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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Framework für interprofessionelle Fallkonferenzen – Empirisch fundiertes und kompetenzorientiertes Kommunikationslehrkonzept für die interprofessionelle Lehre

Artikel Interprofessionelle Kommunikation

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GMS J Med Educ 2021;38(3):Doc65

doi: 10.3205/zma001461, urn:nbn:de:0183-zma0014610

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2021-38/zma001461.shtml

Eingereicht: 25. März 2020
Überarbeitet: 24. November 2020
Angenommen: 9. Januar 2021
Veröffentlicht: 15. März 2021

© 2021 Posenau et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Interprofessionelle Fallkonferenzen stützen zukünftige teambasierte Versorgungsansätze und benötigen unweigerlich eine zielführende Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Akteuren. Das Gelingen der Kommunikation während einer Fallkonferenz muss allerdings explizit gelernt sein. Gegenstand der Bearbeitung ist häufig nur das Ergebnis der Fallkonferenz, welches im Plenum oder Kleingruppen diskutiert wird. Die kommunikativen Prozesse werden dabei kaum berücksichtigt. Jedoch ist die Integration der Prozessorientierung und der Relevanzmachung der Kommunikation zur Zielerreichung obligatorisch, um kompetenzorientiert in diesem Bereich zu lehren. Ziel dieses Beitrags ist die Darstellung eines empirisch fundierten Frameworks zum Lehren von Fallkonferenzen, mithilfe dessen Gesprächsprozesse in interprofessionellen Fallkonferenzen geübt, bewertet und analysiert werden können.

Methodik: Mithilfe einer Literaturanalyse, Erkenntnissen aus der empirischen Gesprächsforschung und dem International Classification of Functioning and Health (ICF) wurde das empirisch und theoretisch fundierte Framework für interprofessionelle Fallkonferenzen entwickelt, das bei der Schulung der kommunikativen Kompetenzen unterstützen soll und bei der Bewertung dessen als Grundlage dient.

Ergebnisse: In der Praxis hat sich gezeigt, dass die curriculare Einbettung von Fallkonferenzen im Hochschulkontext bei einer Gruppengröße von 200 Studierenden machbar und effektiv ist. Das Framework hat sich bewährt, innersprachliche Aufgaben zu schulen und sich gleichzeitig an Konzepten des Teilens (sharing) für das Aushandeln von Leadership, Zielen und Entscheidungen auszurichten. Darüber hinaus konnte es auch als theoretisches Konstrukt für die interprofessionelle objective structured clinical examination (iOSCE) zum Abschluss des Moduls „Interprofessionelle Fallkonferenz“ an der Hochschule für Gesundheit eingesetzt werden.

Schlussfolgerung: Die Themen interprofessionelle Praxis (IPP) und Kommunikation sind mittlerweile national wie international Gegenstand der Curricula von Gesundheitsberufen. Darüber hinaus stehen verschiedene Kompetenzrahmen zur Verfügung, die bei der didaktischen Ausrichtung unterstützen können. Konkrete Imperative für die kompetenzorientierte Umsetzung in Lehre und Prüfungen fehlen jedoch nach Ansicht der Autoren. Anstelle der Induktion ist es auch im Bereich der Kommunikationslehre möglich, empirisch fundierte Konzepte in das Studium der Gesundheitsberufe zu integrieren, um eine Weiterentwicklung der kommunikativen Kompetenzentwicklung in diesem Segment zu fundieren.

Schlüsselwörter: IPE, Fallkonferenzen, Kommunikation, ICF, IPP


1. Einleitung

Gesundheitsberufe stehen vor der Herausforderung effiziente Strukturen für die Zusammenarbeit im Versorgungsalltag integrieren zu müssen, um der Zunahme an Komplexität in den Versorgungsanforderungen zu begegnen [1]. Ziele für ein chronisches Versorgungsmanagement ändern sich und werden weniger auf die Heilung, sondern vielmehr auf die Verbesserung der täglichen Funktionsfähigkeit und Lebensqualität der Patienten ausgerichtet [2]. Zur Erreichung solcher Ziele ist besonders in der Versorgung chronischer Patienten ein effizientes Zusammenarbeiten zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufen von Nöten [3]. Interprofessionelles Zusammenarbeiten oder Teamwork werden hierbei als ein dynamischer Prozess betrachtet, an dem zwei oder mehr Gesundheitsberufe mit zum Teil komplementären Hintergründen und Fähigkeiten beteiligt sind. Sie verfolgen dabei gemeinsame Gesundheitsziele, um eine personenzentrierte Versorgung vorzunehmen. Ihre Zusammenarbeit ist durch einen strukturierten Austausch, offene Kommunikation und geteilte Entscheidungsfindung geprägt [4]. Für solche kollaborativen Versorgungsstrukturen in der Praxis, wie die WHO sie schon seit 2010 fordert [1], existieren allerdings noch viele Herausforderungen. In der einschlägigen Literatur werden unterschiedliche Barrieren, wie z. B. das Hinarbeiten auf die Versorgungsziele, Unklarheiten in der Zuteilung der Verantwortlichkeiten oder der Mangel an Kontinuität in den Versorgungsteams identifiziert [5], [6]. Besonders der Informationsaustausch über Berufsgrenzen hinweg setzt Kenntnisse über die Rolle der anderen Professionen voraus. Desto besser dieser Austausch funktioniert, desto weniger werden Teamstrukturen identifiziert, die durch hierarchische Beziehungen geprägt sind [5], [7], [8]. Eine gut funktionierende Kommunikation in interprofessionellen Versorgungsmomenten, welche sich auf gemeinsame resp. geteilte Visionen sowie gegenseitigen Respekt stützt, hilft, die Zusammenarbeit in Teams und die Koordination der Therapie zu stärken [5], [9], [10], um letztendlich eine effizientere Versorgung für Menschen, die mit chronischen Beschwerden leben müssen, zu implementieren [3]. Die interprofessionelle Fallkonferenz erscheint, neben der Simulation von Übergabegesprächen und der Visite, eine geeignete Bildungsmaßnahme zu sein, um das Wissen und das Bewusstsein für die Rolle anderer Angehöriger der Gesundheitsberufe in der Patientenversorgung zu erhöhen [11], spezifische Kommunikationsstrategien zum Aushandeln von Zielen und Entscheidungen zu fördern und auf der Basis dessen interprofessionelle Versorgungspläne zu entwickeln [12]. All dies ist im deutschsprachigen Raum aus didaktischer Perspektive hinsichtlich der Kommunikationslehre kaum Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion [13], obwohl viele Projekte in diesem Bereich durch Förderlinien angeregt wurden [14]. Dementsprechend stehen die konzeptionelle Entwicklung, die empirische Fundierung des Konzepts und die anschließende Umsetzung im Fokus dieses Beitrags.


2. Interprofessionellen Fallkonferenzen im Bildungskontext

Die berufliche Bildung wird in Deutschland in der Regel monoprofessionell organisiert. Die bestehenden Ausbildungsstrukturen ermöglichen somit schon strukturell wenige Gelegenheiten zum interprofessionellen Austausch und unterstützen inhärent die mangelnden Kenntnisse über die Kompetenzen der anderen Professionen oder die fehlende Präzision im Rollenverständnis der verschiedenen potenziellen Teammitglieder [6], [8]. Interprofessionell angelegte Fallkonferenzen können ein Instrument zur Schulung von kollaborativen Versorgungsansätzen sein. Voraussetzungen für das Gelingen sind, dass die teilnehmenden Akteure die Kompetenzen der anderen Professionen einschätzen, über ein klares Rollenverständnis verfügen und ein Rahmen für die Durchführung von Fallkonferenzen existiert [15]. Um eine effiziente und effektive Fallkonferenz durchzuführen ist es somit essentiell, dass die gezielte Kommunikation untereinander und eine wertschätzende Kultur des Zusammenarbeitens geschaffen wird. Die Kommunikation sollte dabei als eine geplante Diskussion initiiert werden und nicht, wie die Versorgungsrealität häufig zeigt, nebenbei „auf dem Flur“ verlaufen oder erst beginnen, wenn Probleme auftauchen [15]. Ausgehend von einem personenzentrierten Versorgungsansatz [16], [17] müssen die Informationen zu den persönlichen Bedürfnissen und dem aktuellen Gesundheitszustand ausgetauscht und besprochen werden, um Entscheidungen und gemeinsame Zielsetzungen auszuhandeln. Dadurch erst wird es möglich einen strategischen Plan zu entwickeln, welcher sowohl aktuelle Gesundheitsfragen als auch zukünftige Gesundheitsbedürfnisse berücksichtigt [17]. Für die Fallkonferenz wird demnach die Definition von Bell et al. [18] verwendet: “A case conference is a multidisciplinary meeting of 2 or more health professionals to plan care for a specific person with chronic and complex care needs”.

Die notwendigen Fähigkeiten, die mit der Durchführung von interprofessionellen Fallkonferenzen in Zusammenhang stehen, werden in Tabelle 1 [Tab. 1] abgebildet. Die Förderung dieser Kompetenzen sollten innerhalb der Schulungskonzeption zum Tragen kommen. Der unterstützende Rahmen wird im nächsten Abschnitt dargestellt.

All diese Fähigkeiten gilt es in der Lehre zu berücksichtigen, wobei dies aufgrund des Gegenstands im praktischen Handeln, also durch das Durchführen einer Fallkonferenz, realisiert werden sollte, die im Anschluss der Durchführung in der Reflexionsphase um den Faktor Kommunikationsverhalten ergänzt werden muss (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Die Frage die sich nun stellt ist, was lässt sich diesbezüglich reflektieren und wie können wir es verbal überhaupt beschreiben? Hierzu wurde das unten dargestellte Framework entwickelt.


3. Rahmen für die interprofessionellen Fallkonferenzen

Bei der Umsetzung von interprofessionellen Fallkonferenzen handelt es sich um einen komplexen Gesprächstyp, dem eine bestimmte Struktur zugrunde liegt. Diese Struktur ist an zu bearbeitenden Aufgaben im Gespräch orientiert. Mit der Bearbeitung außersprachlicher Aufgaben sind konkrete sprachliche Handlungen gemeint, die realisiert werden müssen, damit von einer Fallkonferenz gesprochen werden kann. Es gibt quasi einen „Prototyp“, wie eine interprofessionelle Fallkonferenz geführt werden sollte. Dieser Idealfall wurde aus mehreren Perspektiven heraus entwickelt, auf dessen Grundlage dann im Anschluss das Framework für die interprofessionellen Fallkonferenzen abgeleitet wurde (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).

Grundlegend aus gesprächsanalytischer Perspektive bei der Entwicklung des Frameworks ist die Annahme, dass Gespräche aktiv in Form von aufeinanderbezogenen Prozessen konstituiert werden. Hinzu kommen die Merkmale Methodizität, also die kulturelle Dimension, und die Pragmatizität [19]. Das letzte Merkmal ist besonders relevant in diesem Kontext, da die Aufgabenbearbeitung der Akteure im Gespräch zentral ist. Hierbei wird unterschieden zwischen innersprachlichen und außersprachlichen Aufgaben. Also alles, was in jedem Gespräch von allen Akteuren permanent realisiert werden muss (innersprachlich) und alles was an konkreten Aufgaben bearbeitet werden muss, damit man von einem spezifischen Gesprächstyp sprechen kann (außersprachlich). In diesem Fall geht es um die Spezifika des Gesprächstyps der interprofessionellen Fallkonferenz. Durch dieses induktive Verständnis von Gesprächen wird es möglich, den Gesprächstyp mithilfe der Gesprächsanalyse empirisch zu erfassen und anwendungsorientiert anzuwenden.

Auf der kommunikativen Ebene geht es während einer Fallkonferenz im Gesprächsverlauf besonders um die Steuerung und die aktive Konstitution von Gesprächsphasen, sowie zuvor beschrieben um die Koordination der unterschiedlichen Gesprächsphasen und innersprachlichen Aufgaben [20]. Demnach bestehen Gespräche immer aus Eröffnungs- Kern- und Beendigungsphasen, die aktiv von den Beteiligten hergestellt werden müssen. Die Eröffnungs- und Beendigungsphase ist dabei primär für die Struktur- und Beziehungsarbeit reserviert. Die Kernphase ist deutlich komplexer und macht Gesprächstypen unterscheidbar. In Fallkonferenzen muss z. B. ein anderes Aufgabenpaket außersprachlich bearbeitet werden als in einer Anamnese [20].

Deppermann [19] spricht in Anlehnung an Kallmeyer in diesem Zusammenhang von Realitätskonstitution auf unterschiedlichen Ebenen, welche durch die Akteure in jedem Gesprächsmoment aktiv konstituiert werden müssen. Es besteht für die Akteure somit jederzeit auf der Mikroebene die Aufgabe:

  • das Gespräch zu organisieren,
  • die Darstellung von Sachverhalten zu gestalten,
  • das Handeln auf der Mikroebene zu koordinieren,
  • die soziale Beziehung und Identität herzustellen und aufrechtzuerhalten,
  • die Modalität der Interaktion konstituieren
  • und Reziprozität herzustellen.

Diese innersprachlichen Aufgaben sind in jedem Gespräch vorhanden und eine induktive Perspektive hilft bei der Betrachtung von Interaktionen und macht sie empirisch analysierbar und beschreibbar.

Auf dieser Ebene werden dann klassische Kommunikationsverfahren relevant, die bisher häufig als einziger Gegenstand der Kommunikationslehre betrachtet werden. In manchen Texten wird z. B. von Techniken gesprochen [21], wie Fragetechniken oder z. B. Techniken zur Gesprächsführung oder komplexeren Verfahren wie das aktive Zuhören.

Auf der Mikroebene steht uns somit die Gesprächsanalyse als Grundlage zur empirischen Fundierung mit ihren vielfältigen Analyse- und Beschreibungsoptionen zur Verfügung, mithilfe derer der fluide Untersuchungsgegenstand überhaupt zu greifen ist. Auf der Makroebene wird auf Grundlage des ICF [23] das Modell von Packard et al. [22] hinzugezogen, um die außersprachlichen Aufgaben zu identifizieren, was im Folgenden skizziert wird.

Auf der handlungsfokussierten Ebene geht es im interprofessionellen Framework für die Fallkonferenzen um die außersprachlichen Aufgaben. Gemeint sind hiermit Aspekte im Gespräch, welche handlungsleitend und inhaltlich substantiell für eine Fallkonferenz sind. Wenn die entsprechenden Aufgaben nicht bearbeitet wurden, kann man nicht von einer Fallkonferenz sprechen. Hierfür wurden in der Literatur drei essentielle Gesichtspunkte identifiziert [23], [22], [24]. Erstens sollten Akteure in einer Fallkonferenz eine für alle verständliche Sprache sprechen und aus einer biopsychosozialen Sicht, personenzentriert ausgerichtet sein. Die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) [23] wurde hierzu als theoretisches Modell zu Grunde gelegt. Packard et al. [22] entwickelten auf Basis des ICF einen interprofessionellen, teambasierten Entscheidungsrahmen, mit dem in der Bearbeitung von Fällen die vielfältigen Aufgaben in dem Interaktionszusammenhang gesteuert werden können. Der Vorteil dieses Modells liegt in der Transfermöglichkeit und der Integrationsoption über alle Professionen hinweg.

Das Framework bedient dabei zwei zentrale Ebenen, die beim Durchführen einer Fallkonferenz relevant sind:

1.
eine globale Perspektive des Gesprächsverlaufs und den daraus resultierenden Aufgaben für die Akteure unter kommunikativen Gesichtspunkten und
2.
eine handlungsfokussierte Perspektive, aus der personenzentriert die bestmögliche interprofessionelle Versorgung ausgelotet wird.

Von Kompetenzen sprechen die Autoren in diesem Kontext, wenn die Fähigkeit zur Konstitution von Fallkonferenzen, also der Fähigkeit der Bearbeitung der Aufgaben und Steuerung des Prozesses, beobachtbar, also empirisch fassbar, sind. Konkret für Fallkonferenzen bedeutet dies, dass die Studierenden folgende Aufgaben auf Grundlage eines Falls kommunikativ bearbeiten lernen.

Auch auf der Grundlage von Packard et al. [22] wurden dann im Anschluss weitere obligatorische außersprachliche Aufgaben identifiziert. Für diese Aufgaben stehen nun folgend alle Prozesse, die im Zusammenhang mit dem Zusammenarbeiten stehen, im Mittelpunkt [24]. Zusammenarbeit in Teams ist nach Ansicht der Autoren gekennzeichnet durch situatives und sektorenübergreifendes Agieren mit Bezug auf eine spezifische Versorgungssituation. Dies führt somit notgedrungen zu einem Kulturwandel im Gesundheitssystem [17]. Damit wird zweitens für die Fallkonferenzen das Konzept des Teilens (sharing) zu Grunde gelegt [22], [25]: gemeinsame Teamführung (shared practice team leadership) [26], gemeinsame Zielsetzung (shared goalsetting) [17], [27], [28] und die gemeinsame Entscheidungsfindung (shared decision making) [17], [27], [28]. Die Leadership-Funktion in den Fallkonferenzen wird der Literatur nach der Profession zugeordnet, die zur Gesundheitsfrage der Patienten die größte Expertise aufweist und damit die Führung und Verantwortung für die Teilprozesse und das Outcome übernehmen kann. Diese Führungsrolle ist in jeder Fallkonferenz neu auszuhandeln. Die Zielfindung und gemeinsame Entscheidungsfindung forcieren in der Fallkonferenz das aufeinander abgestimmte Aushandeln, wobei das Bedürfnis der Patienten dabei handlungsleitend ist. Hierbei werden durch den Informationsaustausch die unterschiedlichen Handlungsansätze der verschiedenen Professionen sichtbar. In der Fallkonferenz ist im Austausch zu entscheiden, welche Handlungsoption(en), d. h. Ziele und Entscheidungen, priorisiert werden müssen. Drittens wird auf dieser von allen Akteuren erarbeiteten Basis ein interprofessioneller Versorgungsplan erstellt [12], [29], der an den aktuellen Evidenzen ausgerichtet sein sollte [22], [29].

Diese kommunikativen und handlungsbezogenen Prozessebenen wurden parallelisiert und in das Framework für die interprofessionelle Fallkonferenz integriert (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Das Framework ist als Basis für die Schulungen der Fallkonferenzen zu sehen. Die Umsetzung in der Lehre wird exemplarisch für das Modul „interprofessionelle Fallkonferenzen“ an der Hochschule für Gesundheit dargestellt. Die Studierenden lernen also prozessbezogen die in der Abbildung extrahierten Aufgaben zu bearbeiten. Das Framework dient dabei als Orientierung zur Konzeption der Lehrinhalte, wie auch zur Reflexion, um präziser in der Beschreibung und Bewertung von Kommunikationsprozessen zu werden.


4. Rahmenbedingungen an der hsg

Realisiert wird die Fallkonferenz in der Praxis mit Studierenden der Hebammenwissenschaft, der Pflege, Physio- und Ergotherapie und Logopädie. Insgesamt kommen im Laufe eines Semesters ca. 200 Studierende in zehn interprofessionellen Gruppen wöchentlich zu jeweils 20 Studierenden zusammen. Eine Unterrichtseinheit „Fallkonferenz“ folgt einer klaren wie unten aufgezeigten Struktur (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Die Fallkonferenzen sind im 7. Semester verortet und haben einen Workload von drei Kreditpunkten. Durch die curriculare Verankerung im 7. Semester haben die Studierenden in der Regel ihre staatliche Abschlussprüfung durchlaufen oder stehen kurz davor. In einer Fallkonferenz arbeiten zwei bis drei unterschiedliche Professionen zusammen.

Im Vergleich zu klassischen Fallkonferenzen gehen die Autoren in diesem Konzept über die Erarbeitung und Analyse des potenziell bestmöglichen Versorgungsergebnisses hinaus, indem sie die Reflexion der Kommunikationsprozesse mit in die Unterrichtseinheiten integrieren. Es geht also nicht nur um das "Was machen wir?", sondern auch um das "Wie machen wir das?".


5. Konsequenzen für die Kommunikationslehre in der Praxis

Das Framework und seine theoretische Fundierung haben als didaktischer Ausgangspunkt im Modul auch Konsequenzen auf die Kommunikationslehre und die Prüfung. Zunächst einmal muss Kommunikation basierend auf diesen Annahmen als ein prozessorientiertes Verfahren gelehrt werden. Grundlegend ist die Vermittlung der Kenntnisse über Phasen, Prozesse und Aufgaben; eine reine Orientierung an Fertigkeiten, also Kommunikationstechniken, greift zu kurz. Zentral ist die Bearbeitung der inner- und außersprachlichen Aufgaben (orientiert an der ICF, der kooperativen Entscheidungs- und Zielfindung und dem Aushandeln des Leaderships), nicht durch das alleinige Abarbeiten von Themen. Gleichzeitig unterstützt das Framework den Austausch über die Berufsgrenze hinweg. Zwangsläufig werden Erkenntnisse über die Arbeitsweisen der anderen Professionen gewonnen sowie neue Handlungsstrategien eruiert und ausgehandelt. Für die Kommunikationslehre sind allerdings mehrere Professionen obligatorisch zusammen zu bringen, was für die curriculare Verankerung durchaus eine Herausforderung darstellt [30]. Dennoch können auch Online-Formate ihren Einsatz finden und räumliche Barrieren überwinden.

Eine weitere Auswirkung ergibt sich hinsichtlich der Prüfung. Basierend auf der Grundannahme „Assessment drives Learning“ [31] ist es notwendig am Ende des Moduls eine kompetenzorientierte Prüfung durchzuführen. Bisher blendet die Lehre mit Fällen den Aspekt der Kommunikationsentwicklung aus. Durch die Verknüpfung der beiden Foki kann die Kontaktzeit effizienter und effektiver genutzt werden. Durch das Framework wird eine präzisere Beobachtung und auch gleichzeitig eine Bewertung des Prozesses möglich, denn die einzelnen oben angesprochenen Aspekte sind empirisch erfassbar. Somit kann der Bewertungsprozess empirisch fundiert und nicht nur durch die Introspektion der Bewertenden begründet werden. Dies ist höchst relevant, denn es reicht nicht aus, dass die Bewertung ausschließlich auf das Ergebnis der Fallkonferenzen gelegt wird. Relevant ist vor allem die Performanz, um zum angestrebten Ergebnis zu kommen, damit Studierende in der Praxis in der Lage sind, die komplexen an sie gestellten Anforderungen in interprofessionellen Interaktionen in der Praxis zu bearbeiten. Es zeichnet sich ab, dass Fallkonferenzen eine geeignete Methode für dieses Ziel sein können.


Steckbrief

Name des Standorts: Hochschule für Gesundheit, Bochum

Studienfach/Berufsgruppe: Bachelorstudiengänge für die Berufsgruppen Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Hebammenkunde

Anzahl der Lernenden pro Jahr bzw. Semester: insgesamt ca. 250 Studierende pro Jahr.

Ist ein longitudinales Kommunikationscurriculum implementiert? Ja, seit dem Wintersemester 2016.

In welchen Semestern werden kommunikative und soziale Kompetenzen unterrichtet? Für alle Studiengänge in den interprofessionellen Modulen in 2., 3., 6 und 7. Semester, sowie in den fachspezifischen Modulen.

Welche Unterrichtsformate kommen zum Einsatz? Vorlesungen, praktische Übungen in Skills-Labs, Projektwoche und Fallkonferenzen.

In welchen Semestern werden kommunikative und soziale Kompetenzen geprüft? Als Modulprüfungen im 3. und 7. Semester, welche benotet werden.

Welche Prüfungsformate kommen zum Einsatz? Im 3. Semester eine Klausur, in 7. Semester eine interprofessionelle objective structured clinical examination (iOSCE)

Wer ist mit der Entwicklung und Umsetzung betraut? Die Modulverantwortlichen und jeweils zwei Vertreter*innen aus den fünf Studienbereichen der Hochschule für Gesundheit entwickeln und stimmen die Prüfformate in der Ausschuss IPE ab.


Aktuelle berufliche Rolle der Autor*innen

  • Prof. Dr. phil. André Posenau: Professor für Interaktion interprofessionelle Kommunikation Pflege und Gesundheitsfachberufen am Department für Pflegewissenschaft an der Hochschule für Gesundheit (hsg) in Bochum. Arbeitsschwerpunkte: interprofessionelle Kommunikation und interprofessionelle Didaktik, empirische Kommunikations- und Sozialforschung, eHealth
  • Dipl. Med.-päd Marietta Handgraaf: wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studienbereich Physiotherapie der Hochschule für Gesundheit (hsg) in Bochum. Arbeitsschwerpunkte: curriculare Entwicklungen und Entwicklung von Prüfungsformaten, interprofessionelles Lernen und Handeln, berufspolitische Fragenstellungen

Interessenkonflikt

Die Autor*in erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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