gms | German Medical Science

GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Umstrukturierung des klinischen Abschnitts des Medizinstudiums an der Universitätsmedizin Göttingen: Auswirkungen digital-gestützter Lehre auf Zufriedenheit und Lernerfolg der Studierenden

Kurzbeitrag Inverted Classroom

  • Theresa Seifert - Universitätsmedizin Göttingen, Bereich Medizindidaktik und Ausbildungsforschung, Göttingen, Deutschland
  • corresponding author Tim Becker - Universitätsmedizin Göttingen, Bereich Medizindidaktik und Ausbildungsforschung, Göttingen, Deutschland
  • Amelie Friederike Büttcher - Universitätsmedizin Göttingen, Bereich Medizindidaktik und Ausbildungsforschung, Göttingen, Deutschland
  • Nadine Herwig - Universitätsmedizin Göttingen, Bereich Medizindidaktik und Ausbildungsforschung, Göttingen, Deutschland
  • Tobias Raupach - Universitätsmedizin Göttingen, Bereich Medizindidaktik und Ausbildungsforschung, Göttingen, Deutschland; Universitätsmedizin Göttingen, Klinik für Kardiologie und Pneumologie, Göttingen, Deutschland

GMS J Med Educ 2021;38(1):Doc1

doi: 10.3205/zma001397, urn:nbn:de:0183-zma0013979

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2021-38/zma001397.shtml

Eingereicht: 31. Juli 2020
Überarbeitet: 16. Oktober 2020
Angenommen: 24. November 2020
Veröffentlicht: 28. Januar 2021

© 2021 Seifert et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Einleitung: Aufgrund der Kontaktbeschränkungen während der COVID-19-Pandemie musste die Lehre an der Universitätsmedizin Göttingen im Sommersemester 2020 auf vorwiegend digital-gestützte Formate umgestellt werden. Im vorliegenden Beitrag wird untersucht, inwieweit sich die Umstrukturierung des klinischen Curriculums auf den Lernerfolg der Medizinstudierenden auswirkt.

Methoden: Im Zuge der Umstrukturierung wurde in jeder Semesterkohorte ein 9-wöchiger Theorieblock gebildet, in dem die Lehrinhalte digitalisiert und mithilfe des Inverted-Classroom-Ansatzes vermittelt wurden. Hierauf folgte ein 4-wöchiger Praxisblock, in dem Unterricht in Präsenz mit realen und virtuellen Patient*innen stattfand. In der Evaluation wurden in allen 21 Modulen des klinischen Studienabschnitts verschiedene Daten erfasst: Neben der Zufriedenheit der Studierenden mit der digitalen Lehre wurde der studentische Lernerfolg einerseits anhand vergleichender Selbsteinschätzungen (VSE) und andererseits über Ergebnisse der Modulklausuren erhoben. Die Daten des digitalen Semesters (DS) wurden mit den entsprechenden Daten aus dem vorangegangenen Präsenzsemester (PS) verglichen und auf Unterschiede und Korrelationen geprüft.

Ergebnisse: Der Rücklauf der Evaluationen betrug im PS 51,3% und im DS 19,3%. Zwischen den gemittelten Klausurleistungen im PS und DS gab es keinen signifikanten Unterschied. Allerdings nahm der VSE-Lernerfolg im DS signifikant ab (p=0,047). Eine weiterführende Analyse zeigte, dass der VSE-Lernerfolg im DS umso geringer eingeschätzt wurde, je mehr Zeit zwischen Modulende und Evaluation lag. Der VSE-Lernerfolg korrelierte mit der studentischen Zufriedenheit mit verschiedenen Aspekten der digitalen Lehre, insbesondere der Kommunikation zwischen Lehrenden und Studierenden (rho=0,674; p=0,002).

Diskussion und Schlussfolgerungen: Unter Berücksichtigung verschiedener Limitationen und Störfaktoren – wie z.B. Evaluationsrücklaufquoten, Evaluationszeitpunkte, Anteil von Altfragen in den Modulklausuren – lassen sich folgende Empfehlungen ableiten:

1.
Eine valide Messung des Lernerfolgs über Klausurergebnisse setzt voraus, dass möglichst wenige bereits bekannte Fragen verwendet werden.
2.
Der VSE-Lernerfolg kann als valide angesehen werden, wenn die Evaluationszeitpunkte standardisiert sind und Überlappungen mit anderen Lernaktivitäten vermieden werden.
3.
Im Sinne studentischer Zufriedenheit mit digitaler Lehre sollte insbesondere auf eine gute Kommunikation zwischen Studierenden und Lehrenden geachtet werden.

Schlüsselwörter: Digitalisierung, Medizinstudium, Lernerfolg, Evaluation, E-Learning


Einleitung

An der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) ist der klinische Abschnitt des Medizinstudiums modular organisiert: Die 21 interdisziplinären Module erstrecken sich jeweils über einen Zeitraum von 2 bis 7 Wochen und beinhalten sowohl theoretischen als auch praktischen Unterricht. Aufgrund der Kontaktbeschränkungen während der COVID-19-Pandemie musste die Lehre an der UMG im Sommersemester 2020 umstrukturiert und auf vorwiegend digital-gestützte Formate umgestellt werden.

Im vorliegenden Beitrag wird zunächst die Umstrukturierung des klinischen Curriculums dargestellt und anschließend untersucht, inwieweit sich diese Umstrukturierung auf den Lernerfolg der Studierenden auswirkt und durch welche Faktoren evtl. beobachtbare Auswirkungen erklärt werden können.


Methoden

Im Zuge der Umstrukturierung des Curriculums wurde eine zeitliche Trennung von theoretischem und praktischem Unterricht vorgenommen. Dabei wurden Lehrformate, die der Vermittlung theoretischen Wissens dienen (z.B. Vorlesungen, Seminare), in digitale Formate umgewandelt und in einem 9-wöchigen Block zu Beginn des Semesters durchgeführt (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Die digitalisierte Wissensvermittlung wurde innerhalb der Module nach dem Inverted-Classroom-Ansatz gestaltet; die lernpsychologische Fundierung dieses Ansatzes wurde andernorts beschrieben [1], [2]. Studierende erarbeiteten sich die wesentlichen Lehrinhalte mithilfe fokussierter Videos selbst und vertieften sie anschließend anhand fallbasierter Aufgaben. Anders als beim klassischen Inverted Classroom erfolgte die Elaboration nicht in Präsenz, sondern indem die Studierenden ihre Lösungen der Aufgaben bei den Lehrenden einreichten und individuelles Feedback per E-Mail erhielten. Neben diesen asynchronen Formaten wurden auch synchrone Videokonferenzen angeboten, um den Studierenden eine Echtzeit-Interaktion mit den Lehrenden zu ermöglichen.

Im Anschluss an den 9-wöchigen Theorieblock folgte ein 4-wöchiger modulübergreifender Praxisblock (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]), der in Präsenz – jedoch angepasst an die geltenden Kontaktbeschränkungen – stattfand. Dabei wurden praktische Lehrformate (wie Unterricht am Krankenbett) sowohl mit realen als auch mit virtuellen Patient*innen [3], z.B. in der Notaufnahme-Simulation EMERGE [4], durchgeführt.

Im Rahmen der Evaluation der Lehre im Sommersemester 2020 wurden in allen 21 Modulen des klinischen Studienabschnitts verschiedene Daten gesammelt und aggregiert: Die Zufriedenheit der Studierenden mit einzelnen Aspekten der digitalen Lehre wurde in fünf Items auf sechsstufigen Skalen erfragt. Der Lernerfolg der Studierenden wurde einerseits aus den Ergebnissen der schriftlichen Modulklausuren abgeleitet und andererseits aus vergleichenden Selbsteinschätzungen (VSE) [5] ermittelt. Aufgrund der Kurzfristigkeit der Datenerhebung fand die Evaluation nur bei einigen Modulen direkt zu Modulende statt; bei anderen lagen zwischen dem Ende der Veranstaltungen und der Evaluation mehrere Wochen.

Die Lernerfolgsdaten des Sommersemesters 2020 (digitales Semester) wurden mit den entsprechenden Daten aus dem Wintersemester 2019/20 (Präsenzsemester) verglichen und mithilfe des Mann-Whitney-U-Tests auf Unterschiede geprüft. Darüber hinaus wurde für verschiedene Korrelationsanalysen jeweils die Rangkorrelation nach Spearman berechnet. Alle inferenzstatistischen Tests wurden mit SPSS Statistics 26 durchgeführt.


Ergebnisse

Im digitalen Semester (DS) waren insgesamt 928 Studierende in sechs Kohorten in den Modulen des klinischen Studienabschnitts angemeldet. Der mediane Rücklauf der Evaluationen betrug 19,3%; im vorangegangenen Präsenzsemester (PS) hatte der Rücklauf 51,3% betragen.

Zwischen den gemittelten Klausurleistungen im PS und DS gab es keinen signifikanten Unterschied. Allerdings nahm der über 304 spezifische Lernziele gemittelte VSE-Lernerfolg im DS signifikant ab (p=0,047). Eine nach kognitiven und praktischen Aspekten getrennte Lernerfolgsanalyse ergab für die kognitiven Lernziele keinen signifikanten Unterschied (MdnPS=65,0%, IQR 10,8% vs. MdnDS=59,1%, IQR 11,2%, p=0,328), für die praktischen Lernziele jedoch ein signifikant geringeres Ergebnis im DS (MdnPS=62,7%, IQR 17,6% vs. MdnDS=55,4%, IQR 19,4%, p=0,036). In einer weiterführenden Analyse zeigte sich, dass der VSE-Lernerfolg abhängig vom Evaluationszeitpunkt war: Je mehr Zeit zwischen Modulende und Evaluation verging, desto geringer fiel der VSE-Lernerfolg im DS aus (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]). Bei einheitlichem Evaluationszeitpunkt im PS hatte sich kein Unterschied gezeigt.

Der VSE-Lernerfolg korrelierte signifikant mit der studentischen Zufriedenheit mit verschiedenen Aspekten der digitalen Lehre; die stärkste Korrelation fand sich zwischen dem auf Modulebene aggregierten VSE-Lernerfolg und den Bewertungen der Aussage „Die Lehrperson/en ging/en gut auf Fragen und Anregungen ein“ (rho=0,674; p=0,002).


Diskussion und Schlussfolgerungen

Das Ziel war es herauszufinden, inwieweit sich die Umstrukturierung des klinischen Curriculums im DS auf den Lernerfolg der Studierenden auswirkt. Beim Vergleich zwischen PS und DS zeigte sich kein signifikanter Unterschied zwischen den mittleren Klausurleistungen, jedoch fiel der VSE-Lernerfolg im DS signifikant geringer aus, insbesondere bei den praktischen Lernzielen. Das entsprach den Erwartungen, da im DS viele praktische Lehrformate ausgesetzt werden mussten.

Eine mögliche Limitation beider Parameter ist ihre Beeinflussbarkeit durch verschiedene Störfaktoren: Dass sich kein Unterschied bei den Klausurleistungen zeigte, könnte damit erklärt werden, dass die Klausurfragen im PS und DS in einigen Modulen bis zu 100% ähnlich oder identisch waren. Dieses Phänomen ist auch für die traditionelle Präsenzlehre relevant, es fiel aber erst durch die intensiven Analysen des DS auf. Somit ergeben sich aus den vorgestellten Analysen auch weiterführende Ansätze für eine Überarbeitung fakultätsinterner Prüfungen.

Der VSE-Lernerfolg variiert offenbar in Abhängigkeit vom Evaluationszeitpunkt: Je später die Evaluation nach Modulende stattfand, desto geringer wurde der Lernerfolg eingeschätzt. Dieser klare Trend war in den Daten des PS nicht zu erkennen – damals hatte die Evaluation stets direkt am Ende eines jeden Moduls stattgefunden. Ein Grund für die Abnahme des VSE-Lernerfolgs mit steigendem Abstand zur Lehre könnte im Vergessen von Inhalten liegen. Im Sinne der Vergleichbarkeit der Ergebnisse verschiedener Module sollte sichergestellt werden, dass die Evaluation in jedem Modul im gleichen zeitlichen Abstand zur Lehre erfolgt.

Letztlich wird die Interpretation des VSE-Lernerfolgs im DS auch durch die im Vergleich zum PS geringere Rücklaufquote der Evaluationen limitiert. Daher kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beurteilt werden, ob die neue Semesterstruktur auch künftig beibehalten werden sollte.

Aus den vorangegangenen Ausführungen lassen sich folgende Empfehlungen – nicht nur für die digitale Lehre – ableiten: Klausurergebnisse sind nur dann valide Indikatoren des studentischen Lernerfolgs, wenn die Klausuren nicht zu großen Teilen aus Fragen bestehen, die den Studierenden bereits bekannt sind. Der VSE-Lernerfolg spiegelt den studentischen Lernerfolg möglicherweise valide wider; allerdings ist bei der Datenerhebung auf eine Standardisierung des Zeitpunkts für alle Module und auf die Vermeidung von Überlappungen mit anderen Lernaktivitäten zu achten. Im Sinne studentischer Zufriedenheit mit digitaler Lehre sollte eine gute Kommunikation zwischen Studierenden und Lehrenden gewährleistet werden.


Autorenschaft

Theresa Seifert und Tim Becker teilen sich die Erstautorenschaft.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Raupach T, Grefe C, Brown J, Meyer K, Schuelper N, Anders S. Moving knowledge acquisition from the lecture hall to the student home: a prospective intervention study. J Med Internet Res. 2015;17(9):e223. DOI: 10.2196/jmir.3814 Externer Link
2.
Tolks D, Schäfer C, Raupach T, Kruse L, Sarikas A, Gerhardt-Szép S, Klauer G, Lemos M, Fischer MR, Eichner B, Sostmann K, Hege I. An introduction to the Inverted/Flipped Classroom model in education and advanced training in medicine and in the healthcare professions. GMS J Med Educ. 2016;33(3):Doc46. DOI: 10.3205/zma001045 Externer Link
3.
Berman NB, Durning SJ, Fischer MR, Huwendiek S, Triola MM. The role for virtual patients in the future of medical education. Acad Med. 2016;91(9):1217-1222. DOI: 10.1097/ACM.0000000000001146 Externer Link
4.
Middeke A, Anders S, Schuelper M, Raupach T, Schuelper N. Training of clinical reasoning with a Serious Game versus small-group problem-based learning: a prospective study. PLoS ONE. 2018;13(9):e0203851. DOI: 10.1371/journal.pone.0203851 Externer Link
5.
Raupach T, Münscher C, Beißbarth T, Burckhardt G, Pukrop T. Towards outcome-based programme evaluation: Using student comparative self-assessments to determine teaching effectiveness. Med Teach. 2011;33(8):e446-e453. DOI: 10.3109/0142159X.2011.586751 Externer Link