gms | German Medical Science

GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Künstliche Intelligenz im Medizinstudium und die Bedeutung des Zusammenspiels mit natürlicher Intelligenz – ein interdisziplinärer Ansatz

Kurzbeitrag Künstliche Intelligenz

Suche in Medline nach

  • corresponding author Johannes Lang - Justus-Liebig-Universität Gießen, Dekanat des Fachbereichs Medizin, Referat 4 - Studium und Lehre, Gießen, Deutschland
  • author Holger Repp - Justus-Liebig-Universität Gießen, Dekanat des Fachbereichs Medizin, Referat 4 - Studium und Lehre, Gießen, Deutschland

GMS J Med Educ 2020;37(6):Doc59

doi: 10.3205/zma001352, urn:nbn:de:0183-zma0013524

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2020-37/zma001352.shtml

Eingereicht: 12. Oktober 2019
Überarbeitet: 4. Mai 2020
Angenommen: 30. Juni 2020
Veröffentlicht: 16. November 2020

© 2020 Lang et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Einleitung: Die ärztliche Arbeit ist geprägt vom Treffen von Entscheidungen, bei welchen digitale Techniken eine gute Unterstützung bieten können. In diesem Kontext erlangt Künstliche Intelligenz (KI) eine zunehmende Bedeutung. Die Herausforderung für die Ärzt*innen ist allerdings, fortwährend den Überblick zu Einsatzmöglichkeiten und Sinnhaftigkeit bei der Nutzung von KI zu behalten, um sie bei ihrer Tätigkeit effizient und sicher anwenden zu können. Daher müssen bereits während des Studiums entsprechende Kompetenzen vermittelt werden, damit die zukünftigen Ärzt*innen diesem Anspruch gerecht werden können.

Projektbeschreibung: Das interdisziplinäre forschungsnahe Lehr- und Lernprojekt „(Natur)Wissenschaft und Technik in der Medizin – NWTmed“ bringt Studierende an der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) aus der Medizin und naturwissenschaftlichen Fachbereichen strukturiert in Lehrveranstaltungen zusammen, mit dem Ziel bereits während des Studiums interdisziplinär und forschungsnah zu denken, zu lernen und zu arbeiten. Unter Einbezug lokaler Forscher*innen konnte ein „multi“disziplinäres Seminar zu Grundlagen, Methoden und Anwendungen der KI etabliert werden.

Ergebnisse: Die Teilnehmer*innen des Lehrangebots setzten sich aus unterschiedlichsten Studienbereichen zusammen, was einen interdisziplinären Austausch und eine angeregte Diskussion beförderte. Ein Zuwachs an Kenntnissen und die Steigerung des Interesses an der Thematik KI wurde in den Evaluationen festgestellt und die Bereitschaft zu weiterführendem Engagement von Seiten der Studierenden auch im Selbststudium wurde geäußert.

Diskussion und Schlussfolgerung: Das Themenfeld KI und dessen Relevanz ist im Medizinstudium noch nicht hinreichend abgebildet. Es bedarf einer curricularen Einbindung und einer Repräsentanz auch in Leistungsnachweisen sowie interdisziplinärer und forschungsnaher Lehrformate.

Schlüsselwörter: Künstliche Intelligenz, Interdisziplinäre Forschung, Interdisziplinäre Vermittlung, Evaluation, Lehren


Einleitung

Ein wesentliches Element der ärztlichen Arbeit ist das Treffen von Entscheidungen, wobei der Faktor Zeit häufig eine essentielle und limitierende Rolle einnimmt. Mit der rasant voranschreitenden Verfügbarkeit und Weiterentwicklung digitaler Techniken und Geräte und dem unmittelbaren online-Zugriff auf vielfältigste Informationsquellen ist die Hoffnung verbunden, dass hierdurch das Treffen ärztlicher Entscheidungen und das ärztliche Handeln nicht nur beschleunigt, sondern auch qualitativ weiter verbessert werden kann. Eine große Herausforderung an die digitalen Kompetenzen der Ärzt*innen ist allerdings, fortwährend einen Überblick über die digitalen Möglichkeiten zu behalten, um diese für ihre Tätigkeit effizient nutzen zu können, wofür gar eine spezielle ärztliche Weiterbildung diskutiert wird [1]. Daher ist es wichtig bereits während des Studiums strukturiert diese Kompetenzen zu vermitteln, damit die zukünftigen Ärzt*innen diesem Anspruch gerecht werden können [2], [3]. Als aktuell besonders relevant kann hier beispielhaft der Einsatz und die Entwicklung von KI benannt werden.


Projektbeschreibung

Das interdisziplinäre forschungsnahe Lehr- und Lernprojekt „(Natur)Wissenschaft und Technik in der Medizin – NWTmed“ wurde im Wintersemester 2017/18 am Fachbereich Medizin der JLU Gießen gestartet und zum Wintersemester 2018/19 um zwei naturwissenschaftliche Fachbereiche erweitert. NWTmed bringt Studierende aus der Medizin und den Naturwissenschaften strukturiert in Lehrveranstaltungen zusammen, um bereits während des Studiums interdisziplinär und forschungsnah zu denken, zu lernen und zu arbeiten [4]. Die Inhalte orientieren sich an den örtlichen Forschungsschwerpunkten und werden durch die Forscher*innen aus dem Arbeitsalltag heraus dargestellt. Dies erlaubt den Studierenden, Forschung nicht nur abstrakt, sondern authentisch und persönlich zu erleben und interdisziplinär zu reflektieren und zu diskutieren. Seit dem Wintersemester 2018/19 wird von erfahrenen KI-Nutzern [5], [6] ein „multi“disziplinäres Seminar im Wahlpflichtbereich (klinischer Studienabschnitt für Medizinstudierende; 2 CP für Naturwissenschaftsstudierende (3 CP mit gesonderter Projektarbeit)) zu Grundlagen, Methoden und Anwendungen der KI mit 11 Terminen (je 120 min.) in Form von Seminar, geleiteter Diskussion sowie Demonstration und konkreter Erarbeitung von Algorithmen angeboten. Die Inhalte und der Ablauf der Veranstaltung wurden im Projekt NWTmed abgestimmt [7].


Ergebnisse

Die Teilnehmer*innen (47 gesamt) gehörten den Fachrichtungen Biologie, Chemie, Geschichte, Rechtswissenschaft, Materialwissenschaft, Mathematik, Medizin, Medizinischer Informatik und Physik an. Eine Eingangsbefragung per Fragebogen aus dem Sommersemester 2019 ergab folgende Interessen: Überblick über Anwendungen verschiedener Bereiche und laufender Projekte, aktuelle/perspektivische Anwendung in der Medizin, Fehlerabschätzung von KI-Ergebnissen und technischer Einblick in KI-Prozesse, wirtschaftlicher Einsatz, Implementierung in Produkten, ethische Aspekte und von KI beeinflusster gesellschaftlicher Wandel. Dies wurde in den Seminaren abgedeckt mit den Leitthemen: KI im persönlichen Alltag, KI-Beispiele in der Medizin, wissenschaftliche Nutzung und Potenziale, Aufbau von neuronalen Netzen und Prinzipien des deep learning, und um Statistik-Grundkenntnisse, „NeuroTronics“ mit Parallelen von Biologie und Elektronik, radiologische Anwendungen, mathematische Beschreibung in KI-Verfahren, ethische Aspekte, angeleitetes Programmieren und praktisch-orientierte Umsetzung erweitert. Kritische Aspekte zur Ethik und Verantwortlichkeit, Grenzen und auch möglichen Gefahren konnten in Diskussionen behandelt werden. Bei der Abschlussevaluation mittels universitärer Lehrevaluationsbögen zeigte sich, dass die Mehrzahl der Evaluationsteilnehmer*innen (N=10 (niedrig aufgrund von Klausurphase)) sich eine Vertiefung der Themen und mehr verfügbare Zeit gewünscht hätte. Das selbst eingeschätzte Wissen stieg auf einer Likertskala (1-5) von anfänglich 2,3 auf 3,8. Das Interesse an der Thematik lag initial bei 4,3 und konnte auf 4,8 gesteigert werden. Besonders begrüßt wurde die unterschiedliche (fachliche) Betrachtungsweise mit theoretischen, praktischen und ethischen Überlegungen, der wertschätzende Umgang und die gemeinsam geführten interdisziplinären Diskussionen.


Diskussion

Der interdisziplinäre Ansatz zeigt sich sehr nachhaltig und motivierend auf Studierenden- und Lehrendenseite, bedarf aber einen Mehraufwand an Koordination und Abstimmung. Wissenschaftliche Expertise kombiniert mit fundierter Anwendungskompetenz direkt aus der naturwissenschaftlich-technischen Forschung verhelfen den Teilnehmer*innen zu einer kritischen Einschätzung einerseits und kreativen Offenheit andererseits, die deutlich über das Antrainieren dogmatischer Techniknutzungs-Kompetenz hinausgeht. Zwar ist die Durchführung bei motivierten Teilnehmer*innen im Wahlpflichtbereich sehr lebendig, jedoch sollten auch weniger mit der Thematik sensibilisierten Studierenden mit einer wissenschaftlich-vertieften Auseinandersetzung konfrontiert werden. Am besten eingeordnet in eine umfassendere Reihe zu Digitalisierungsthemen. Obwohl der KI in der Medizin eine stark zunehmende Bedeutung zugeordnet wird [8], scheint es, als fehle vielen Medizinstudierenden an Bewusstsein dafür sowie an der dadurch resultierenden Eigeninitiative. Auch ist vereinzelt eine Zurückhaltung festzustellen, die durch selbsteingeschätzt unzureichende Grundkenntnisse begründet sein mag. Dies gilt es mit niederschwelligen Angeboten und durch Darstellung der Relevanz auch in anderen Fachdisziplinen entgegenzuwirken. Eine Übertragbarkeit und Anpassung auch auf andere Standorte ist denkbar und wünschenswert. Eine Skalierung hin zu großen Semesterkohorten sollte in parallelen, diskussionsfähigen Gruppen erfolgen.


Schlussfolgerung

Das Interesse von Medizinstudierenden an der Thematik KI könnte durch eine strukturierte curriculare Einbindung und auch eine verstärkte Präsenz im NKLM [2] deutlich erhöht werden. Es empfiehlt sich bei dem interdisziplinären Ansatz, die Asymmetrie an Vorkenntnissen der teilnehmenden Studierenden aus den verschiedenen Studiengängen zu nutzen und bereits vorhandene studentische Expertise in die Lehre aktiv mit einzubeziehen.


Danksagung

Die Autoren danken PD Dr. Olena Linnyk für ihre Initiative einer KI-Lehrveranstaltung, Dr. Martin Obert für seine Expertise im Bereich Big Data-Management und beiden ganz herzlich für Ihre Offenheit gegenüber dem Lehrprojekt NWTmed.

Die Arbeit wird durch zentrale und dezentrale QSL-Mitteln der JLU Gießen sowie durch Mittel des Studienstrukturprogramms des Landes Hessen gefördert.


Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Ertl G. Brauchen wir einen Facharzt für Digitale Medizin? [Do We Need a Specialist Physician for Digital Medicine?] Dtsch Med Wochenschr. 2018;143(20):1421. DOI: 10.1055/a-0669-1618 Externer Link
2.
Haag M, Igel C, Fischer MR; German Medical Education Society (GMA), Committee "Digitization - Technology-Assisted Learning and Teaching"; Joint working group "Technology-enhanced Teaching and Learning in Medicine (TeLL)" of the German Association for Medical Informatics, Biometry and Epidemiology (gmds), the German Informatics Society (GI). Digital Teaching and Digital Medicine: A national initiative is needed. GMS J Med Educ. 2018;35(3):Doc43. DOI: 10.3205/zma001189 Externer Link
3.
Schreibgruppe Digitalisierung. Digitalisierung der Medizin: Konsequenzen für die Ausbildung. Schw Arztez. 2018;99(42):1441-1444.
4.
Lang J, Repp H. Die (Natur)Wissenschaft und Technik im Medizinstudium [Bericht über Entwicklungsprozess]. In: Jahrestagung der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA). Wien, 19.-22.09.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc11.1. DOI: 10.3205/18gma050 Externer Link
5.
Obert M. Are estimations of radiomic image markers dispensable due to recent deep learning findings? Europ Resp J. 2019;54:1901185. DOI: 10.1183/13993003.01185-2019 Externer Link
6.
Linnyk O. Dileptons and photons as probes of the quark-gluon plasma. Gießen: Justus-Liebig-Universität Gießen; 2015.
7.
Heinz S, Lang J, Lange U, Linnyk O, Repp H, Thoma M. Plasmamedizin, künstliche Intelligenz, Kernreaktionen und wie wir interdisziplinär von- und miteinander lernen. In: Gemeinsame Jahrestagung der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA), des Arbeitskreises zur Weiterentwicklung der Lehre in der Zahnmedizin (AKWLZ) und der Chirurgischen Arbeitsgemeinschaft Lehre (CAL). Frankfurt am Main, 25.-28.09.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. DocV26-06. DOI: 10.3205/19gma202 Externer Link
8.
Topol E. Deep Medicine: How Artificial Intelligence Can Make Healthcare Human Again (Englisch). New York: Basic Books; 2019.