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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Die „neue“ Normalität

Leitartikel Leitartikel

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  • corresponding author Sigrid Harendza - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, III. Medizinische Klinik, Hamburg, Deutschland

GMS J Med Educ 2021;38(2):Doc48

doi: 10.3205/zma001444, urn:nbn:de:0183-zma0014446

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2021-38/zma001444.shtml

Eingereicht: 5. Januar 2021
Überarbeitet: 5. Januar 2021
Angenommen: 5. Januar 2021
Veröffentlicht: 15. Februar 2021

© 2021 Harendza.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Leitartikel

So vieles finden wir normal im täglichen Leben. Dass man auf einen Lichtschalter drücken kann, dass man einer fremden Person die Hand gibt zur Begrüßung oder dass man im Auto einen Sicherheitsgurt trägt. Einige von uns werden sich noch gut an die Zeiten erinnern, als es keineswegs „normal“ war, im Auto einen Sicherheitsgurt zu tragen. Und doch fühlt es sich mittlerweile „normal“ an. Auch in der Medizin gibt es solche Entwicklungen zu einer „neuen“ Normalität, die sich nach einer Weile gar nicht mehr so „neu“ anfühlt. Dass Zahnärzt*innen Masken und Handschuhe tragen und manchmal sogar Schutzbrillen [1], obwohl es inzwischen eine Hepatitis B Impfung gibt, kommt mir ganz normal vor, obwohl dies in meiner Kindheit nicht so war. Dass ich zum Blutabnehmen Handschuhe trage um mich vor Infektionen zu schützen [2], habe ich erst im Praktischen Jahr gelernt. Zuerst kam mir das ziemlich anstrengend vor. Heute finde ich es völlig normal. Und jetzt also SARS-CoV-2, das mich als Internistin dazu bringt, täglich eine chirurgische Maske zu tragen. Das könnte eine „neue“ Normalität in Krankenhäusern werden, da inzwischen entdeckt wurde, dass das allgemeine Tragen von chirurgischen Masken auch vor der Übertragung von saisonaler Erkältung und Grippe schützt [3]. Aber ob ich lernen werde, dies als „normal“ zu empfinden?

Wie sich Veränderungen oder Innovationen ausbreiten und auf der Individualebene adoptiert werden, beschreibt der Soziologe Everett M. Rogers in seiner Diffusionstheorie [4]. Im Prozess der Annahme einer Veränderung folgt den frühen Adoptoren die frühe Mehrheit, dann die späte Mehrheit und zum Schluss folgen die Nachzügler. Ob eine Veränderung „wirklich“ angekommen ist, also einen status quo erreicht hat, lässt sich am Sprachgebrauch der Adoptoren erkennen. Was es für die Akzeptanz einer Veränderung bedeutet, wenn weiterhin von „neuem“ Curriculum, „neuer“ Approbationsordnung, „neuen“ Bundesländern oder „neuer“ Normalität gesprochen wird, lässt sich also leicht erahnen. Die Annahme mancher Veränderungen braucht Zeit, manchmal Jahrzehnte. So viel Zeit wird uns die COVID-19 Pandemie nicht lassen, um eine „neue“ Normalität für das Studium der Medizin, Zahnmedizin, Tiermedizin und anderer Gesundheitsberufe herzustellen.

Die ersten Schritte in die Richtung einer „neuen“ Normalität sind mit der Digitalisierung von Veranstaltungen auf alle Fälle schon gemacht. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass digitale Vorlesungen so gut funktionieren, von den Studierenden erfreut angenommen, sehr gut bewertet und viel häufiger besucht würden als Präsenzvorlesungen [5]. Darüber hinaus gibt es sogar schon Anleitungen, wie man elektronische Angebote in den eigenen Unterricht integrieren kann [6]. Warum sollte nicht auch ein Kurs in Histologie oder Radiologie dauerhaft digital unterrichtet werden, wenn man die entsprechenden mikroskopischen oder radiologischen Bilder am häuslichen Computerbildschirm viel besser sehen kann als an der Leinwand im Seminarraum? Darauf zu hoffen, dass die SARS-CoV-2 Impfungen dazu führen, dass die Studiengänge wieder so „normal“ unterrichtet werden können wie früher, ist vermutlich keine geeignete Strategie. Außerdem ist für manche Veranstaltungen ein Zurück in die „alte“ Normalität auch gar nicht sinnvoll. Aber die Studiengänge auf unbestimmte Zeit nur digital durchzuführen, obwohl hierfür gute Konzepte etabliert wurden [7], ist wahrscheinlich ebenfalls keine nachhaltige Lösung um ärztliche Fähigkeiten und Haltungen zu erlernen. Nötig wird es daher sein, längerfristig auch außerhalb des vorgegebenen Rahmens zu denken [8].

Die Abstandsregeln und das Tragen eines Mund-Nasenschutzes werden bis auf Weiteres nicht aus unserem Alltag verschwinden. Manche bekannten Unterrichtskonzepte lassen sich zwar in einer Weise etablieren, mit denen diese Regularien erfüllt sind [9]. Aber es werden auch völlig neue Konzepte erforderlich sein. Vielleicht wäre es gut, zehn statt vier Famulaturen zu absolvieren, weil einzelne Studierende viel leichter unter den herrschenden Hygienebedingungen in den Arbeitsalltag auf Krankenhausstationen und in Praxen zu integrieren sind als Kleingruppen von Studierenden, die Unterricht am Krankenbett oder ein Blockpraktikum durchlaufen? Vermutlich werden wir neue Kommunikationskurse benötigen, um das Kommunizieren mit Masken zu üben und andere mimische Reaktionsmuster zu erlernen. Oder sollte vielleicht ein Semester vom 1. April bis zum 30. September dauern, weil in diesen Monaten die Ansteckungsgefahr mit SARS-CoV-2 geringer ist, und in der übrigen Zeit des Jahres wäre vorlesungsfreie Zeit? Vielleicht benötigen wir auch das Persönlichkeitsmerkmal Gewissenhaftigkeit als neues Kriterium bei der Studierendenauswahl, damit wir besser darauf vertrauen können, dass Studierende und Ärzt*innen sich an Regularien halten und es zu weniger Patient*innengefährdung kommt? Noch viel mehr ist denkbar und darf gedacht werden und sollte auf den Prüfstand.

Wie auch immer die „neue“ Normalität an den Hochschulen und in den medizinischen Studiengängen und den Studiengängen der Gesundheitsberufe aussehen wird: unangemessene Behandlung von Studierenden in Praktika, über die Bormuth et al. in dieser Ausgabe berichten [10], sollte möglichst nicht mehr vorkommen. Die medizinische Versorgung Asylsuchender wird auch in der „neuen“ Normalität weiterhin ein wichtiges Thema für Medizinstudierende sein. Die Entwicklung der Inhalte für einen solchen multidisziplinären Kurs als klinisches Wahlfach und dessen Evaluation nach der Implementierung erläutern Ziegler et al. [11]. Dass sich Lerninhalte komplett in den virtuellen Raum verlagern könnten und dass dies auf generationenübergreifende Akzeptanz stoßen kann, zeigen Schlegel et al. auf [12]. Aber auch selbst-gesteuertes Lernen in klinischen Famulaturen, über das Röcker et al. berichten [13] wird zukünftig von Bedeutung sein. Die Auswahl von Lehrpraxen für das Praktische Jahr wird in der „neuen“ Normalität ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Hierfür legen Demmer et al. ein Konzept vor [14].

Diese und weitere Arbeiten in dieser Ausgabe der GMS Zeitschrift für Medizinische Ausbildung zeigen, wie wichtig es ist, nicht in der Hoffnung auf eine Rückkehr in die „alte“ Normalität des Studierens mit Hilfe der SARS-CoV-2 Impfung zu verharren, sondern proaktiv die „neue“ Normalität des Studierens und des medizinischen Alltags für unsere und mit unseren Studierenden verantwortlich zu gestalten. Damit können das Studieren und die medizinische Versorgung der uns anvertrauten Menschen wieder zur Ausbildungs- und Berufsnormalität werden.


Interessenkonflikt

Die Autorin erklärt, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


Literatur

1.
Withers JA. Hepatitis. A review of the disease and its significance to dentistry. J Periodontol. 1980;51(3):162-166. DOI: 10.1902/jop.1980.51.3.162 DOI: 10.1902/jop.1980.51.3.162 Externer Link
2.
Hersey JC, Martin LS. Use of infection control guidelines by workers in healthcare facilities to prevent occupational transmission of HBV and HIV: results from a national survey. Infect Control Hosp Epidemiol. 1994;15(4 Pt 1):243-252.
3.
Leung NHL, Chu DKW, Shiu EYC, Chan KH, McDevitt MJ, Hau BJP, Yen HL, Li Y, Ip DKM, Peiris JSM, Seto WH, Leung GM, Milton DK, Cowling MJ. Respiratory virus shedding in exhaled breath and efficacy of face masks. Nat Med. 2020;26(5):676-680. DOI: 10.1038/s41591-020-0843-2 Externer Link
4.
Rogers EM. Diffusion of innovation. 5th edition. New York: Free Press; 2003.
5.
van der Keylen P, Lippert, Kunisch R, Kühlein T, Roos M. Asynchronous digital teaching in times of COVID-19: a teaching example from general practice. GMS J Med Educ. 2020;37(7):Doc98. DOI: 10.3205/zma001391 Externer Link
6.
de Jong PG, Pickering JD, Hendriks RA, Swinnerton BJ, Goshtasbpour F, Reinders ME. Twelve tips for integrating massive open online course content into classroom teaching. Med Teach. 2020;42(4):393-397. DOI: 10.1080/0142159X.2019.1571569 Externer Link
7.
Tolks D, Kuhn S, Kaap-Fröhlich S. Teaching in times of COVID-19. Challenges and opportunities for digital teaching. GMS J Med Educ. 2020;37(7):Doc103. DOI: 10.3205/zma001396 Externer Link
8.
Cooke J. Thinking out of the box. Am J Health Syst Pharm. 2000;57(18):1711. DOI: 10.1093/ajhp/57.18.1711a Externer Link
9.
Wolniczak E, Roskoden T, Rothkötter HJ, Storsberg SD. Course of macroscopic anatomy in Magedburg under pandemic conditions. GMS J Med Educ. 2020;37(7):Doc65. DOI: 10.3205/zma001358 Externer Link
10.
Bormuth S, Ackermann H, Schulze J. Inadequate treatment in interships: a comparison between medical and other students. GMS J Med Educ. 2021;38(2):Doc45. DOI: 10.3205/001441 Externer Link
11.
Ziegler S, Wahedi K, Stiller M, Jahn R, Straßner C, Schwill S, Bozorgmehr K. Health and medical care for refugees: design and evaluation of a multidisciplinary clinical elective for medical students. GMS J Med Educ. 2021;38(2):Doc39. DOI: 10.3205/001435 Externer Link
12.
Schlegel C, Geering A, Weber U. Learning in virtual space: An intergenerational pilot project. GMS J Med Educ. 2021;38(2):Doc37. DOI: 10.3205/zma001433 Externer Link
13.
Röcker N, Lottspeich C, Braun LT, Lenzer B, Frey J, Fischer MR, Schmidmaier R. Implementation of self-directed learning within clinical clerkships. GMS J Med Educ. 2021;38(2):Doc43. DOI: 10.3205/zma001439 Externer Link
14.
Demmer I, Borgmann S, Kleinert E, Lohne A, Hummers E, Schlegelmilch F. medPJplus - development and implementation of a concept for the acquisition and qualification of teaching practices for the final year in family medicine at the University Medical Center Göttingen. GMS J Med Educ. 2021;38(2):Doc38. DOI: 10.3205/zma001434 Externer Link