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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Können wir Ethik und ethische Entscheidungsfindung angemessen durch Distant Learning vermitteln? Ein Pandemie-Pilotversuch

Kurzbeitrag Ethik

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  • Robert Gintrowicz - Charité Universitätsmedizin Berlin, Prodekanat für Studium und Lehre, Berlin, Deutschland
  • Klemens Pawloy - Charité Universitätsmedizin Berlin, Prodekanat für Studium und Lehre, Berlin, Deutschland
  • Julius Richter - Charité Universitätsmedizin Berlin, Prodekanat für Studium und Lehre, Berlin, Deutschland
  • corresponding author Antje Degel - Charité Universitätsmedizin Berlin, Prodekanat für Studium und Lehre, Berlin, Deutschland; Charité Universitätsmedizin Berlin, Med. Klinik für Kardiologie, Campus Benjamin Franklin, Berlin, Deutschland

GMS J Med Educ 2020;37(7):Doc80

doi: 10.3205/zma001373, urn:nbn:de:0183-zma0013735

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2020-37/zma001373.shtml

Eingereicht: 31. Juli 2020
Überarbeitet: 17. Oktober 2020
Angenommen: 29. Oktober 2020
Veröffentlicht: 3. Dezember 2020

© 2020 Gintrowicz et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Die Coronavirus-Pandemie machte in diesem Frühjahrssemester die meisten Lehrveranstaltungen in Präsenz unmöglich. Es waren andere Formate und neue Ideen erforderlich, um den Studierenden die Möglichkeit zu bieten, die unveränderten Lerninhalte und -ziele zu erlernen.

Um unser Modul mit Simulationspatienten über Ethik und ethische Entscheidungsfindung in der Notfallmedizin zu ersetzen, entwickelten wir ein E-Learning-Modul, das aus einem Fall, Triggerfragen und Literatur zum Selbststudium besteht. Daran schloss sich ein Microsoft-Teams-Seminar an, in dem die Studierenden ihre Fragen in Untergruppen auf der Grundlage ihrer Lektüre diskutierten und ein Teamprodukt entwickelten, das sie dann dem anderen Team vorstellten.

Die Studenten schätzten dieses Modul als einen sicheren Raum für ihre Überzeugungen und Ansichten. Eine große Mehrheit hielt die Themen für relevant, zwei Drittel würden das Seminar wiederholen. Trotz eines produktiven Online-Diskurses sollte dieses Format unter normalen Bedingungen nicht als alleiniges Modul verwendet werden, da ihm die (Simulations-)Patienteninteraktion fehlt, es kann sich aber als wertvolle Ergänzung zum Live-Unterricht erweisen.

Schlüsselwörter: Ethikmodul, ethische Entscheidungsfindung, Notfallmedizin, Distant Learning, Pandemie, Coronavirus, Medizinstudium


Einführung

Seit Dezember 2019 hat sich das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 von China aus in der ganzen Welt ausgebreitet, das Millionen Menschen infiziert und Tausende getötet hat [1], [2], [3]. Anfang März erreichte es Berlin [4], worauf das Verbot von Gruppenansammlungen folgte, bis nur noch Haushaltsmitglieder die minimale soziale Distanz unterschreiten durften [5]. Der Beginn des Semesters wurde für alle Studenten einschließlich der Medizinstudenten der Charité-Universitätsmedizin Berlin verschoben [6]. Ethik und ethische Entscheidungsfindung in Notfallsituationen war im zehnten Semester eingebettet in den Notfallmedizinkurs mit Simulationspatienten oder Angehörigen und Kleingruppendiskussionen gelehrt worden. Wir mussten nun ein anderes Format finden. Erste Versuche, Ethik online zu lehren, haben gezeigt, dass ein aus Vorlesungen und Tutorien kombinierter Ethikkurs nicht unterlegen ist [7] und die Nutzung einer Online-Plattform sich positiv auf das Vertrauen der Studierenden in die Entscheidungsfindung auswirkt [8].


Projektskizze

Während die COVID-19-Pandemie-Arbeitsgruppe die Durchführung von Simulationen zur Lebenserhaltung (Life Support) für die Semester 1, 6 und 10 unter Einhaltung strenger Hygienestandards umfassend gestattete, wurde unser Modul über Ethik und ethische Entscheidungsfindung in der Notfallmedizin (das letzte Ethikmodul vor ihrem praktischen Jahr) mit Simulationspatienten im Semester 10 ausgesetzt. Dies geschah aufgrund der obersten Direktive des Schutzes von (Hoch-)Risikopatienten, einer Gruppe, zu der die meisten unserer Simulationspatienten gehören (aufgrund des Alters, gleichzeitiger Erkrankungen etc.). Wir mussten daher eine Alternative finden, um diese Probleme mit unseren Studierenden anzugehen, die rechtzeitig verfügbar wäre, da die Bedeutung von Ethik und Professionalität in der medizinischen Ausbildung [9] nicht dadurch untergraben werden sollte, dass sie aufgrund der Pandemie auf das Selbststudium reduziert wird. Auf der Grundlage des Online-Ethikkurses in der Krankenpflege [7] und der berichteten positiven Auswirkungen des teambasierten Lernens auf die medizinische Ethikausbildung [10] beschlossen wir, beide Vorschläge in einem Online-Modul zusammenzufassen.


Zusammenfassung der Arbeit

Wir entwickelten ein Online-Modul, bestehend aus Online-Ressourcen, die auf unserer Lernplattform angeboten werden, und einem 90-minütigen Live-Seminar mittels Microsoft Teams. Die Online-Ressourcen umfassten zwei Versionen eines Reanimationsfalls - die sich nur in den beigefügten ethischen Fragen unterschieden - und passende Referenzen. Eine Woche vor dem Online-Seminar wurden die 20 bis 24 Studierenden über ihre zufällig festgelegte Untergruppenzuteilung informiert und gebeten, die bereitgestellten Papiere zu lesen, wobei sie bei Bedarf zu weiteren Literaturrecherchen ermuntert wurden. Jede Gruppe musste sich mit einer der beiden Fragen befassen - eine betraf die Anwesenheit von Angehörigen während der Reanimation und die andere die Beendigung der Reanimationsbemühungen.

Im Online-Seminar begannen wir mit einer Umfrage in Microsoft Forms als aktivierendes Werkzeug oder Teaser, in der wir nach ihren früheren Erfahrungen mit Reanimationen falls vorhanden, nach ihrer Rolle dabei und nach ihrer allgemeinen Einstellung zur Ethik in der Medizin fragten (siehe Anhang 1 [Anh. 1]). Unsere einleitende Umfrage ergab, dass 72% unserer 156 Studenten einer Reanimationsbemühung nicht beigewohnt oder dabei assistiert hatten, 28% jedoch schon. Die meisten hatten Patientenverfügungen gesehen, aber nur die Hälfte von ihnen kannte den Begriff „DNAR“ (Do not try resuscitation). Ein Organspenderausweis wird von 84% von ihnen mitgeführt. Nur 53% gaben an, während ihres Studiums oder in ihrem Leben Zeuge eines ethischen Dilemmas gewesen zu sein. Die Ergebnisse wurden dann mit den Studierenden diskutiert, um die Gruppe für alltägliche ethische Dilemmata zu sensibilisieren, die sie unbewusst übersehen hatten.

Danach wurden die Verhaltensregeln festgelegt (sicherer Raum, keine Unterbrechungen, die Möglichkeit abweichender Meinungen usw.), und die Untergruppen wurden in private Kanäle geleitet, die von Tutoren (studentische Tutoren oder klinische Dozierende) betreut wurden. Hier arbeiteten sie an ihrer Frage, indem sie die Literatur diskutierten, weitere Lektüre präsentierten und ihre Gefühle und Überzeugungen offenlegten. Jede Gruppe erstellte ein Teamprodukt gemäß ihren Wünschen, Vorlieben oder Fähigkeiten als Ergebnis (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Dieses wurde dann der anderen Gruppe vorgestellt und in einer gemeinsamen Abschlusssitzung diskutiert.

Am Ende führten wir eine weitere Umfrage bei Forms durch, in der wir sie nach ihrer Meinung zum Seminar und zum parallel stattfindenden Notfallmedizin-Kurs fragten (siehe Anhang 2 [Anh. 2]).

Obwohl die Anzahl der Simulationen reduziert wurde, bewerteten 85% unserer Studenten den Notfallkurs als ausgezeichnet oder gut. Was dieses Seminar betrifft, so hielten 94% es und seine Inhalte für relevant für ihre Ausbildung, 68% würden es weiterempfehlen.


Diskussion

Das Online-Modul wurde von unseren Studierenden bereitwillig angenommen. Abgesehen von kleineren technischen Problemen beim Eintritt in die Kanäle der Untergruppe waren keine größeren technischen Rückschläge zu verzeichnen. Wir stellten fest, dass - ähnlich wie bei unseren Live-Sitzungen - die zugewiesene Zeit eine Herausforderung darstellt, die Online-Arbeit hat dieses Dilemma nicht verringert. Die Studenten wünschten eine feste Zuteilung von Literaturquelle, um die Vorbereitung der Live-Online-Sitzung zu erleichtern. Unsere Lehrer und Teilnehmer stellten fest, dass das Online-Format den offenen Diskurs und die Offenlegung von Gefühlen und Überzeugungen erleichterte. Unsere Dozierenden und studentischen Tutoren schätzten die Offenheit der Diskussion und die Kreativität bei der Erstellung ihrer Präsentationen. Die Studenten scheinen sich der Relevanz des Themas bewusst zu sein, aber nur 68% gaben an, dass sie es weiterempfehlen würden. Die Interaktion mit den Simulationspatienten und ihr subjektives Feedback wird vermisst, das durch Online-Seminare nicht ersetzt werden kann [11], [12], [13]. Virtuelle Patienten wurden für eng definierte Settings getestet und scheinen ein wirksames Addendum aber aufgrund der begrenzten Interaktion kein vollständiges Surrogat für standardisierten Patienten zu sein [14]. Wir müssen die Akzeptanz des Online-Moduls verbessern, indem es zukünftig eventuell mit Präsenzveranstaltungen unter Nutzung von Simulationspatienten oder Angehörigen verbunden oder ein völlig neues Konzept der Live-Online-Interaktion mit Simulationspatienten entwickelt wird, wie es die Trends in der Telemedizin gebieten würden.


Schlussfolgerung

Dieses Online-Modul zu Ethik und ethischer Entscheidungsfindung in der Notfallmedizin ist eine Möglichkeit, die Studierenden für die in diesem Zusammenhang herrschenden ethischen Dilemmata zu sensibilisieren. Es bietet ihnen einen sicheren Raum, sich zu öffnen und ihre Emotionen und Überzeugungen urteilsfrei darzustellen. Es kann jedoch nicht die komplexe Arzt-Patient-Interaktion, die mit Simulationspatienten nachgebildet wird, vollständig kompensieren. Unter den gegebenen Umständen erwies es sich als durchführbar und könnte bei verbesserter Akzeptanz in Zukunft eine hilfreiche Ergänzung zum bestehenden Modul sein (wenn Präsenzunterricht mit Simulationspatienten wieder zugelassen sein wird). Die Möglichkeiten der Online-Integration von Simulationspatienten müssen erforscht werden, um ihren Einsatz in der Ethik-Ausbildung im Medizinstudium evaluieren zu können.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

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Zhu N, Zhang D, Wang W, Li X, Yang B, Song J, Zhao X, Huang B, Shi W, Lu R, Niu P, Zhan F, Ma X, Wang D, Xu W, Wu G, Gao GF, Tan W, China Novel Coronavirus Investigating and Research Team. A Novel Coronavirus from Patients with Pneumonia in China, 2019. N Engl J Med. 2020;382(8):727-733. DOI: 10.1056/NEJMoa2001017 Externer Link
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