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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Fokus auf Patienten in der medizinischen Ausbildung

Leitartikel Medizinische Ausbildung

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  • corresponding author Marjo Wijnen-Meijer - Technische Universität München, Fakultät für Medizin, TUM Medical Education Center, München, Deutschland

GMS J Med Educ 2021;38(5):Doc97

doi: 10.3205/zma001493, urn:nbn:de:0183-zma0014936

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2021-38/zma001493.shtml

Eingereicht: 7. Mai 2021
Überarbeitet: 7. Mai 2021
Angenommen: 7. Mai 2021
Veröffentlicht: 15. Juni 2021

© 2021 Wijnen-Meijer.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Leitartikel

Medizinische Entscheidungen zu treffen kann sowohl für Ärzt*innen als auch für Patient*innen schwierig sein. Patienten werden (nämlich) zunehmend dazu aufgefordert und gebeten, sich persönlich an den Entscheidungen bezüglich ihrer medizinischen Versorgung zu beteiligen. Sowohl Patient*innen als auch Ärzt*innen sollten dafür über Kommunikationsfähigkeiten und entsprechende Qualitäten verfügen, die eine Mitwirkung der Patient*innen ermöglicht. Patient*innen sollten dabei beharrlicher und engagierter auftreten, während Ärzt*innen weniger autoritär handeln sollten, um den Fokus auf einen gemeinsamen Entscheidungsfindungsprozess sowie eine Patienten-zentrierte medizinische Versorgung zu verlagern [1].

In der systematischen Übersicht von Brom et al. [1] wird die Übereinstimmung von Patientenwünschen mit ihrer (persönlich) wahrgenommenen Beteiligung an medizinischen Entscheidungsfindungsprozessen erforscht. Mehrere Studien haben dabei Faktoren untersucht, die hier mit der bevorzugten Rolle in medizinischen Entscheidungsfindungsprozessen assoziiert werden. Jüngere Patient*innen, Patient*innen mit einem höheren Bildungsabschluss und Frauen bevorzugen häufig eine aktive Rolle im Entscheidungsprozess, während ältere Patient*innen dazu neigen, eine „paternalistische“ Haltung von ihren Ärzt*innen zu erwarten [1], [2]. Das Stadium der Krankheit kann ebenfalls die Präferenzen der Patient*innen hinsichtlich ihrer Beteiligung beeinflussen. So zeigte zum Beispiel eine Studie mit Patienten, die an Prostatakrebs erkrankt waren, dass diese im Endstadium ihrer Krankheit eine aktivere Rolle bevorzugten, offenbar, weil sie schon daran gewöhnt waren mit der Krankheit zu leben. Zudem wünschten sich Patient*innen, die an Krebs erkrankt waren, eine passivere Rolle als Patient*innen, die nicht an Krebs erkrankt waren. Generell wünschten sich Patient*innen eine passivere Rolle, wenn sie näher zu den konkreten Optionen ihrer Behandlung befragt wurden [1].

Studien haben gezeigt, dass eine aktive Beteiligung der Patient*innen mit einem positiven, gesundheitlichen Ausgang in Verbindung gebracht wurde, wie allgemeine Lebensqualität, bessere körperliche und psychische Befindlichkeit und weniger Erschöpfung. Nichtsdestotrotz haben einige Studien gezeigt, dass es auch negative Konsequenzen nach sich ziehen kann, wenn Patient*innen dazu gedrängt werden, sich aktiv an medizinischen Entscheidungen zu beteiligen, diese zeigten sich beispielsweise, indem eine Entscheidung später bereut wurde, durch erhöhte Angst, durch Zweifel, ob die richtige Entscheidung getroffen wurde und durch unnötigen Stress [1], [3]. Die Übersicht von Brom et al. [1] legt nahe, dass eine ähnliche Herangehensweise bei allen Patient*innen nicht die Bedürfnisse aller Patient*innen gleichermaßen erfüllt, da die Präferenzen der hinsichtlich der eigenen Beteiligung unter den Patient*innen variieren.

Cegala et al. [4] zeigten, dass Ärzt*innen in der Kommunikation mit engagierten Patient*innen insgesamt mehr Informationen als Antwort auf Fragen von Patient*innen teilten, als in der Interaktion mit Patient*innen, die passiver auftraten. Die erhöhte Mitwirkung von Patient*innen während eines Arzt-Patienten Gesprächs hilft den Ärzt*innen deren Ziele, Interessen und Anliegen besser zu verstehen und erlaubt es ihnen Angelegenheiten anzusprechen, die für die Patient*innen von Bedeutung sind und Erklärungen und Bestärkung anzubieten [4].

Es ist wichtig, Patient*innen aktiver in die medizinische Ausbildung einzubinden, um die zukünftigen Ärzt*innen frühzeitig darin auszubilden, wie sie am besten mit Patient*innen interagieren und Kommunikationsfähigkeiten erlernen, um eine Patienten-zentriete Behandlung anzubieten. Um klinische Fertigkeiten zu entwickeln, sollten Medizinstudierende realen, Fällen und Situationen sowie echten Patient*innen im klinischen Alltag ausgesetzt werden, ohne dabei in die Rechte der Patient*innen einzugreifen. Camody et al. [5] haben evaluiert, wie Patientinnen einer Frauenklinik die Beteiligung von Medizinstudierenden wahrgenommen haben, die in ihre Behandlung einbezogen waren. Die meisten Patientinnen zeigten sich zufrieden mit der Beteiligung der Studierenden in ihre Behandlung und fanden, dass Medizinstudierende (Bestand-)Teil der klinischen Routine sein sollten.

Die Studie von Chang et al. [6] erforschte die Implementierung von longitudinal integrated clerkships LICs (longitudinalen, integrierten Praktika) in Taiwan, die zur Patienten-Zentriertheit beitrug und Werte wie die Unterstützung, Begleitung und Empathie identifizierte. LIC Studierende ermöglichten dabei Verbesserung der Versorgung, indem sie als Vermittler zwischen den Ärzt*innen und Patient*innen dienten und indem sie beraten, den Krankheitsverlauf dokumentierten und Lösungen für Probleme erforschten. Wittkampf et al. [7] erforschten die Lernergebnisse von Medizinstudierenden im Rahmen eines longitudinales Programms, bei dem Studierende Patient*innen außerhalb des Krankenhauses begleiteten und legten nahe, dass die Begleitung von Patient*innen in ihrer häuslichen Umgebung, über einen längeren Zeitraum hinweg, die Entwicklung einer bedeutsamen Beziehung zwischen den Patient*innen und den Studierenden unterstützte und Patienten-Zentriertheit anregte. Weitere Studien zeigten, das Patient*innen generell Medizinstudierende positiv wahrnahmen und den pädagogischen Vorteil anerkannten, diese in ihre medizinische Behandlung miteinzubeziehen [8], [9].

Gordon et al. [10] begutachteten verschiedene Forschungen über die Einbeziehung von Patient*innen in die Lehre von Medizinstudierenden und wiesen dabei auf verschiedene Vorteile hin. Erstens für die Lernenden: ihr Verständnis von Patienten-zentrierter Behandlung, das Anwenden ihrer Fertigkeiten bei ärztlichen Untersuchungen, bei der Beratung und der Anamnese, das sich Bewusst sein über die Auswirkungen von Kranksein auf das tägliche Leben, die Auswirkungen auf Partner*innen und Familien und die Stärkung der Patient*innen. Die Vorteile für die Patient*innen beinhalten Zufriedenheit mit der Nutzung ihrer persönlichen Erfahrung in der medizinischen Ausbildung und größeres Selbstvertrauen in ihr Wissen über ihre eigene Gesundheit oder Krankheit. Die Patient*innen sind damit einverstanden als „Versuchskaninchen“ zu fungieren, da sie helfen möchten und dies als einen Ausdruck von Altruismus betrachten [11].

Henriksen und Ringsted [12] wiesen darauf hin, dass Veranstaltungen, in denen Patienten die Rolle von Dozenten haben eine Lernumgebung schaffen, in der Inhalte mit Realismus und individuellen Blickwinkeln auf die Krankheit begleitet werden. Das Lehrformat charakterisiert sich durch Authentizität und Intimität und leitet dazu an Fragen zu stellen und Fehler zu machen.

Isaacson et al. [13] untersuchten die Wahrnehmung von Patient*innen, bei denen Medizinstudierende aus dem 1. und 2. Studienjahr in ihre ambulante Versorgung einbezogen waren. Die meisten Patient*innen wollten die Studierenden wiedersehen und ein hoher Prozentsatz der Patient*innen hatte das Gefühl, dass die Anwesenheit von Medizinstudierenden einen Mehrwert für ihren Arztbesuch brachte, da es die Qualität sowie die Zeit des Arztbesuchs erhöhte.

Die Einbeziehung von Patient*innen in die medizinische Ausbildung kann die Weiterbildung der medizinischen Belegschaft verbessern und damit einhergehend die Gesundheitsversorgung Vorteile für die Bevölkerung bringen. Es wird erwartet, dass Patient*innen letztendlich davon profitieren, wenn Studierende mehr Erfahrungen mit Patient*innen sammeln, bei denen sie in die gemeinsame Entscheidungsfindung miteinbezogen werden und dabei lernen die Gefühle und Wahlmöglichkeiten der Patient*innen anzuerkennen [14].

In verschiedenen Artikeln, die in dieser Ausgabe erwähnt werden, sind Patient*innen direkt oder indirekt in die medizinische Ausbildung involviert.

Der Artikel von Demmer et al. [15] beschreibt, wie praktische Prüfungen mit ambulanten Patient*innen implementiert werden können. Der Artikel von Glässer et al. [16] beschreibt die Bedeutung der Einbeziehung von echten Patient*innen in die Entwicklung von OSCEs. Während der COVID-19-Pandemie ist der Kontakt von Medizin- und Zahnmedizinstudierenden mit den Patient*innen eingeschränkt. Obwohl dieses Problem nicht vollständig behoben werden kann, beschreiben Crome et al. [17] wie diagnostische Fähigkeiten mit Hilfe von digitalen Patientenfällen in der Ausbildung trainiert werden können. Eine wichtige Voraussetzung für die gemeinsame Entscheidungsfindung in der klinischen Praxis ist die Befähigung, das Wissen der Patient*innen abzuschätzen. In diesem Zusammenhang ist die Studie von Harendza et al. [18] relevant, die das Wissen von Laien über die menschlichen Anatomie und die körperlichen Organe und die üblichen medizinischen Begriffe untersucht hat.

Der Fokus auf die Patient*innen und deren Erfahrungen in der medizinischen Ausbildung ist entscheidend für die Verständigung und die Stärkung der Arzt-Patienten Beziehung sowie für die Bereitstellung einer kompetenten, individuellen Herangehensweise an jeden einzelnen Fall.


Interessenkonflikt

Die Autorin erklärt, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


Literatur

1.
Brom L, Hopmans W, Pasman HR, Timmermans DR, Van Widdershoven GA, Onwuteaka-Philipsen BD. Congruence between patients' preferred and perceived participation in medical decision-making: a review of the literature. BMC Med Inform Decis Mak. 2014;14: 25. DOI: 10.1186/1472-6947-14-25 Externer Link
2.
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3.
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4.
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15.
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16.
Glässel A, Zumstein P, Scherer T, Feusi E, Biller-Andorno N. Case vignettes for simulated patients based on real patient experiences in the context of OSCE examinations: Workshop experiences from interprofessional education. GMS J Med Educ. 2021;38(5):Doc91. DOI: 10.3205/zma001487 Externer Link
17.
Crome M, Adam K, Flohr M, Rahman A, Staufenbiel I. Application of the inverted classroom model in the teaching module "new classification of periodontal and peri-implant diseases and conditions" during the COVID-19 pandemic. GMS J Med Educ. 2021;38(5):Doc89. DOI: 10.3205/zma001485 Externer Link
18.
Harendza S, Münter A, Bußenius L, Bittner A. General population's knowledge about the anatomical locations of organs and medical terms today and 50 years ago: a replication study. GMS J Med Educ. 2021;38(5):Doc94. DOI: 10.3205/zma001490 Externer Link