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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

E-Learning im studentischen Peer Teaching zur Patientenbeziehung und -kommunikation der Anamnesegruppen München – Proof of Concept und Erfahrungsbericht

Kurzbeitrag Peer Teaching

  • corresponding author Raphael Kunisch - Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Allgemeinmedizinisches Institut, Universitätsklinikum Erlangen, Erlangen, Deutschland
  • author Peter Zimmermann - Technische Universität München, Fakultät für Medizin, München, Deutschland
  • author Natalie Berges - Ludwig-Maximilians-Universität München, Medizinische Fakultät, München, Deutschland
  • author Malte Nitzschke - Ludwig-Maximilians-Universität München, Medizinische Fakultät, München, Deutschland
  • author Felix Schweiger - Ludwig-Maximilians-Universität München, Medizinische Fakultät, München, Deutschland
  • author Mira Seidl - Ludwig-Maximilians-Universität München, Psychologische Fakultät, München, Deutschland
  • author Marc Weidenbusch - Ludwig-Maximilians-Universität München, Nephrologisches Zentrum, Medizinische Klinik und Poliklinik IV, Klinikum der LMU München, München, Deutschland

GMS J Med Educ 2021;38(1):Doc4

doi: 10.3205/zma001400, urn:nbn:de:0183-zma0014006

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2021-38/zma001400.shtml

Eingereicht: 31. Juli 2020
Überarbeitet: 18. Oktober 2020
Angenommen: 24. November 2020
Veröffentlicht: 28. Januar 2021

© 2021 Kunisch et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Durch das Verbot von Präsenzunterricht im Rahmen der Pandemie mussten die Münchner Anamnesegruppen kurzfristig auf E-Learning umgestellt werden. Hierfür lagen keine etablierten Konzepte vor, weshalb eine Digitalisierung pilotiert und auf Machbarkeit evaluiert wurde.

Studentische Anamnesegruppen: Anamnesegruppen existieren seit über 50 Jahren und werden in eigenständigem studentischen Peer Teaching durchgeführt. In Kleingruppen aus Medizin- und Psychologiestudierenden werden einmal wöchentlich während des Semesters Gespräche mit PatientInnen durchgeführt. Hierauf folgen eine Feedback- sowie Diskussionsrunde, in der neben der Krankengeschichte auch ethische und professionelle Fragen erörtert werden. Ziel ist es die Kommunikations- und Reflexionsfähigkeit der Teilnehmenden zu schulen.

Adaptation auf digitale Methoden: Die Anamneseseminare wurden in einen virtuellen Gruppenraum mittels Videochat verlagert. PatientInnen wurden überwiegend aus dem Bekanntenkreis der Teilnehmenden rekrutiert. Die Gruppengröße wurde auf jeweils acht Personen in vier Gruppen festgelegt und durch ein Paar von studentischen TutorInnen betreut. Schweigepflichts- und Datenschutzerklärungen wurden schriftlich eingeholt.

Ergebnisse: Durch die Umstellung auf digitale Anamnesegruppen konnten alle vier Gruppen erfolgreich durchgeführt werden. Sowohl in der Abschlusssupervision der TutorInnen als auch in der elektronischen Evaluation der Teilnehmenden wurde die Veranstaltung positiv bewertet. Im Vergleich zu den zwei vorausgegangenen Evaluationen der Semester in Präsenzveranstaltung zeigten sich keine signifikanten Unterschiede in der Bewertung.

Diskussion: Die unverändert guten Evaluationsergebnisse, welche sich in der digitalen Durchführung nicht von der Präsenzveranstaltung der letzten Semester unterschieden, zeigen, dass eine ad-hoc Umstellung auf digitale Lehre möglich ist. Dabei scheint uns insbesondere interessant, dass auch Elemente zur Reflektion der Arzt-Patient-Beziehung erfolgreich erhalten werden konnten. Für die ähnlich konzipierten Balintgruppen lässt sich möglicherweise auch eine elektronische Durchführung andenken. Weitere, insbesondere prospektive, Forschung ist wünschenswert, um die Möglichkeiten der digitalen Lehre in diesem Bereich besser kennen zu lernen.

Schlüsselwörter: Anamnesegruppen, digitale Lehre, E-Learning, Beziehungsmedizin, Anamnese, ärztliche Gesprächsführung, studentische Lehre, Peer-Teaching, Corona, COVID-19


Hintergrund

Aufgrund der SARS-CoV-2-Pandemie wurde Präsenzunterricht an bayerischen Hochschulen durch die Staatsregierung untersagt [https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayIfSMV_7]. Die TutorInnen (TUT) des eigenständigen studentischen Peer Teaching Projekts „Anamnesegruppen“ beschlossen daher, die Veranstaltung im Sommersemester 2020 digitalisiert durchzuführen.


Studentische Anamnesegruppen (ANAG)

ANAGs gehen auf Wolfram Schüffel zurück, der 1969 in Ulm mit Thure von Uexküll zusammenarbeitete. Seit 1976 wurden die ANAGs als studentisches Peer Teaching durchgeführt und verbreiteten sich innerhalb der nächsten Dekade durch studentische Initiative flächendeckend in Deutschland und Österreich. Schätzungen zufolge durchlaufen etwa 5% der Medizinstudierenden in Deutschland die größtenteils freiwillige Veranstaltung. ANAGs werden dabei meist interprofessionell durch Medizin- und Psychologiestudierende ausgerichtet [1].

Inhalt des Seminars sind das namensgebende Gespräch, sowie die hierbei entstehende Beziehung und deren ethische und professionelle Aspekte; ähnlich wie in den Balint-Gruppen, welche der Reflektion der Arzt-Patienten-Beziehung dienen und in Deutschland seit über 40 Jahren einen Pflichtbestandteil mehrerer Facharztweiterbildungen darstellen [2]. Ziel ist es, den später im Beruf so entscheidenden PatientInnen-Kontakt bereits im Studium zu erlernen und zu verbessern. Ein bio-psycho-soziales Verständnis von Krankheit und ein ganzheitliches Menschenbild stehen im Vordergrund. Charakteristisch sind im Gegensatz zur faktischen Vermittlung von Wissen das prozessorientierte Lernen in der Peergroup und das emotionale Erleben von Kommunikation [3]. Neben dem Gespräch existieren strukturgebende Elemente, welche die Gruppendynamik positiv beeinflussen sollen. Die vorgegebene Rahmenstruktur der ANAGs ist in Abbildung 1 [Abb. 1] dargestellt. ANAGs werden in München als Pflichtwahlfach angeboten, können aber auch extracurricular belegt werden. Eine ANAG besteht aus jeweils zehn Teilnehmenden und zwei, in Bezug auf Studienfach, Geschlecht und Erfahrung möglichst heterogenen, studentischen TUT. Die verantwortlichen TUT werden durch ausgebildete ÄrztInnen und PsychologInnen supervidiert. Während des Semesters finden einmal wöchentlich, am gleichen Wochentag zur gleichen Uhrzeit, abendliche Treffen von etwa 2,5 Stunden Dauer (3 Semesterwochenstunden) in Räumen von wechselnden Fachabteilungen der Münchener Universitätsklinika statt (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]).

Exemplarische Darstellung der strukturellen Elemente eines Termins der ANAG.

Voraussetzung für die Teilnahme ist regelhafte Anwesenheit und Beteiligung bei maximal zwei Fehlterminen – auch für nicht am Wahlfach Teilnehmende. Die TUT gewährleisten die Einhaltung dieser Regeln. Wahlfach-Teilnehmende, müssen einen Reflexionsbericht verfassen, der gemeinsam mit ihrer Beteiligung durch die TUT summativ bewertet wird (siehe Anhang 1 [Anh. 1]). Weitere Informationen zum Aufbau und Ablauf der ANAGs findet sich in einer separaten Publikation [3].

Schematische Darstellung des Semesterverlaufs der ANAG sowohl für das Präsenz- als auch digitale Format.


Digitalisierung

Um trotz der Einschränkungen die ANAGs durchzuführen, beschloss das Team gemeinsam die Umstellung auf digitalisierte Anamnesegruppen (dANAGs). Bei der Auswahl der Plattform wurde die Wahrung der Vertraulichkeit priorisiert und somit die end-zu-end verschlüsselte Videokonferenz-Software „Cisco Webex“ gewählt. Die TUT und Teilnehmenden befanden sich während der Dauer der dANAG zeitgleich im virtuellen Webkonferenzraum. Die Termine wurden hinsichtlich Dauer, Umfang und Uhrzeit gegenüber dem Präsenzformat unverändert belassen. PatientInnen wurde über einen E-Mail-Link einmalig und nur für die Dauer des Anamnesegesprächs in den Konferenzraum eingeladen. Die Gruppengröße wurde auf maximal acht Teilnehmende beschränkt. Die Studierenden wurden zusätzlich mit ihrer Teilnahme dazu verpflichtet, eine/n PatientIn zu rekrutieren und erhielten eine Guideline (siehe Anhang 2 [Anh. 2]). Mit Unterstützung einiger ÄrztInnen und PsychologInnen wurde zudem ein Reservepool an PatientInnen aufgebaut. Es waren insgesamt acht TUT an der Betreuung der dANAGs involviert, von denen Zwei das Onlineformat konzipiert. Zudem waren ein Supervisor und 25 unterschiedliche PatientInnen beteiligt.

Alle teilnehmenden Studierenden unterzeichneten eine Schweigepflichtserklärung. Partizipierende PatientInnen erhielten eine Einwilligungs- und Datenschutzerklärung, welche zudem als ausführliche schriftliche Aufklärung diente und an das Tutorenteam zurückgeschickt wurde.


Ergebnisse

29 Studierende meldeten sich an und wurden auf vier dANAGs verteilt. Bis auf kurze Unterbrechungen der Übertragung traten keine Störungen auf und alle dANAGs konnten stattfinden. Am Ende des Semesters erfolgte eine Abschluss-Evaluation (Rücklaufquote 69%). Die Evaluation wurde in den sieben vorausgehenden Semestern seit Beginn der Akkreditierung der ANAGs als Wahlpflichtfach der medizinischen Fakultät zunächst in Papierform und seit dem vorherigen Semester bei identischem Inhalt mittels [https://www.soscisurvey.de/] elektronisch durchgeführt. Die Veranstaltung wurde in allen dANAGs als erfolgreich beschrieben. Die Reflektion der Arzt-Patienten-Beziehung, wie auch ethischer Fragen, wurde durch die erfahrenen TUT als mit der der Präsenzlehre vergleichbar erlebt. Hierfür spricht auch, dass der Vergleich der Abschlussevaluationen der dANAGs und ANAGs des Vorsemesters keine Unterschiede zeigt (siehe Anhang 3 [Anh. 3]). Die Freitextantworten der Teilnehmenden zur ANAG und dANAG decken inhaltlich die gleichen Kategorien ab (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]), wobei Feedback und Gruppendiskussion am häufigsten als nützlichste Bestandteile aufgeführt werden.

Die Benotung der Wahlfachteilnehmenden unterschied sich nicht zwischen dem Präsenz- und Digitalformat, jedoch zeigte sich eine Verdoppelung der Teilnehmendenzahl, welche die ANAGs als Wahlpflichtfach belegten (siehe Abbildung 3 [Abb. 3]).

Notenverteilung im Vergleich sowie absolute Anzahl von Teilnehmenden mit Benotung im Rahmen des Wahlpflichtfachs.

Am Ende des Semesters wurde durch die TUT hervorgehoben, dass die Gespräche sich auf verbaler, als auch auf non-verbaler Ebene vergleichbar zur Präsenz gezeigt hätten. Durch den intimeren Rahmen der häuslichen Umgebung, habe sogar teilweise größere Offenheit geherrscht. Strukturelemente der ANAGs ließen sich ins Digitale übertragen und wurden als Faktoren zur gelungenen Reflektion und Gruppendynamik genannt (Kennenlern-Spiele, Feedback, Blitzlichtabfrage sowie Diskussion) (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).


Diskussion

Nach Auswertung der Evaluation wurden die dANAG gut angenommen. Die Verdoppelung der Teilnehmendenzahl, welche diese als Pflichtwahlfach belegten, werten wir als Hinweis, dass durch die Reduktion der Präsenzlehre ein größerer Bedarf an digitalen Pflichtwahlfächern bestand. Wichtig ist, dass auch dANAGs durch erfahrene TUT begleitet werden, welche gezielt die Gruppendynamik reflektieren und die dANAGs strukturieren. Die Digitalisierung ist auf andere Standorte übertragbar an denen bereits ANAGs etabliert sind, da das Grundprinzip überregional ähnlich aufgebaut ist und meist unabhängig vom lokalen Universitätscurriculum besteht. Auch die ähnlich strukturierten Balintgruppen [2] könnten unter Umständen digitalisiert werden, wenn Präsenz aufgrund von Kontaktbeschränkungen, aber auch großer räumlicher Distanz nicht möglich ist. Eine randomisierte und kontrollierte Untersuchung der Effekte von dANAGs könnte hier den nächsten Schritt darstellen.


Danksagung

Die AutorInnen danken den studentischen TutorInnen, sowie studentischen Teilnehmenden für ihre Unterstützung bei dieser Arbeit.


Autorenschaft

RK und PZ teilen sich die Erstautorenschaft und waren verantwortlich für die Manuskripterstellung, Erhebung und Auswertung der Daten. NB und MN waren beteiligt an der Entwicklung des Manuskripts. FS und MS haben die Evaluation entwickelt und durchgeführt. FS und MW revidierten und überarbeiteten das Manuskript und waren an der Datenauswertung beteiligt.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Schüffel W. Abschied von Marburg. Ein-, Ausblicke mit Visionen eines "Anamnesegruppenvaters". Z Patientenorien Medizinerausbild. 1999;16:17-24.
2.
Samuel O. How doctors learn in a Balint group. Fam Pract. 1989;6(2):108-113. DOI: 10.1093/fampra/6.2.108 Externer Link
3.
Köllner V, Foltin Y, Speidel V, Müller A, Jäger J. Anamnesegruppen als Einstieg in die Gesprächsführung und Arzt-Patient-Beziehung. Med Welt. 2016;67:9-13.
4.
Rosenberg MB, Chopra D. Nonviolent communication: A language of life: Life-changing tools for healthy relationships. Encinitas, CA: PuddleDancer Press; 2015.