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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Retrospektive Betrachtung der Organisation und Prüfungsergebnisse des Staatsexamens in den Fächern Zahnerhaltung und Parodontologie unter Phantombedingungen in Zeiten von Covid-19 im Vergleich zu Regelbedingungen mit Patientenbehandlung

Kurzbeitrag Prüfungen

  • corresponding author Michael J. Wicht - Uniklinik Köln, Zentrum für Zahn-, Mund und Kieferheilkunde, Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Köln, Deutschland
  • Karolin Höfer - Uniklinik Köln, Zentrum für Zahn-, Mund und Kieferheilkunde, Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Köln, Deutschland
  • Sonja H. M. Derman - Uniklinik Köln, Zentrum für Zahn-, Mund und Kieferheilkunde, Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Köln, Deutschland
  • M. J. Noack - Uniklinik Köln, Zentrum für Zahn-, Mund und Kieferheilkunde, Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Köln, Deutschland
  • A. Greta Barbe - Uniklinik Köln, Zentrum für Zahn-, Mund und Kieferheilkunde, Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Köln, Deutschland

GMS J Med Educ 2020;37(7):Doc87

doi: 10.3205/zma001380, urn:nbn:de:0183-zma0013800

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2020-37/zma001380.shtml

Eingereicht: 28. Juli 2020
Überarbeitet: 15. September 2020
Angenommen: 23. Oktober 2020
Veröffentlicht: 3. Dezember 2020

© 2020 Wicht et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Primärer Outcome der retrospektiven Studie war ein Vergleich der Prüfungsergebnisse im Staatsexamen unter simulierten Behandlungsbedingungen am Phantom in Zeiten von Covid-19 mit Patientenbehandlung und der Patientenbehandlung unter Regelbedingungen. Sekundär wurden Selbst- und Fremdeinschätzung der simulierten Behandlung miteinander korreliert.

Methodik: 22 Examenskandidat*innen fertigten innerhalb von 4 Stunden jeweils eine mehrflächige adhäsive Front- und Seitenzahnrestauration an und führten eine endodontische Behandlung an einem Oberkieferprämolaren sowie ein parodontales Debridement eines Quadranten durch. Alle Behandlungen erfolgten an einem im Phantomkopf fixierten Modell. Einhaltung der vorgegeben Hygiene- und Abstandsrichtlinien waren ebenso Bestandteil der praktischen Prüfung wie eine Selbsteinschätzung der praktischen Leistungen. Jeder Prüfungsteil wurde von einem Prüfer anonym bewertet. Als historische Kontrolle dienten die Prüfungsergebnisse einer Kohorte aus dem Jahr 2019. Zur Auswertung beider Gruppen wurden Mittelwerte (Standardabweichung), non-parametrische Korrelationen (Spearman’s Rho) sowie Gruppenvergleiche (Mann-Whitney) berechnet.

Ergebnisse: Die praktischen Prüfungsleistung des Examens unter simulierten Behandlungsbedingungen waren mit Ausnahme der endodontischen Teilprüfung signifikant schlechter (P<0,05) als in der Kohorte, die ihre Staatsprüfung am Patienten absolvierte. Die Gesamtnoten in Kariologie und Parodontologie beider Gruppen, welche eine strukturierte theoretische Prüfung einbezieht, unterschieden sich nicht voneinander. Die Kandidat*innen bewerteten ihre Leistungen mehrheitlich schlechter als die Prüfer, eine Korrelation von Selbst- und Fremdeinschätzung war nicht gegeben.

Schlussfolgerung: Bei dem Vergleich von zwei Semestern resultierte eine simulierte praktische Prüfung ohne Patienten in den Fächern Kariologie, Endodontie und Parodontologie in vergleichbaren Resultaten wie eine Prüfung am Patienten. Gleiche Bedingungen für die Kandidat*innen, bessere Vergleichbarkeit und Vermeidung ethischer Dilemmata der Patientenbehandlung unter Prüfungsbedingungen könnten auch zukünftig Argumente für eine Staatsprüfung unter Phantombedingungen sein.

Schlüsselwörter: Staatsexamen, Covid-19, Zahnmedizin, simulierte Behandlung


Einleitung

In der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie der Medizinischen Fakultät der Universität Köln wurde im März 2020 aufgrund des akuten COVID-19-bedingten Lockdowns und der Prämisse, den Studierenden einen Abschluss ihres im Juli 2019 begonnenen Staatsexamen zu ermöglichen, die Realisierung eines alternativen Prüfungsmodells notwendig. Die Staatsprüfung sollte nach Vorgaben des Nordrhein-Westfälischen Ministeriums für Gesundheit sowie interner, universitärer Leitlinien ohne Patientenkontakt sowie unter Berücksichtigung der erforderlichen Abstands- und Hygienerichtlinien erfolgen. Die Umsetzung sollte eine möglichst realitätsnahe und Approbationsordnungskonforme Simulation eines praktischen Staatsexamens in den Fächern Kariologie, Endodontologie und Parodontologie bei gleichzeitig maximalem Schutz der Kandidat*innen, Mitarbeiter*innen und Prüfer*innen.

Ziel der vorliegenden retrospektiven Studie war neben der organisatorischen und inhaltlichen Darstellung eines an Covid-19-Bedingungen angepasstes Vorgehen, der Vergleich der Prüfungsergebnisse im praktischen Staatsexamen der Fächer Kariologie, Endodontie und Parodontologie unter simulierten Behandlungsbedingungen am Phantom und der Patientenbehandlung unter Regelbedingungen. Sekundär wurde die Selbsteinschätzung der Kandidat*innen mit der Fremdeinschätzung der Prüfer*innen in der simulierten Patientenbehandlung miteinander korreliert.


Methoden

Praktische Anforderungen im COVID-19-Examen

Basierend auf dem Anforderungsprofil der alten zahnärztlichen Approbationsordnung (ZÄPrO) wurden folgende Prüfungsaufgaben festgelegt:

1.
Jeweils eine Klasse-II an Zahn 46 (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]) sowie eine Klasse IV-Präparation an Zahn 21 (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]) inklusive adhäsiver Restauration in Mehrschichttechnik;
2.
Trepanation, Aufbereitung und Obturation des Zahnes 24 (siehe Abbildung 3 [Abb. 3]) sowie
3.
Erstellung eines parodontalen Befundes inklusive Klassifikation (Grading und Staging) und Risikobewertung anhand einer Fallvignette sowie ein parodontales Debridement des dritten Quadranten unter Berücksichtigung der „Patientenlagerung“ und Ergonomie (siehe Abbildung 4 [Abb. 4]).

Die Prüfungsaufgaben mussten innerhalb von 4 Stunden erbracht werden, es wurde weder Reihenfolge noch Zeitvorgabe für die einzelnen Teilleistungen vorgegeben. Aus organisatorischen Gründen wurde mit der parodontologischen Prüfung begonnen, da nach Beendigung ein Modellwechsel unter Aufsicht erfolgte. Die detaillierten Bewertungskriterien der Teilleistungen sind Tabelle 1 [Tab. 1] zu entnehmen.

Neben den praktischen Aufgaben wurden einzelne theoretische Prüfungen in den Fächern Kariologie, Parodontologie und Kinderzahnheilkunde durchgeführt.

Infektionsschutz und Hygienerichtlinien

Die Durchführung der Prüfung wurde im Vorfeld durch die zuständige Krankhaushygiene sowie das Studiendekanat genehmigt. Die Kandidaten durften nur unter Einhaltung der Standardhygienerichtlinien (Abstandsregel, chirurgischer Mundschutz, Schutzbrille, Einmalhandschuhe) und ohne klinische COVID-19-Symptomatik an der Prüfung teilnehmen, was zusammen mit der Bestätigung der Prüfungsfähigkeit zu Beginn der Prüfung dokumentiert wurde.

Im Vorfeld wurde ein Logistik- und Abstandsplan für den Kurssaal sowie dessen Zugang geplant, der minimale Wege der Studierenden unter Wahrung der Abstandsregeln zu ihrem Platz erlaubte. Der Arbeitsplatz wurde zu Beginn der Prüfung durch die Mitarbeiter*innen der Abteilung vorbereitet, so dass die Kandidat*inne ihren Platz während der Prüfungsphase nicht zu verlassen brauchten. Die 22 Teilnehmer*innen wurden in zwei Gruppen eingeteilt, die auf zwei Prüfungsräume verteilt wurden. Der Abstand zwischen den Arbeitsplätzen betrug im Minimum 3,5 m (siehe Abbildung 5 [Abb. 5]). Eigen- und Oberflächendesinfektion am Ende der Prüfung sowie Einhaltung der Hygienerichtlinien war zusätzlicher Bestandteil der praktischen Prüfungsleistung.

Beschreibung der Examenskandidat*innen im Examen COVID-19 und historische Kontrolle

Sowohl die 22 COVID-19-Examenskandidat*innen als auch die 26 Kandidat*innen einer historischen Kontrollgruppe, die ein Jahr zuvor das Staatsexamen mit Patientenkontakten absolvierten, haben das Studium der Zahnmedizin vor Ausbruch von COVID-19 analog der ZÄPrO von 1955 beendet. Die Studierenden des aktuellen Jahrgangs haben im Jahr zuvor den Examenskandidat*innen der historischen Kontrolle assistiert.

Bewertung, Datenerhebung und Datenqualität

Im Examen mit simulierter Patientenbehandlung fand eine Bewertung im Anschluss an die Prüfung aller durch Nummern pseudonymisierten Modelle bzw. Zähne durch jeweils einen Prüfer pro Teilbereich statt, wohingegen die praktischen Bewertungen der Kontrollgruppe durch unterschiedliche Prüfer erfolgte.

Entsprechend des Vorgehens im Staatsexamen mit Patientenkontakt wurde der universitäre Notenschlüssel in den Abstufungen 1,0, 1,3, und 1,7 usw. bis 5,0 zur Bewertung der Modellleistungen verwendet. Nach Beendigung der praktischen Arbeiten dokumentierten die Kandidat*innen ihre Arbeiten unter Verwendung des gleichen Notenschlüssels auf einem Bewertungsbogen.

Zur deskriptiven und vergleichenden Auswertung beider Kohorten wurden Mittelwerte (Standardabweichung), non-parametrische Korrelationen (Spearman’s Rho) sowie Gruppenvergleiche (Mann-Whitney) berechnet. Die anonymisierte, routinemäßige retrospektive Auswertung der Prüfungsergebnisse ist aus ethischer Sicht unbedenklich, da die Darstellung der Ergebnisse keine Rückverfolgung zulässt.

Die lokale Ethikkommission stimmte der retrospektiven Datenauswertung zu (Dossier-Nummer 20-1470).


Ergebnisse

In den Fächern Kariologie und Parodontologie unterschieden sich die Gesamtnoten im Examen mit Phantombehandlung nicht signifikant von der historischen Kontrolle aus dem Jahr 2019. Die Bewertungen der praktischen Teilleistungen Frontzahnrestauration, Seitenzahnrestauration und Parodontologie waren signifikant schlechter unter simulierten Modellbedingungen und verblindeter Beurteilung (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Die Selbsteinschätzung der Kandidat*innen war mit Ausnahme der Seitenzahnfüllung in allen anderen Prüfungsaufgaben schlechter als die Fremdeinschätzung durch die Prüfer*innen, eine signifikante Korrelation zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung bestand für keine Aufgabe.


Diskussion und Schlussfolgerungen

Obwohl die praktischen Leistungen im Bereich Parodontologie und restaurative Zahnerhaltung signifikant schlechter in der Modellsimulation als am Patienten bewertet wurden, unterschieden sich die Gesamtnoten in beiden Kohorten nicht. Die Ursache hierfür ist hauptsächlich mathematischer Natur, da bei beiden Formen der Prüfung etliche Teilnoten (praktische und theoretische) addiert und gemittelt werden, die final zu einer Gesamtbeurteilung in ganzen Noten gerundet werden. Die signifikant schlechtere Bewertung in der Simulation könnte zum einen darin begründet sein, dass eine sorgfältigere Bewertung im Anschluss an die Prüfung ohne den Faktor „Patient“ möglich war und zweitens die Leistung der Kandidat*innen miteinander verglichen werden konnte. Die detaillierte Bewertung der praktischen Leistungen ist am Patienten nahezu unmöglich, jedoch können Aspekte wie Patientenführung aber auch anatomische oder sonstige patientenbezogene Herausforderungen in einer simulierten Prüfung nicht abgebildet werden, was ein systematischer Verzerrungseffekt bei der Bewertung sein kann.

Beide Kohorten haben eine vom Ablauf her identische Ausbildung durchlaufen und unterscheiden sich lediglich in der Art ihrer Examinierung. Es handelte sich um zwei durchschnittliche Semestergrößen, die sich hinsichtlich Alter und Geschlecht nicht voneinander unterschieden. Die Fallzahl kann dabei lediglich als exemplarisch angesehen werden. Insbesondere der ethische Aspekt einer Prüfung am Patienten wird kontrovers diskutiert: Befürworter sehen die Prüfung am Patienten als konsequenten Abschluss einer klinischen Ausbildung, Gegner bewerten die nicht vorhandene Vergleichbarkeit und den Patientenschutz als ethische Dilemmata, die bei einer Modellprüfung entfallen [1].

In Zeiten von Covid-19 konnte eine Staatsprüfung an Modellzähnen zumindest im Endergebnis Prüfungsresultate liefern, die denen einer Kohorte mit Patienten nahezu identisch sind. Nachdem die Kandidat*innen im Rahmen von zwei Semestern klinischer Lehre den erfolgreichen Nachweis der Patientenbehandlung erbracht haben, könnte diese Prüfungsform auch als Modell für die Zukunft diskutiert werden. Unter Aspekten des Infektionsschutzes war diese Prüfungsform im April 2020 alternativlos, jedoch könnte sie aus ethischen Gründen sowie besserer Vergleichbarkeit auch zukünftig eine Alternative darstellen.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Chu TG, Makhoul NM, Silva DR, Gonzales TS, Letra A, Mays KA. Should Live Patient Licensing Examinations in Dentistry Be Discontinued? Two Viewpoints: Viewpoint 1: Alternative Assessment Models Are Not Yet Viable Replacements for Live Patients in Clinical Licensure Exams and Viewpoint 2: Ethical and Patient Care Concerns About Live Patient Exams Require Full Acceptance of Justifiable Alternatives. J Dent Educ. 2018;82(3):246-251. DOI: 10.21815/JDE.018.023 Externer Link