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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Ethik mit Abstand – Tipps und Tools zum digitalen Training ethischer Kompetenzen

Kurzbeitrag Ethik

  • corresponding author Susanne Michl - Charité – Universitätsmedizin BerlinInstitut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Berlin, Deutschland
  • author Johannes Katsarov - Universität Zürich, Ethik-Zentrum, Zürich, Schweiz
  • author Henriette Krug - Medical School Hamburg, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Hamburg, Deutschland
  • author Annette Rogge - Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, Medizinethik, Institut für Experimentelle Medizin, Kiel, Deutschland
  • author Tobias Eichinger - Universität Zürich, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Zürich, Schweiz

GMS J Med Educ 2021;38(1):Doc28

doi: 10.3205/zma001424, urn:nbn:de:0183-zma0014240

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2021-38/zma001424.shtml

Eingereicht: 31. Juli 2020
Überarbeitet: 20. Oktober 2020
Angenommen: 24. November 2020
Veröffentlicht: 28. Januar 2021

© 2021 Michl et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Ethik-Lehre in Medizin, Pflege und anderen Gesundheitsberufen besteht nicht allein aus Wissensvermittlung, die digital gut umzusetzen ist. Im Mittelpunkt stehen vielmehr spezifische ethische Fertigkeiten (etwa Argumentieren und Artikulieren der eigenen moralischen Position) und Haltungen (etwa empathische Patientenorientierung, kritische Selbstreflexion und Ambiguitätstoleranz), für deren Entwicklung interaktive Formate besser geeignet sind. Kompetenzorientierte ethische Lernziele sind für die Entwicklung des professionellen Rollen- und Selbstverständnisses wichtig, erfordern jedoch Zeit, Raum und vor allem den persönlichen Austausch. Durch die Kontaktbeschränkungen und den flächendeckenden Ausfall von (Präsenz-)Lehrveranstaltungen im Zuge der Corona-Pandemie war die Ethik-Lehre vielerorts gezwungen, auf Abstand zu gehen, was große Herausforderungen mit sich brachte. Der Beitrag basiert auf einem Erfahrungsaustausch von Mitgliedern der Arbeitsgruppe ethik learning der Fachgesellschaft Akademie für Ethik in der Medizin über Ethik-Lehre in Zeiten von physical distancing. Es werden Empfehlungen gegeben, wie ethische Kompetenzvermittlung im Rahmen ausschließlich digital stattfindender Lehre gelingen kann. Ausgehend davon, was bei digitalem Unterricht verloren zu gehen droht, werden die Potenziale digitaler Formate ausgelotet und mit konkreten Praxisbeispielen illustriert. Über die Ethik-Lehre hinaus möchte der Beitrag auch Ideen und Anregungen für andere Fach- und Querschnittsbereiche geben, bei denen interaktive Formate zentral sind.

Schlüsselwörter: Medizinethik, Ethik-Didaktik, Blended Learning, Interaktivität


Einleitung

Ethik-Lehre erfordert mehr als die Vermittlung normativer Theorie. Urteilsvermögen, Argumentationsfähigkeit, Ambiguitätstoleranz, das Reflektieren der eigenen Wertvorstellungen und Emotionen formen die professionelle Identität, benötigen jedoch Zeit, Kontinuität und Raum, um sich zu entwickeln. Meta-Analysen zeigen, dass dafür interaktiver Diskurs unverzichtbar ist [1]. Digitale Lehrformate sind zwar für die Vermittlung theoretischen Wissens besonders gut geeignet [2], scheitern jedoch häufig an der Vermittlung handlungsbezogener Kompetenzen und professioneller Haltungen, die in hohem Maße auf der Reflexion von Erfahrungen, Handlungen und Feedback aufbauen [3], [4]. Die Vielzahl an Lern- und Kompetenzzielen in der Ethik-Lehre legt einen Blended-Learning-Ansatz nahe, bei dem interaktiver Präsenzunterricht mit digitalen Möglichkeiten zum Selbststudium sinnvoll kombiniert wird.


Methodik

Der Beitrag präsentiert Tipps und Tools zum Training ethischer Kompetenzen im digitalen Lehr-Setting, die per Videokonferenz von 13 Mitgliedern der Arbeitsgruppe ethik learning der Fachgesellschaft Akademie für Ethik in der Medizin im Juli 2020 gesammelt und diskutiert wurden.


Ergebnisse: Tipps und Tools

Findet Lehre ausschließlich digital statt, reduziert dies die Spontanität und Agilität gruppendynamischer Prozesse, ebenso das Engagement der Lernenden, ihre persönlichen Wertvorstellungen zu vertreten. Individuelle und kontextspezifische Artikulations- und Feedbackformen drohen verloren zu gehen. Die sozial erfahrene Emotionalität und Lebendigkeit in einer Lerngemeinschaft werden dadurch insgesamt vermindert. Zudem erscheint es in digitalen Unterrichtsformaten schwieriger, Lernprozesse direkt zu steuern.

Wie aber kann interaktive Vermittlung und das Training ethischer Kompetenz gelingen, wenn kein Präsenzunterricht mehr stattfindet?

Um das Potenzial digitaler Tools bestmöglich auszuschöpfen, sollten verschiedene Formate so kombiniert werden, dass sowohl synchrone als auch asynchrone Kommunikation und Interaktion in der Lerngruppe ermöglicht werden. Da in einem ausschließlich digitalen Setting zwangsläufig ein größerer Fokus auf dem Selbststudium liegt und gruppendynamische Prozesse eingeschränkter verlaufen, ist es umso wichtiger, in allen Phasen des Lernprozesses die einzelnen Lernenden gezielt und abwechslungsreich zu aktivieren. Durch eine bloße Umstellung auf eingelesene Vorlesungen mit frontal präsentierten Inhalten ist eine Aktivierung der Lernenden allerdings kaum möglich. Um Lernprozesse im Digitalen entsprechend zu gestalten, existieren mittlerweile erprobte Bausteine, die erfahrungsbasiertes Ethik-Lernen ermöglichen:

Spielbasiertes Lernen

Das Serious Moral Game „uMed: Your Choice“ [5]: Studierende werden in diesem Medizinethik-Videospiel, einem digitalen Rollenspiel, aus der Perspektive einer/s angehenden Assistenzärztin/arztes mit schwierigen klinisch-ethischen Fällen konfrontiert. Der zentrale Spielmechanismus besteht in verschiedenen Dialogoptionen, die in Kommunikationssituationen mit Patient:innen, Vorgesetzten, Kolleg:innen, Pflegefachpersonen oder Angehörigen zur Verfügung stehen, die den Verlauf der Handlung bestimmen und deren Wahl teils schwer absehbare Folgen hat. Wesentlich für den erfolgreichen Einsatz des Spiels in der Lehre ist die Einbettung und Reflexion der Spielerfahrung und der darin verhandelten ethischen Themen in synchronen Gruppeneinheiten unter Leitung von Lehrpersonen im Rahmen eines Blended-Learning-Settings.

Simulationsbasiertes Lernen

Um Perspektivwechsel einzuüben, wird im Ethik-Unterricht vielerorts auf interaktive Rollenspiele zurückgegriffen, welche nur mit Einschränkungen in das digitale Format zu übertragen sind. Das Tool „Entscheiden und Handeln am Krankenbett“ [6] im Blended-Learning-Format bietet eine Online-Plattform, auf der Studierende anhand von gefilmten Videosequenzen mit einer klinisch-ethischen Dilemma-Situation konfrontiert werden und eine schwierige Entscheidung treffen, kommunizieren und umsetzen müssen.

Schreibendes Lernen

Im digitalen Austausch kommt der schriftlichen Ausdrucksform, die in der Präsenzlehre und im Medizinstudium oftmals ein Schattendasein führt, wieder mehr Gewicht zu. Durch das Schreiben, Rezipieren, Teilen, Zusammenführen und Kommentieren kurzer und längerer Texte wird die Fähigkeit zu Abstraktion, Artikulation und Argumentation eingeübt, die für den moralischen Diskurs unverzichtbar ist. Im Gegensatz zum unmittelbaren mündlichen Austausch bieten schriftliche Ausdrucksformen Zeit zur Reflexion, sie können geteilt und kommentiert werden, zirkulieren, und stellen im Laufe des Semesters ein Bindeglied zwischen Selbststudium und Gruppen-Online-Phasen dar. Hier bieten sich durch die technischen Möglichkeiten auch Verfahren des kollaborativen Schreibens an, was eine inhaltlich fokussierte Form von Interaktion ermöglicht.

Diskursives Lernen im Forum

Ein Forum zu bestimmten Themenbereichen kann Studierende zur Reflexion und Diskussion anregen, wobei die Kommunikation sowohl synchron als auch asynchron ablaufen kann. In einem lebhaften Forumsaustausch können gruppendynamische Prozesse und ein Gemeinschaftserlebnis entstehen. Durch Forumsbeiträge erhalten Lehrende Einblicke in den Lernfortschritt sowie Interessens- und Konfliktschwerpunkte der Studierenden, auf die in gemeinsamen Online-Meetings vertiefend eingegangen werden kann.

Gemeinschaftliches digitales Lernen

Um Spontanität und Agilität auch in synchronen Online-Vorlesungen zu ermöglichen, bieten sich Chat-Funktionen und Umfragetools zum Abfragen erster moralischer Intuitionen an. Breakout-Rooms ermöglichen die Arbeit in Kleingruppen, beispielsweise die Analyse eines ethischen Falls mit anschließender Kommentierung durch eine andere Kleingruppe im Rotationssystem oder im Plenum. Hierdurch können Räume geboten werden, in denen Gemeinschaft erlebt wird und in denen die Studierenden animiert werden, eigene Wertvorstellungen zu vertreten und zu begründen.


Diskussion und Schluss: Lernprozesse begleiten

Kann Ethik mit Abstand gelingen? Das Training ethischer Kompetenzen lebt vom direkten Austausch, vom Aufeinandertreffen unterschiedlicher moralischer Positionen und nicht zuletzt von Irritation als Ausgangspunkt moralischer Reflexion. Eine rein digitale Ethik-Lehre kann Lerneffekte in Präsenzformaten nicht vollständig ersetzen. Spontanität, Überraschungsmomente und sozial erlebte Emotionalität gehen, wie die bisherigen Erfahrungen gezeigt haben, teilweise verloren und lassen sich nicht umstandslos in den digitalen Gruppenraum übertragen. Die Aufgabe der Ethik-Dozierenden als Prozessbegleitende besteht vor diesem Hintergrund vor allem darin, Interaktion und Gruppendynamik in der Verschränkung von asynchronen und synchronen Bausteinen aktiv zu initiieren und geplant zu steuern. Dabei bieten sich digitale Möglichkeiten von spiel- und simulationsbasiertem Lernen, von Online-Chats und -Foren ebenso an wie der für Geisteswissenschaften klassische Fokus auf schriftliche Artikulationen moralischer Positionen – ob auf Papier oder Bildschirm.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Todd EM, Torrence BS, Watts LL, Mulhearn TJ, Connelly S, Mumford MD. Effective Practices in the Delivery of Research Ethics Education: A Qualitative Review of Instructional Methods. Account Res. 2017;24(5):297-321. DOI: 10.1080/08989621.2017.1301210 Externer Link
2.
Todd EM, Watts LL, Mulhearn TJ, Torrence BS, Turner MR, Connelly S, Mumford MD. A Meta-analytic Comparison of Face-to-Face and Online Delivery in Ethics Instruction: The Case for a Hybrid Approach. Sci Eng Ethics. 2017;23(3):883-912. DOI: 10.1007/s11948-017-9869-3 Externer Link
3.
Martens JU. Verhalten und Einstellungen ändern. 4. Aufl. Hamburg: Windmühle; 1998.
4.
Mulhearn TJ, Watts LL, Torrence BS, Todd EM, Turner MR, Connelly S, Mumford MD. Cross-Field Comparison of Ethics Education: Golden Rules and Particulars. Account Res. 2017;24(4):211-224. DOI: 10.1080/08989621.2016.1274974 Externer Link
5.
Katsarov J, Biller-Andorno N, Eichinger T, Schmocker D, Christen M. uMed: Your Choice - Conception of a Digital Game to Enhance Medical Ethics Training. In: Groen M, Kiel N, Tillmann A, Weßel A, editors. Games und Ethics. Digitale Kultur und Kommunikationl. Vol. 7. Wiesbaden: Springer VS; 2020. p.197-212. DOI: 10.1007/978-3-658-28175-5_13 Externer Link
6.
Michl S, Kuhn S, Schulz S. Entscheiden und Handeln am Krankenbett - Vermittlung klinisch-ethischer Kompetenzen mittels Blended Learning-Formaten. Mainz: Universität Mainz; 2018. Zugänglich unter/available from: https://www.glk.uni-mainz.de/files/2018/08/Kurzbeschreibung_Michl.pdf Externer Link