäre schaffen. Am Beispiel des Mitarbeiters der Müllabfuhr könnte der Arzt den Patienten, nachdem er ihn nach der Arbeitssicherheit und außergewöhnlichen Funden gefragt hat, auf einen berühmten Fußballspieler ansprechen, der aus dessen Nachbarschaft kommt. Der Patient kennt diesen Spieler vielleicht von Kindheit an vom Sehen und ist stolz, Informationen zu diesem Spieler liefern zu können, die dem Arzt noch nicht bekannt waren. Solche vom Arzt eingeleitete Episoden verringern das Gefühl der Ungleichheit und fördern die Kooperation und das Vertrauen des Patienten. Sie sind weitere Beispiele für die Verwendung narrativer Werkzeuge in der Medizin, um das Vertrauen zu stärken und die Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern [8], [9], [10].

5. Ende gut alles gut

Häufig können die Antworten auf die Fragenreihe auch zur inhärenten Ungleichstellung in der Arzt-Patienten-Beziehung beitragen. Möglicherweise lauten die Antworten auf die vier Eingangsfragen, dass der Patient unverheiratet, arbeitslos und bald obdachlos ist. Der Patient fühlt sich dem gebildeten, sozial angesehenen und gut verdienenden Arzt unterlegen. Um die Ungleichheit zu minimieren, müssen die Folgefragen zu einer Antwort führen, die den Patienten in einem sozial günstigen Licht erscheinen lässt.

Die vier Eingangsfragen haben für den Patienten mit negativen Gefühlen geendet. Der Arzt kann ihn nun fragen, ob er Freunde in der Stadt hat. Wenn der Patient verneint, setzt sich die Folge ungünstig fort. Die nächste Frage nach Verwandten beantwortet der Patient mit einem Ja, ich habe einen Cousin in der Nachbarstadt. Mit einer kurzen Bemerkung über die Vorteile, einen Verwandten in der Nähe zu haben, kann der Arzt die Negativserie unterbrechen und nach dem Motto „Ende gut, alles gut“, die nächste Fragenreihe mit einem positiven Vorzeichen beginnen.

6. Einfühlsam und achtsam sein

Während des Gesprächs sollte sich der Arzt in die sozialen und kulturellen Sichtweisen des Patienten einfühlen. Da ein erfahrener Arzt dazu neigt, Patienten in bestimmte Muster einzuordnen und das erkannte Muster als diagnostisches Hilfsmittel zu benutzen, unterliegt er einem gewissen Fehlerrisiko [11], [12]. Dennoch sollte ein Arzt gleich nach der Begrüßung des Patienten seine Einschätzung als Grundlage für die darauffolgenden Interaktionen verwenden und sein Verhalten dementsprechend modifizieren. Selbstverständlich ist Ärzten bewusst, dass sie sich irren können, weshalb die ursprünglichen Annahmen mit jeder neuen Information neu angepasst werden sollten. Keine Kinder zu haben ist beispielsweise in manchen Gesellschaften ein erheblicher Nachteil und kann dort ein Versagen bedeuten, wohingegen Kinder zu haben oder auch nicht in anderen Gesellschaften eine respektierte individuelle Entscheidung darstellt. Deshalb gilt es im Gespräch mit einer Person, für die ihre Kinderlosigkeit möglicherweise ein sensibles Thema darstellt, behutsam mit dem Thema umzugehen und eine direkte Frage danach zu vermeiden. Beispielsweise sollte bei einer Person, in deren Umfeld große Familien die Regel sind, eher gefragt werden „Haben Sie Familie“. Vermieden werden sollte hingegen eine direkte Frage wie „Wie viele Kinder haben Sie“. Hat der Patient bei der ersten Begegnung Kinder dabei, kann die Frage auch direkt gestellt werden, andernfalls jedoch kann dies ein schmerzliches Thema sein, welches das Gefühl von Ungleichheit und Ressentiments verstärken kann.


Diskussion

Die Wissenschaft und Praxis der Medizin hat sich in den vergangenen Jahrzehnten enorm verändert. Bessere Technologien und Therapien haben den diagnostischen Prozess und die Behandlungsergebnisse der meisten Erkrankungen völlig verändert. Zusätzlich haben die Verfügbarkeit von Informationen und sozioökonomische Veränderungen zum dynamischen Wandel der Arzt-Patienten-Begegnung beigetragen. Aus der einstmals langen, vertraulichen Begegnung, bei der häufig auch nicht-medizinische Themen besprochen wurden und in deren Zuge der Arzt die Entscheidungen traf, ist heute eine zeitlich begrenzte Begegnung geworden, bei welcher Arzt und Patient die Entscheidungen gemeinsam treffen [2], [3]. Als unmittelbare Auswirkung dieses Wandels hat das Anamnesegespräch an Zentralität und Bedeutung verloren [13]. Doch die Diagnose vieler Erkrankungen ist allein von der Anamnese abhängig: Angina pectoris, chronische Bronchitis, Depression, um nur einige Beispiele zu nennen. Dennoch ziehen Ärzte ebenso wie Patienten für die Diagnosestellung eher Labortests und bildgebende Verfahren heran, anstatt sich auf ein qualitativ hochwertiges Anamnesegespräch zu verlassen. Sich vollständig auf die Bildgebung und Laboruntersuchungen zu stützen, ohne Berücksichtigung der Patientenanamnese und körperliche Untersuchungen, kann zu erheblichen, lebensbedrohlichen Fehlern führen und zur unbegründeten Inanspruchnahme von Ressourcen [14]. Behandlungsentscheidungen zu treffen ohne Kenntnis des Patienten, seiner Persönlichkeit und seiner Überzeugungen, kann zu Frustration führen und zu nutzlosen medizinischen Maßnahmen [15].

Die Ressource Zeit ist bei den meisten Patientenbegegnungen begrenzt, was bei medizinischen Mitarbeitern häufig als Rechtfertigung dafür genannt wird, dass die Anamnese weniger sorgfältig und aufmerksam durchgeführt wird [13]. Ärzte in der Ausbildung und Studenten beklagen sich häufig darüber, dass für eine gründliche Anamnese nicht genügend Zeit vorhanden ist. Deshalb verlassen sie sich bei der anfänglichen Diagnostik auf Ergebnisse aus dem Labor und aus der Bildgebung. Ein solcher Ansatz mag für die Diagnosestellung effektiv sein oder auch nicht, er ignoriert jedoch die anderen beiden Funktionen der Anamnese, nämlich den Patienten kennenzulernen und Vertrauen aufzubauen. Ärzte nutzen mehrere Fähigkeiten für das Patientengespräch. Die Kunst der Gesprächsführung sollte Empathie und Authentizität beinhalten, um die oben erläuterten Ziele zu erreichen. Darin sollten sowohl Studenten als auch Ärzte in der medizinischen Aus- und Weiterbildung geschult werden. Die Definition von Empathie ist komplex, sie kann jedoch lauten als „die Fähigkeit,

1.
vom emotionalen Zustand einer anderen Person berührt zu sein und ihn nachzuempfinden,
2.
die Gründe für den Zustand der anderen Person festzustellen und
3.
sich mit der anderen Person zu identifizieren und deren Perspektive einzunehmen“ [16].

Die Auswirkungen von Empathie auf die Qualität der Versorgung und die Patientenzufriedenheit sind hinreichend belegt [17], [18], [19].

Die Kommunikation über soziale Medien als Hauptweg der zwischenmenschlichen Interaktion wird als die Ursache für Entfremdung und den Mangel an sozialer Kompetenz kritisiert. Bei regulären sozialen Begegnungen mag das Respektieren der individuellen Privatsphäre die Vertrautheit begrenzen, in der medizinischen Begegnung ist eine gewisse Vertrautheit jedoch ein Muss, da andernfalls kein Mitgefühl und keine Empathie hergestellt werden können. Nach kulturellen und sozialen Maßstäben mag das Anamnesegespräch distanzlos erscheinen. Einen Patienten nach seiner Familie, seiner Beschäftigung, seinen Überzeugungen oder anderen persönlichen Dingen zu fragen, mag sich unsensibel und unnötig anhören. Das Anamnesegespräch ist eine besondere Situation, in welcher eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht, um eine persönliche Beziehung herzustellen, die eine treffende Entscheidungsfindung ermöglicht und einen emotionalen Austausch, welcher zur Linderung des Leidens beiträgt [17], [18], [19]. In sehr seltenen Fällen empfinden Patienten die Fragen als zu persönlich und lassen sich nicht auf die vertrauliche Beziehung mit dem Arzt ein. In solchen Fällen sollte das Gespräch der Persönlichkeit des Patienten und seinen emotionalen Bedürfnissen angepasst werden. Es ist unklug und potenziell riskant, Entscheidungen über Patienten zu treffen, die wir nicht kennen und die uns nicht vertrauen. Die persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patient ist die Grundlage für Vertrauen, das nur patientennah hergestellt werden kann [16], [19].

Die 6 oben beschriebenen Methoden wurden auf Grundlage der Erkenntnis entwickelt, dass jede Begegnung auf verschiedenen Ebenen stattfindet, auf Informationsebene ebenso wie auf psychologischer, kultureller und sozialer Ebene. Die Methoden begegnen wesentlichen Herausforderungen, mit denen Ärzte häufig umzugehen haben, allen voran die Notwendigkeit, sehr schnell das Vertrauen des Patienten zu gewinnen, um seine Kooperation sicherzustellen. Die zweite Herausforderung liegt darin, kulturelle und sozioökonomische Unterschiede zu überwinden, eine gemeinsame Sprache mit dem Patienten zu finden und seine Erwartungen zu begreifen. Zu guter Letzt geht es darum, eine positive und heilsame Atmosphäre zu schaffen, in welcher Arzt und Patient an einem Strang ziehen. Einige der 6 Techniken werden von erfahrenen Ärzten intuitiv angewandt. Die strukturierte Darstellung dieser Techniken stellt ein Gerüst zur Verfügung, um diese Techniken zu lehren.

Dieses Manuskript bezieht sich ausschließlich auf das Arzt-Patienten-Gespräch. Die 6 Methoden sollten gleichsam jedoch auch für Gespräche mit der Familie des Patienten genutzt werden. Die Methoden könnten und sollten auch in der Telemedizin angewandt werden, die Gewährleistung von Vertraulichkeit und Datenschutz vorausgesetzt.

Kurz gefasst liefern die beschriebenen sechs Methoden nützliche Hilfsmittel für ein qualitativ hochwertiges Gespräch, welches zeitlich effizient ist, ein Vertrauensverhältnis mit dem Patienten schafft und verlässliche Erkenntnisse über seine Kultur und Persönlichkeit liefert. Eine empirische Evaluation der Wirkung der vorgeschlagenen Methoden sollte von Bildungsforschern mithilfe qualitativer und quantitativer Methoden unter kontrollierten Bedingungen und in der klinischen Umgebung durchgeführt werden.


Danksagungen

Mein Dank gilt Prof. Martin Fischer, der mich ermutigte dieses Manuskript zu verfassen und mich mit seinen durchdachten und lehrreichen Kommentaren unterstützte. Ich danke Prof. Bradley Strauss, der mir dabei half, dieses Manuskript zu verfassen, sowie Dr. Robert Gluck, der dieses Manuskript prüfte und seinen Inhalt bereicherte. Ich danke Prof. Simon Marom für seine aufmerksame Revision und schließlich auch allen meinen Lehrern, von denen ich all die Jahre lernen durfte, sowie allen Patienten, die ich betreute und die mich die Kunst des Anamnesegesprächs lehrten und immer weiter lehren.


Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass er keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


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