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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Anpassung einer internationalen virtuellen Patient*innensammlung an die COVID-19-Pandemie

Kurzbeitrag Virtuelle Patienten

  • corresponding author Inga Hege - Universität Augsburg, Med. Fakultät, Medical Education Sciences, Augsburg, Deutschland; Klinikum der LMU München, Institut für Didaktik und Ausbildungsforschung in der Medizin, München, Deutschland
  • Malgorzata Sudacka - Jagiellonian University Medical College, Faculty of Medicine, Institute of Medical Education, Krakow, Polen
  • Andrzej A. Kononowicz - Jagiellonian University Medical College, Faculty of Medicine, Department of Bioinformatics and Telemedicine, Krakow, Polen
  • Julia Nonnenmann - LMU München, Med. Fakultät, München, Deutschland
  • Julia Banholzer - LMU München, Med. Fakultät, München, Deutschland
  • Jörg Schelling - LMU München, Med. Fakultät, München, Deutschland
  • Martin Adler - Instruct gGmbH, München, Deutschland
  • Bernarda Espinoza - Klinikum der LMU München, Center for International Health, München, Deutschland
  • Marie Astrid Garrido - Klinikum der LMU München, Center for International Health, München, Deutschland
  • Katja Radon - Klinikum der LMU München, Center for International Health, München, Deutschland; Klinikum der LMU München, Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, München, Deutschland

GMS J Med Educ 2020;37(7):Doc92

doi: 10.3205/zma001385, urn:nbn:de:0183-zma0013856

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2020-37/zma001385.shtml

Eingereicht: 2. August 2020
Überarbeitet: 3. Oktober 2020
Angenommen: 23. Oktober 2020
Veröffentlicht: 3. Dezember 2020

© 2020 Hege et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Die COVID-19-Pandemie stellt den Unterricht vor neue globale Herausforderungen. Wir haben uns diesen Herausforderungen in internationaler Zusammenarbeit gestellt, indem wir eine Sammlung virtueller Patient*innen für das Üben von klinischem Entscheiden (clinical reasoning) an diesen neuen Kontext angepasst haben.

Schlüsselwörter: virtuelle Patienten, COVID-19, Clinical Reasoning, Internationalisierung


Hintergrund

Virtuelle Patient*innen (VPs) sind Online-Fälle, die häufig verwendet werden, um Studierende der Gesundheitsberufe in klinischem Entscheiden zu schulen. Dazu gehört das Sammeln von Informationen, die Formulierung und Priorisierung von Differentialdiagnosen, die Anordnung von Tests zur Bestätigung oder zum Ausschluss von Diagnosen, die Entscheidung über eine endgültige Diagnose und die Entwicklung eines Behandlungsplans [1]. Trotz des technologischen Fortschritts sind VPs immer noch überwiegend statisch und können nicht schnell oder gar automatisch an sich verändernde Kontexte angepasst werden. Daher stellte COVID-19 die Autor*innen und Kurator*innen von VP-Sammlungen vor einige neue Herausforderungen. Zum einen wurden bestehende VPs so konzipiert, dass sie in einem nicht-pandemischen Umfeld stattfinden und diesen neuen Kontextfaktor nicht widerspiegeln. In der gegenwärtigen Situation hat sich also der klinische Entscheidungsprozess dahingehend verändert, dass zunächst einmal beurteilt werden muss, ob ein/e Patient*in mit COVID-19 infiziert sein könnte, und ob ggf. Schutzmaßnahmen ergriffen werden müssen. Zum anderen stellt eine COVID-19 Infektion für alle VPs mit relevanten Symptomen eine neue Differentialdiagnose dar, die in Betracht gezogen werden muss. Risikofaktoren, wie Exposition oder Komorbiditäten, beeinflussen den gesamten Prozess des klinischen Entscheidens, und die Wahrscheinlichkeit einer COVID-19-Diagnose muss auf der Grundlage der Region, in der das VP-Szenario stattfindet, berücksichtigt werden.

Die Nachfrage nach der Nutzung von VP-Sammlungen ist im Frühjahr 2020 aufgrund des weltweiten Bedarfs an digitalen Lehrmaterialien für die Ausbildung in den Gesundheitsberufen dramatisch angestiegen. Dieser Bedarf beinhaltete auch VPs in neuen Sprachen, wie Spanisch und Portugiesisch, einschließlich Anpassungen an lokale Umgebungen, wie z.B. lateinamerikanische Länder, die stark von der Krise betroffen sind und wo der Bedarf nach COVID-19-Wissen besonders in aufgezeichneten E-Learning-Aktivitäten sichtbar ist [2].


Beschreibung des Projekts

Für unsere öffentlich zugängliche Sammlung von 75 VPs in deutscher, englischer und polnischer Sprache [https://crt.casus.net/], die zu Beginn der Pandemie im VP-System CASUS verfügbar war, war es weder möglich noch sinnvoll, alle VPs in dieser sich rasch verändernden Situation und dem kurzen Zeitrahmen, der für die Umsetzung von Änderungen zur Verfügung stand, an den neuen Kontext anzupassen. Hinzu kam, dass die Daten zu COVID-19 in den ersten Wochen der Pandemie oft ungenau waren und sich regelmäßig änderten.

Daher basierte unser Ansatz auf den folgenden vier Maßnahmen:

1.
Aktualisierung ausgewählter VPs mit relevanten Schlüsselsymptomen, wie z.B. ein VP mit einer Erkältung, die/der an Fieber und Husten leidet, auf die aktuelle Situation. Hierbei wurden die finalen Diagnosen nicht geändert, um weiterhin eine realistische Wahrscheinlichkeit von Krankheiten darzustellen.
2.
Erstellung und Übersetzung von zwei neuen VPs, die tatsächlich positiv auf COVID-19 getestet werden.
3.
Bereitstellung einer Einführung in die VP-Sammlung, in der erklärt wird, dass die VPs für einen nicht-pandemischen Kontext konzipiert wurden. Darüber hinaus werden den Lernenden Links zu nationalen und internationalen Informationsquellen zu COVID-19 zur Verfügung gestellt.
4.
Erweiterung der VP-Sammlung durch Übersetzung von ausgewählten VPs ins Spanische und Portugiesische und gegebenenfalls Anpassung an lokale Gegebenheiten.

Ergebnisse

Prozess

Eine große Herausforderung für die Anpassung und Gestaltung der VPs für eine internationale Gruppe von Lernenden waren die sich ständig ändernden Richtlinien zu COVID-19, die sich national, regional und sogar von Krankenhaus zu Krankenhaus unterscheiden. Außerdem hängen die Entscheidungen oft von den Umständen ab, wie z.B. der Verfügbarkeit von Testeinrichtungen und -ausstattungen oder den lokalen Hygienevorschriften. Da es nicht möglich ist, all diese Variationen zu berücksichtigen, lösten wir dies, indem wir den Lernenden offene Fragen zum Prozess stellten und Feedback durch Links zu aktuellen Richtlinien von globalen Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) [https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019] oder dem Europäischen Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) [https://www.ecdc.europa.eu/en/covid-19-pandemic] zur Verfügung stellten. Darüber hinaus forderten wir die Lernenden auf, nach spezifischeren Informationen über den aktuellen Prozess in ihrer Region zu suchen.

Eine weitere Herausforderung war die Bereitstellung von aktualisiertem Multimediamaterial für die VPs, um die aktuelle Situation zu veranschaulichen, z.B. durch die Darstellung von medizinischem Fachpersonal mit Schutzkleidung. Angesichts des eingeschränkten Zugangs zu Krankenhäusern und Arztpraxen war es eine Herausforderung, solch authentisches Multimedia-Material zu erhalten. Wir haben dafür noch keine endgültige Lösung, sondern testen mit öffentlich zugänglichen Bildern oder bearbeiten die bisher verwendeten Bilder.

Zunahme der Nutzung

Seit April 2020 haben wir eine starke Zunahme der Anfragen zur Verwendung der VP-Sammlungen in medizinischen Curricula festgestellt (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Dazu gehörten mehr Lernende von medizinischen Fakultäten innerhalb Europas, aber auch neue Nutzer*innen aus Lateinamerika.


Diskussion und Schlussfolgerungen

Der rasche globale Wandel des Kontextes, in dem Lehre und klinisches Entscheiden stattfinden, erfordert vielfältige und schnelle Anpassungen der Lernumgebung. Auf der anderen Seite bietet es den Studierenden eine gute Gelegenheit zu erfahren, wie der Kontext den Prozess des klinischen Entscheidens beeinflusst [3], was wir mit den Anpassungen der VP-Sammlung zeigen wollten.

Für die Zukunft ist eine dynamischere Anpassung der virtuellen Patient*innen an kontextuelle Aspekte wünschenswert. Dies könnte nicht nur in solchen Extremsituationen helfen, sondern den Lernenden generell eine vielfältigere und anpassungsfähigere Lernerfahrung ermöglichen.

Die substantielle Zunahme bei der Nutzung der VP-Sammlung ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die meisten medizinischen Fakultäten Präsenzlehre und insbesondere den Kontakt mit Patient*innen während der Pandemie stark eingeschränkt haben. Das Bearbeiten von VPs gibt den medizinischen Fakultäten die Möglichkeit, das Erreichen erforderlicher Lernziele im Zusammenhang mit klinischen Präsentationen zu dokumentieren, die sonst aufgrund der unerwarteten Hindernisse nicht erreicht werden konnten [4]. Es bleibt zu hoffen, dass die VP-Sammlungen auch dann genutzt und in die Curricula integriert werden, wenn der Präsenzunterricht mit Patient*innen wieder möglich ist, und zwar nicht als Ersatz für den Unterricht am Krankenbett, sondern als wertvolle Ergänzung für die Ausbildung in einer Umgebung in der Fehler gemacht werden dürfen.

Daher planen wir die internationale Zusammenarbeit zur weiteren Erweiterung der VP-Sammlung fortzusetzen, um internationale Ressourcen für die das Üben von klinischem Entscheiden bereitzustellen.


Finanzierung

Die ursprüngliche Erstellung der VP-Sammlungen in deutscher und englischer Sprache wurde durch ein Marie Sklodowska-Curie Global Fellowship (Nr. 654857) finanziert. Die Anpassungen wurden von der Erasmus+ Wissensallianz DID-ACT (Nr. 612454-EPP-1-2019-1-DE-EPPKA2-KA) unterstützt. Die Übersetzungen und Adaptionen für den lateinamerikanischen Kontext wurden durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderten Programms exceed unterstützt. Die polnischen Übersetzungen an der Jagiellonian University wurden aus internen Mitteln finanziert (N41/DBS/000207).


Danksagungen

Wir danken allen Lehrenden und Kliniker*innen, die an der Erstellung, Übersetzung, Review und Anpassung der VPs beteiligt waren, insbesondere Leonardo Briceno (Universidad del Rosario, Bogotá, Kolumbien), María Teresa Solis Soto (USFX, Sucre, Bolivien) und Claudia Meneses (USAC, Guatemala City, Guatemala), die diese Bemühungen vor Ort koordiniert haben. Ohne sie wäre diese rasche Umsetzung nicht möglich gewesen.


Interessenkonflikt

Martin Adler ist Geschäftsführer der Instruct gGmbH, die das virtuelle Patientensystem CASUS entwickelt.

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Kononowicz AA, Woodham LA, Edelbring S, Stathakarou N, Davies D, Saxena N, Tudor Car L, Carlstedt-Duke J, Car J, Zary N. Virtual Patient Simulations in Health Professions Education: Systematic Review and Meta-Analysis by the Digital Health Education Collaboration. J Med Internet Res. 2019;21(7):e14676. DOI: 10.2196/14676 Externer Link
2.
Utunen H, Ndiaye N, Piroux C, George R, Attias M, Gamhewage G. Global Reach of an Online COVID-19 Course in Multiple Languages on OpenWHO in the First Quarter of 2020: Analysis of Platform Use Data. J Med Internet Res. 2020;22(4):e19076. DOI: 10.2196/19076 Externer Link
3.
Durning S, Artino AR Jr, Pangaro L, van der Vleuten CP, Schuwirth L. Context and clinical reasoning: understanding the perspective of the expert's voice. Med Educ. 2011;45(9):927-938. DOI: 10.1111/j.1365-2923.2011.04053.x Externer Link
4.
Tworek J, Coderre S, Wright B, McLaughlin K. Virtual patients: ED-2 band-aid or valuable asset in the learning portfolio? Acad Med. 2010;85(1):155-158. DOI: 10.1097/ACM.0b013e3181c4f8bf Externer Link