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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Gestaltung fallbasierter Selbstlernquizze für klinische Diagnosewissenschaften für Studierende der Humanmedizin am Beispiel der Radiologie

Kurzbeitrag Fallbasiertes Lernen

  • corresponding author Michaela Wagner-Menghin - Medizinische Universität Wien, Teaching Center, Wien, Österreich
  • author Victor Szenes - Medizinische Universität Wien, Teaching Center, Wien, Österreich
  • author Martina Scharitzer - Medizinische Universität Wien, Universitätsklinik für Radiologie und Nuklearmedizin, Wien, Österreich
  • author Peter Pokieser - Medizinische Universität Wien, Teaching Center, Wien, Österreich; Medizinische Universität Wien, Radiologie Währing, Wien, Österreich; Medizinische Universität Wien, Institut für bildgebende Diagnostik, Sanatorium Hera, Wien, Österreich

GMS J Med Educ 2020;37(7):Doc91

doi: 10.3205/zma001384, urn:nbn:de:0183-zma0013840

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2020-37/zma001384.shtml

Eingereicht: 31. Juli 2020
Überarbeitet: 13. Oktober 2020
Angenommen: 29. Oktober 2020
Veröffentlicht: 3. Dezember 2020

© 2020 Wagner-Menghin et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Ergebnisse aus diagnostischen Tests und Untersuchungen stellen relevante Informationen für die klinische Entscheidungsfindung dar. Daher ist ein wesentlicher Teil der arbeitsplatzbasierten Ausbildung von Medizinstudierenden dem Erwerb von Kernkompetenzen in klinischen Diagnosewissenschaften gewidmet. Da COVID-19 bedingt die klinischen Praktikumsplätze für Studierende im fünften Studienjahr reduziert wurden, war es notwendig, diese Teile der Ausbildung zu ersetzen.

Projektbeschreibung: Am Beispiel der Radiologie wurden online-Lernmaterialien zum Thema klinische Diagnosewissenschaften entwickelt, um Studierende durch die Arbeit mit virtuellen PatientInnen auf den Übergang zu arbeitsplatzbezogenem Lernen vorzubereiten. Zur Entwicklung der PatientInnenszenarien wurden drei für die interdisziplinäre PatientInnenbehandlung relevante Aktivitätstypen definiert. Die entwickelten Lernszenarien zeigen, was zu lernen ist und wie radiologisches Wissen die Diagnose und Behandlung von PatientInnen verbessert. Gleichzeitig zeigen die Szenarien den Studierenden, wie man am klinischen Arbeitsplatz lernt: Nach möglichst selbständiger Erledigung einer praxisrelevanten Aufgabe vergleichen Studierende die Übereinstimmung ihres Ansatzes mit einem von klinischen ExpertInnen vorgestellten Ansatz.

Ergebnisse: Die entwickelten zwanzig Selbstlernquizze und neun interaktiven Webinare entsprechen 13% der für Jahr 5 insgesamt angebotenen akademischen Ersatz-Stunden für das Sommersemester 2020. Im Juni 2020 schlossen 486 Studierende das Ersatzprogramm ab und sammelten einen durchschnittlichen Anteil von 16% (SD=10) ihrer benötigten akademischen Stunden durch Teilnahme an Quizzen und/oder Webinaren.

Schlussfolgerung: Der vorgestellte Ansatz, virtuelle PatientInnenszenarien zur Vorbereitung auf späteres arbeitsplatzbasiertes Lernen anhand prototypischer klinischer Aktivitätstypen zu entwickeln, kann als erfolgreich bezeichnet werden. Das aufgrund von Covid-19 sehr rasch entwickelte Online-Quiz-Format und das Webinar-Format zeigten hohe Akzeptanz und Interesse unter den Studierenden.

Schlüsselwörter: klinische Diagnosewissenschaften, virtuelle PatientInnen, Lehre Radiologie


1. Einleitung

Ärzte/Ärztinnen in der Primärversorgung und Fachärzte/-ärztinnen verschiedener Disziplinen stützen sich zur klinischen Entscheidungsfindung nicht nur auf Informationen aus der Krankengeschichte des Patienten/der Patientin oder der klinischen Untersuchung, sondern auch auf Ergebnisse aus verschiedenen diagnostischen Verfahren. Diese werden typischerweise von Fachärzten/- ärztinnen durchgeführt und befundet. Um diagnostische Verfahren optimal nutzen zu können, benötigen aber alle praktizierenden Ärzte/Ärztinnen grundlegende Kenntnisse in klinischen Diagnosewissenschaften (KDiWi) in dem für das Ende des Medizinstudiums festgelegten Umfang [1], [2], [3].

1.1. Problemstellung

Nach Ausbruch von COVID-19 reduzierten österreichische Krankenhäuser die Anzahl der Praktikumsplätze für Medizinstudierende im fünften Jahr, wodurch das arbeitsplatzbasierte Lernen von KDiWi entfiel. Das Learning Development Team des Teaching Centers wurde daher vom Curriculumdirektor beauftragt, zum Ersatzprogramm – mehr als zehn Teams aus verschiedenen Organisationseinheiten der Medizinischen Universität wurden insgesamt angesprochen – beizutragen und Lernszenarien zur Erarbeitung von KLZÖ-Lernzielen (Klinischer Lernzielkatalog Österreichs) mit folgender Spezifikation zu entwickeln:

1.
Online-Aktivitäten zur Einhaltung der COVID-19-Maßnahmen
2.
Selbstgesteuertes Lernen, um den späteren Übergang zum arbeitsplatzbasierten Lernen zu erleichtern

2. Das Projekt

Das umfangreiche Archiv radiologischer Fälle des Letztautors ermöglichte es, rasch Lernszenarien mit virtuellen PatientInnen (VPs) für den KDiWi-Themenbereich Radiologie zu entwickeln.

2.1. Drei Arten klinischer Aktivitäten, die KDiWi-Kenntnisse erfordern - das Beispiel Radiologie

Die Motivation Medizinstudierender, sich KDiWi-Kenntnisse anzueignen, ist sehr unterschiedlich. Kenntnisse, wie das Identifizieren anatomischer Strukturen und Pathologien auf radiologischen Bildern, erscheinen manchen Studierenden nicht relevant. Im Präsenzunterricht begegnen Lehrende solchen motivationalen Schwierigkeiten indem sie veranschaulichen, wie KDiWi-Kenntnisse ihre klinischen Entscheidungen verbessern. Um die Motivation der Studierenden auch beim Online-Lernen von KDiWi zu fördern, etablieren wir drei typische klinische Aktivitäten, die grundlegende radiologische Kenntnisse erfordern, als Basis für die Entwicklung der Lernszenarien:

2.1.1. Auswahl einer für die klinische Situation relevanten Bildgebungsmethode

Alle Ärzte/Ärztinnen, die bildgebende Diagnostik in die Entscheidungsfindung einbeziehen, benötigen detailliertes Wissen über Indikationen und Schwierigkeiten bei der Durchführung radiologischer Untersuchungen.

2.1.2. Identifizieren von Pathologien auf Bildern und kompetente Kommunikation darüber

Obwohl Radiologen/Radiologinnen den Befund erstellen, benötigen alle Ärzte/Ärztinnen Fähigkeiten zur Erkennung von Pathologien auf radiologischen Bildern.

2.1.3. Unterstützung der Patienten/Patientinnen beim Verstehen von Arztbriefen- oder Boardempfehlungen

Alle Ärzte/Ärztinnen müssen auf verständliche Weise mit den Patienten/Patientinnen über die Bildgebung kommunizieren (Beispiele in Tabelle 1 [Tab. 1]).

2.2. Simulation des selbstgesteuerten Lernens am Arbeitsplatz mit fallbasierten-Selbstlernquizzen

Beim arbeitsplatzbasierten Lernen beobachten Studierende die klinische Entscheidungsfindung der verantwortlichen Ärzte/Ärztinnen. Selbstgesteuertes Erlernen erfolgt, indem Studierende versuchen, ein beobachtetes klinisches Problem zunächst selbstständig zu lösen und dann die eigenen Entscheidungen mit denen des Supervisors/der Supervisorin zu vergleichen bzw. gemeinsam zu diskutieren. Da der Einstieg ins arbeitsplatzbasierte Lernen für Studierende schwierig ist [4], schlagen wir vor, Studierenden anhand der VP Lernszenarien nicht nur zu zeigen, "was sie lernen sollen", sondern auch, "wie man selbstgesteuert am Arbeitsplatz lernt".

Im Quiz erarbeiten Studierende zunächst für einen Patienten/eine Patientin, dargestellt durch authentische medizinische Informationen (=VP), eine klinisch relevante Entscheidung [5], [6]. Danach vergleichen sie die Konkordanz ihres Entscheidungsansatzes mit dem Entscheidungsansatz des Experten/der Expertin anhand von vier Kategorien, die von 0% (keine Konkordanz, anderer Ansatz) über 40% oder 80% bis 100% (ähnlicher Ansatz) reichen, um das Quiz selbst zu bewerten.

Die klinischen Anwendungsfragen werden dabei durch geeignete Fragen zum Grundlagenwissen (z.B. Anatomiewissen) ergänzt, um dieses Wissen gezielt im klinischen Kontext zu aktivieren. Begleitet wird das Material durch kurze Lehrbuchtexte. Bearbeitet werden die Selbstlernquizze über die Lernplattform Moodle oder im Rahmen interaktiver Webinare (ohne Konkordanzbewertung).

2.3. Auswertung

Studierende sind aufgefordert, jedes Quiz nach dessen Bearbeitung frei zu kommentieren. Der durchschnittliche Anteil akademischer Stunden, den Studierende durch Wahl unserer Lernszenarien erworben haben, wird verglichen mit dem Anteil akademischer Stunden, den unsere Lernszenarien innerhalb des gesamten Ersatzprogramms abdecken.


3. Ergebnisse

3.1. Lernszenarien

Es wurden zwanzig Selbstlernquizze und neun interaktive Live-Webinare entwickelt, die 16 KLZÖ-Ziele (bis zu fünf Ziele pro VP) abdecken. Die drei typischen klinischen Aktivitäten halfen die Perspektive der Studierenden bei der Entwicklung der Lernszenarien zu berücksichtigen.

3.2. Beteiligung der Studierenden

Durch Teilnahme an sämtlichen im Ersatzprogramm angebotenen Lernszenarien hätten Studierende um 75 Prozentpunkte mehr akademische Stunden absolviert als benötigt. Unsere Lernszenarien machten 13% der verfügbaren akademischen Stunden aus, d.h. niemand war zur Teilnahme verpflichtet, da es ausreichend Alternativangebot gab. Im Juni 2020 schlossen 486 Studierende im fünften Studienjahr das Ersatzprogramm ab und erwarben durch die Teilnahme an unseren Quizzen und Webinaren einen durchschnittlichen Anteil akademischer Stunden von 16% (Standardabweichung±10). Die Studierenden wählten unsere Lernszenarien im Vergleich zu den Alternativen mit einer ähnlichen Präferenz. Die Selbstbewertung der Studierenden ergab einen durchschnittlichen Konkordanz-Score von 81% (SD=10%). Im Durchschnitt gaben 10% (SD=3%) der Studierenden pro Quiz Kommentare ab, die überwiegend Zufriedenheit (z.B. Super Fall) oder Neutralität (z.B. „Danke“, „nichts Besonderes“) zum Ausdruck brachten.


4. Diskussion

Die Definition der drei typischen klinischen Aktivitäten erleichterte die Entwicklung von VP-Lernszenarien für radiologische KDiWi Lernziele, die in der Literatur für Medizinstudierende vorgeschlagen wurden [7]. Die VP-basierten Quizze und Webinare zeigten eine hohe Akzeptanz unter den Studierenden und können anhand der freien Kommentare verbessert werden.


5. Schlussfolgerung

Unser Ansatz, die Entwicklung von Online-Lernszenarien mit VPs durch Definition prototypischer klinischer Aktivitäten zu steuern, um Studierende auf späteres Lernen am Arbeitsplatz vorzubereiten, zeigt eine hohe Akzeptanz bei den Studierenden. Daher wird derzeit die zweite Ausgabe für alle Quizze vorbereitet. Neben der Arbeit an der Abdeckung weiterer Lernziele des KLZÖ muss systematisch beschrieben werden, welche KDiWi-Kenntnisse in verschiedenen klinischen Situationen benötigt werden. Dadurch wäre es möglich, Studierende gezielt auf die Herausforderungen beim Lernen am klinischen Arbeitsplatz vorzubereiten.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Medizinische Universität Graz; Medizinische Universität Wien; Medizinische Universität Innsbruck; Medizinische Fakultät Linz. Klinischer Lernzielkatalog Österreichs [Austrian National Learning Objectives Catalogue for Undergraduate Medical Education]. Graz: Eigenverlag der Medizinischen Universität Graz; 2020.
2.
Wissing F. [National Competency-Based Learning Objective Catalogue for Dental and Human Medicine]. Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz. 2018;61(2):170. DOI: 10.1007/s00103-018-2688-0 Externer Link
3.
Bürgi H, Rindlisbacher B, Bader C, Bloch R, Bosman F, Gasser C, Gerke W, Jumair JP, Im Hof V, Kaiser H, Lefebvre D, Schläppi P, Sottas B, Spinas GA, Stuck AE. Swiss Catalogue of Learning Objectives for Undergraduate Medical Training. Genf: Joint Conference of Swiss Medical Faculties (SMIFK); 2008: Zugänglich unter/available from: http://sclo.smifk.ch/ Externer Link
4.
Teunissen PW, Westerman M. Opportunity or threat: the ambiguity of the consequences of transitions in medical education. Med Educ. 2011;45(1):51-59. DOI: 10.1111/j.1365-2923.2010.03755.x Externer Link
5.
Hege I, Kononowicz AA, Tolks D, Edelbring S, Kuehlmeyer K. A qualitative analysis of virtual patient descriptions in healthcare education based on a systematic literature review. BMC Med Educ. 2016;16:146. DOI: 10.1186/s12909-016-0655-8 Externer Link
6.
Urresti-Gundlach M, Tolks D, Kiessling C, Wagner-Menghin M, Härtl A, Hege I. Do virtual patients prepare medical students for the real world? Development and application of a framework to compare a virtual patient collection with population data. BMC Med Educ. 2017;17(1):174. DOI: 10.1186/s12909-017-1013-1 Externer Link
7.
Alexander AG, Deas D, Lyons PE. An Internet-Based Radiology Course in Medical School: Comparison of Academic Performance of Students on Campus Versus Those With Absenteeism Due to Residency Interviews. JMIR Med Educ. 2018;4(1):e14. DOI: 10.2196/mededu.8747 Externer Link