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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Reale Patienten in der digitalen Lehre: Fall-basierte Online-Trainings in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Kurzbeitrag Asynchrone digitale Lehre

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  • corresponding author Regina Taurines - Universitätsklinikum Würzburg, Zentrum für psychische Gesundheit, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Würzburg, Deutschland
  • author Franziska Radtke - Universitätsklinikum Würzburg, Zentrum für psychische Gesundheit, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Würzburg, Deutschland
  • author Marcel Romanos - Universitätsklinikum Würzburg, Zentrum für psychische Gesundheit, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Würzburg, Deutschland
  • author Sarah König - Universitätsklinikum Würzburg, Institut für Medizinische Lehre und Ausbildungsforschung, Würzburg, Deutschland

GMS J Med Educ 2020;37(7):Doc96

doi: 10.3205/zma001389, urn:nbn:de:0183-zma0013891

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2020-37/zma001389.shtml

Eingereicht: 24. Juli 2020
Überarbeitet: 22. Oktober 2020
Angenommen: 29. Oktober 2020
Veröffentlicht: 3. Dezember 2020

© 2020 Taurines et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzungen: Im Studium der Humanmedizin und besonders im Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie ist die Untersuchung junger Patienten von Angesicht zu Angesicht ein Schlüsselelement der Lehre. Mit der abrupten Einstellung der Präsenzlehre aufgrund der SARS-CoV-2-Pandemie wurde ein fallbasiertes Online-Trainingsprogramm entwickelt, in das Audio- und Videoaufnahmen von realen Patienten integriert wurden.

Methoden: Auf der Plattform CaseTrain, eingebettet in ein Blended-Learning-Konzept, bearbeiten Medizinstudierende kinderpsychiatrische Patientenfälle, beispielsweise zu den Themen Anorexie, Autismus oder Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung. Videos und Audioaufnahmen realer Patientinnen und Patienten und deren Eltern sind in die Fälle integriert. Das Online-Lehrangebot für Studierende im letzten Studienjahr vor dem Praktischen Jahr wird ergänzt durch Vorlesungen zu kinderpsychiatrischen Themen und enthält sowohl asynchrone (Selbststudium unter Verwendung des digitalen Materials) als auch synchrone Elemente (Web-Konferenzen mit einer fachärztlichen Person oder erfahrenen Psychologinnen und Psychologen). Die Lerninhalte umfassen das gesamte Spektrum psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. Ferner werden Kompetenzen zu häufigen psychischen Problemen im Kindes- und Jugendalter im Hinblick auf die klinische Einordnung und zielgerichteter diagnostischer und therapeutischer Verfahren vermittelt.

Ergebnisse: Das Feedback durch die Medizinstudierenden mittels mündlicher und schriftlicher Evaluationen war positiv. Sie schätzten es, in Pandemie-Zeiten den "Patienten aus der realen Welt" virtuell zu begegnen, Gesprächsmethoden am Vorbild zu erlernen und sich mit den Lehrpersonen auszutauschen. Infolge der kritischen Rückmeldung zur Länge einiger Videosequenzen werden diese Ausbildungseinheiten überarbeitet.

Schlussfolgerungen: Das hier vorgestellte fallbasierte Online-Trainingsprogramm kann auch in Zukunft nach der Pandemie ein wertvolles Lehrangebot darstellen und Präsenzveranstaltungen in der (Kinder- und Jugend-)Psychiatrie – wie Vorlesungen und Praktika – im Sinne eines integrierten Ausbildungsansatzes ergänzen.

Schlüsselwörter: Fallbasiertes Online-Training, E-Learning, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Pandemie


1. Zielsetzungen

Die Integration von Patientenfällen in die Lehre ist hoch effektiv, um die selbstgesteuerten Lernfähigkeiten der Studierenden zu entwickeln, ihr Selbstvertrauen für zukünftige Patientenkontakte zu stärken und den Wissenszuwachs zu fördern [1]. Im Medizinstudium und insbesondere im Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie stellen die Exploration junger Patientinnen und Patienten von Angesicht zu Angesicht, die Beobachtung ihrer Stimmung, ihrer sozialen Interaktionen und ihrer Verhaltensmerkmale wichtige Schlüsselelemente für die Vermittlung in der Lehre dar. Daher beinhalten Vorlesungen und Seminare in der Regel direkte Kontakte zwischen den Lernenden und den Patientinnen und Patienten, um Authentizität zu vermitteln. Dies wird von den Studierenden als sehr instruktiv gewertet [2]. Nach dem abrupten Ende der Präsenzlehre im Zuge der SARS-CoV-2-Pandemie entwickelten wir ein fallbasiertes Online-Trainingsprogramm mit Audio- und Videoaufnahmen realer Patientinnen und Patienten, um die Erfahrungen aus dem klinischen Alltag in ein online-Format zu übertragen. Methodisch wurde das fallbasierte Lernen gewählt und in ein digitales Format übertragen. Dies stellte für die Studierenden die Ausbildung an realen Patientenszenarien in einer Zeit sicher, in der sie pandemiebedingt nicht mehr in direkten Kontakt treten durften [3]. Ziele des Online-Trainings waren, das vorhandene theoretische Wissen der Studierenden zu erweitern und ihre klinischen Entscheidungsfähigkeiten in Bezug auf häufige psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter weiter zu entwickeln [4].


2. Methodik: Fallbasierte Online-Trainings

Im Rahmen von CaseTrain, einer an der Universität Würzburg eingerichteten Plattform des Blended-Learning [5], [6], [7], werden Medizinstudierenden reale Patientenfälle zu verschiedenen kinderpsychiatrische Erkrankungen vorgestellt (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]).

Wir erstellten Video- und Audioaufnahmen während der Exploration von Kindern und Jugendlichen sowie Eltern/Betreuenden. Diese wurden durch Aufnahmen mit Laienschauspielern aus dem Ärzte- und Psychologenteam ergänzt. Die Sequenzen umfassten Interviews zur Krankengeschichte (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]) und Explorationen zu psychopathologischen Aspekten, jeweils mit einer Dauer von 10 bis 40 Minuten. Andere Videos beleuchteten charakteristische Verhaltensmerkmale und Behandlungsmethoden während einer Therapiestunde, z.B. mit einem autistischen Kind (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]). Die EU-Datenschutzgesetze (GDPR) wurden eingehalten.

Das Online-Trainingsprogramm ersetzte einen Pflichtkurs für Studierende im fünften Jahr des sechsjährigen Studiengangs Humanmedizin. Das Konzept des Online-Trainings umfasste ein asynchrones und ein synchrones Element.

1.
Asynchron: Den Studierenden wurde digitales Material über die lokale Lernplattform WueCampus zur Verfügung gestellt, darunter Audio- und Videomaterial sowie Auszüge aus den Krankengeschichten, wie z.B. ihre Anamnese und die klinische Präsentation des Krankheitsbildes. Die Studierenden wurden gebeten, Literaturrecherche zum Thema durchzuführen. Zur Selbsteinschätzung beinhalteten die CaseTrain-Einheiten Multiple-Choice- sowie offene Fragen mit automatischem Feedback.
2.
Synchron: Den Studierenden wurde digitales Material über die lokale Lernplattform WueCampus zur Verfügung gestellt, darunter Audio- und Videomaterial sowie Auszüge aus den Krankengeschichten, wie z.B. ihre Anamnese und die klinische Präsentation des Krankheitsbildes. Die Studierenden wurden gebeten, Literaturrecherche zum Thema durchzuführen. Zur Selbsteinschätzung beinhalteten die CaseTrain-Einheiten Multiple-Choice- sowie offene Fragen mit automatischem Feedback.

Die Studierenden besuchten zu jedem CaseTrain-Fall Web-Konferenzen in Kleingruppen, von jeweils 45 Minuten Dauer, die von einer fachärztlichen Person für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder erfahrenen Psychologinnen und Psychologen aus dem Fach geleitet wurden. Dabei diskutierten die Studierenden ihre Ergebnisse aus dem Selbststudium und reflektierten ihre Lernerfahrungen. Die Dozierenden vertieften die wichtigsten Aspekte des Patientenfalls, gaben Informationen über die weitere Entwicklung der Fälle sowie Einzelheiten zur Psycho-/Pharmakotherapie.

Das didaktische Konzept der Web-Konferenzen umfasste folgende Schlüsselelemente der klinischen Entscheidungsfindung: Hypothesengenerierung, Mustererkennung, Kontextformulierung, Interpretation der diagnostischen Methode, Formulieren von Differentialdiagnosen und diagnostischen Verifikationsansätzen [8]. Die detaillierten Lernziele des Online-Trainings (Teile A und B) sind in Tabelle 1 [Tab. 1] aufgeführt.

Die Studierenden wurden am Ende jeder Web-Konferenz um Feedback gebeten. Zusätzlich bewerteten sie ihre Zufriedenheit mit dem Online-Training mittels einer evaluativen Online-Umfrage (5-Punkte-Likert-Skala: 1=stimme stark zu, 5=stimme überhaupt nicht zu).


3. Ergebnisse

Patientinnen und Patienten und Familien sowie das Personal trugen mit ihren jeweiligen Beiträgen höchst engagiert zur Gestaltung der CaseTrain-Einheiten bei. Die Rückmeldungen der Studierenden waren sehr positiv: Sie schätzten die Erfahrungen mit realen Kindern und Jugendlichen in Zeiten der Pandemie, den tiefen Einblick in das Fach, die Möglichkeit, Gesprächstechniken am Vorbild zu erlernen und den engen Kontakt mit dem Lehrpersonal. Infolge der kritischen Rückmeldung zur Länge einiger Videosequenzen werden diese Ausbildungseinheiten überarbeitet.

Insgesamt nahmen 23 Studierende (21,3% des gesamten Semesters) an der schriftlichen Evaluation teil. Sie bewerteten den Punkt "Die Materialen und Medien waren für die Zielerreichung geeignet" mit einem Mittelwert von 1,4±0,6 und den Punkt „Gemessen an meinen Vorkenntnissen habe ich viel dazu gelernt“ mit 1,4±0,8. Die höchste Itemwertung von 1,1±0,5 wurde für „Ich hatte die Möglichkeit, mich mit der Lehrperson zu Fragen auszutauschen“ erreicht. Das Online-Trainingsprogramm belegte den zweiten Platz in der fakultätsinternen Bewertung aller klinischen Kurse, die im Rahmen des Studiengangs angeboten wurden.

Die Dozierenden machten die Erfahrung, dass der Erfolg der Web-Konferenzen von der aktiven Teilnahme der Studierenden abhing. Daher wird in Zukunft darauf geachtet, die Gruppengröße klein zu halten und Rollenspiele einzubauen. Technische Probleme waren selten, da im Voraus Kontaktdaten für die technische Unterstützung bekannt gegeben wurden.


4. Schlussfolgerungen

Während der SARS-CoV-2-Pandemie waren die Studierenden sehr dankbar, über das Online-Trainingsprogramm ihre Kompetenzen in der klinischen Entscheidungsfindung an realen Patientenfällen – somit in bestmöglicher Annäherung an die klinische Praxis – zu schulen [8]. Das hier vorgestellte Online-Trainingsprogramm kann auch in Zukunft nach der Pandemie ein wertvolles Lehrangebot sein und Präsenzveranstaltungen – wie Vorlesungen und Praktika – ergänzen.

Die Gestaltung von online-Fällen kann die Bereitschaft einiger Patienten zur Teilnahme an der Lehre erhöhen, da sie nicht vor einem großen Publikum in Präsenz sprechen müssen. Darüber hinaus können in einem einzigen CaseTrain-Fall verschiedene Phasen des Krankheitsbildes und der therapeutische Fortschritt über einen längeren Verlauf dargestellt werden, was den Erkenntnisgewinn fördert.

Unser Ziel ist es, das fallbasierte Online-Trainingsangebot weiter auszubauen und um Fälle zu anderen psychischen Erkrankungen zu erweitern, sowie auch zur curricularen Verschränkung in den vorklinischen Studienabschnitt zu implementieren. Ein interessanter Forschungsansatz wäre dabei zu untersuchen, inwieweit wahrgenommene Vorurteile der Studierenden gegenüber psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen durch das online-Format so weit abgebaut werden können, wie es im persönlichen Kontakt mit den jungen Patientinnen und Patienten gelingt.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Li J, Li QL, Li J, Chen ML, Xie HF, Li YP, Chen X. Comparison of three problem-based learning conditions (real patients, digital and paper) with lecture-based learning in a dermatology course: a prospective randomized study from China. Med Teach. 2013;35(2):e963-e970. DOI: 10.3109/0142159X.2012.719651 Externer Link
2.
Bokken L, Rethans JJ, Jöbsis Q, Duvivier R, Scherpbier A, van der Vleuten C. Instructiveness of real patients and simulated patients in undergraduate medical education: a randomized experiment. Acad Med. 2010;85(1):148-154. DOI: 10.1097/ACM.0b013e3181c48130 Externer Link
3.
Jin J, Bridges SM. Educational technologies in problem-based learning in health sciences education: a systematic review. J Med Internet Res. 2014;16(12):e251. DOI: 10.2196/jmir.3240 Externer Link
4.
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5.
Hörnlein A, Ifland M, Kluegl P, Puppe F. Konzeption und Evaluation eines fallbasierten Trainingssystems im universitätsweiten Einsatz (CaseTrain). GMS Med Inform Biom Epidemiol. 2009;5(1):Doc07. DOI: 10.3205/mibe000086 Externer Link
6.
Hörnlein A, Puppe F. Anforderungsanalyse und Implementierung eines fallbasierten Trainingssystems in der Medizin und anderen Fächern (CaseTrain). Würzburg: Universität Würzburg, Lehrstuhl für Künstliche Intelligenz und Angew Informatik; 2008.
7.
Helmerich J, Hörnlein A, Ifland M, editors. CaseTrain-Konzeption und Einsatz eines universitätsweiten fallbasierten Trainingssystems. E-Learning 2009 Lernen im digitalen Zeitalter. Münster: Waxmann; 2009.
8.
Kassirer JP. Teaching clinical reasoning: case-based and coached. Acad Med. 2010;85(7):1118-1124. DOI: 10.1097/ACM.0b013e3181d5dd0d Externer Link
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Schmidmaier R, Eiber S, Ebersbach R, Schiller M, Hege I, Holzer M, Fischer MR. Learning the facts in medical school is not enough: which factors predict successful application of procedural knowledge in a laboratory setting? BMC Med Educ. 2013;13:28. DOI: 10.1186/1472-6920-13-28 Externer Link