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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Internetnutzung durch Studierende der Medizin: Wird in der Literatur zu Recht von einer Sucht gesprochen? Ein Meinungsbeitrag

Artikel Medizinstudierende - Mediennutzung

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  • author Ken Masters - Sultan Qaboos Universität, College für Medizin und Gesundheitswissenschaften, Abteilung für Medizinpädagogik und Informatik, Maskat, Oman
  • corresponding author Anne Herrmann-Werner - Universitätsklinikum Tübingen, Innere Medizin VI/Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Tübingen, Deutschland

GMS J Med Educ 2020;37(6):Doc58

doi: 10.3205/zma001351, urn:nbn:de:0183-zma0013511

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2020-37/zma001351.shtml

Eingereicht: 7. Oktober 2019
Überarbeitet: 18. März 2020
Angenommen: 15. April 2020
Veröffentlicht: 16. November 2020

© 2020 Masters et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

In den letzten Jahren gab es einen starken Anstieg der Anzahl akademischer Artikel, die die „Internetsucht“ von Studierenden der Medizin untersuchten. Der vorliegende Meinungsbeitrag betrachtet das Internet als eine Kommunikationsumgebung und ein medizinisches Informations-Tool innerhalb der ärztlichen Ausbildung. In diesem Kontext untersucht der Artikel den Internet Addiction Test (IAT) sowie die Kriterien, die in diesen Artikeln verwendet werden, und hinterfragt deren Annahmen und Schlussfolgerungen. Der Artikel argumentiert dann, dass das, was häufig als „Sucht“ angesehen wird, auch Hingabe an die Arbeit sein könnte.

Schlüsselwörter: Medizinstudenten, Internetabhängigkeit, Kommunikation


Einführung

Das Internet als Welt der Kommunikation

Im Jahr 1969 ging es bei Leonard Kleinrocks ersten Experimenten im Wesentlichen um eine größere und einfachere Kommunikation, die die Geburtsstunde dessen wurde, was dann das Internet werden würde [1]. Als sich das Internet weiterentwickelte und heranreifte, betonten die wichtigsten technologischen Influencer, wie Bill Gates und Tim Berners-Lee, das riesige Kommunikationspotential des Internets, insbesondere bei der Gesundheitsversorgung und in der Bildung [2], [3]. Später erlebte man mit der Einführung des iPhones und der anderen „Smartphones“ die Evolution des „Telefons“ zu einem leistungsfähigen mobilen Computer, bei dem das „Telefon“ lediglich eine Computeranwendung („App“) unter mehr als 2,5 Millionen Apps ist, die nunmehr online in App-Stores zur Verfügung stehen [https://www.statista. com/statistics/276623/number-of-apps-available-in-leading-app-stores/].

Jakobsons Kommunikationsmodell [4], das ein paar Jahre vor diesen ersten Schritten in Richtung Internet entwickelt wurde, ist heute noch genauso anwendbar, wie vor 60 Jahren, ungeachtet der Tatsache, dass das Internet und mobile Geräte Veränderungen bzgl. Reichweite und Art und Weise menschlicher Kommunikation herbeigeführt haben, in der ein allgegenwärtiger Zugang zu Kommunikation vorausgesetzter Bestandteil des Lebens ist.

Internetimmersion

Die virtuelle Welt kann eine Faszination ausüben, die manchmal beunruhigend sein kann. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die virtuelle Welt aufhört, ein Anhängsel der körperlichen Welt zu sein, und die Situation sich umzukehren scheint. Die Umkehrung spiegelt sich schon jetzt in sprachlichen Veränderungen wider: schon seit einiger Zeit bedeutet „Post“ „E-Mail“, und wir bezeichnen Papierbriefe als „Schneckenpost“; in Online-Kommunikationsgruppen meinen „Meeting“ und „sich sehen“ Kommunikationen in der virtuellen Welt, und Nutzer sprechen von Charakteren in der „meatworld [Fleischwelt]“, wenn sie sich auf Personen in der realen Welt beziehen.

Online-Sucht

Noch beunruhigender ist jedoch, dass die Menge an Zeit, die online verbracht wird, Wesenszüge einer Sucht zeigt. Es gibt so viele Artikel zum Thema Internetsucht, dass eine umfassende systematische Überprüfung zum Thema – jenseits des Umfangs dieses Artikels – erforderlich wäre, um eine angemessene Übersicht über Anzahl und Umfang der Diskussion zu geben, aber es lässt sich mit Sicherheit sagen, dass die Diskussion sich bereits längst jenseits dessen bewegt, ob man von einer Sucht sprechen kann oder nicht, sondern es geht vielmehr um das Ausmaß, in dem die Sucht besteht. Tatsächlich sprechen viele Aufsätze nicht mehr von Internetsucht im allgemeinen Sinn, sondern konzentrieren sich eher auf soziale Medien oder auf bestimmte Portale sozialer Medien, wie z. B. Facebook. Zum Beispiel erbrachte eine Literaturüberprüfung im Jahr 2014 zu Facebook-Sucht [5] 24 Studien zu dem Thema, und das zu einem Zeitpunkt, als Facebook kaum 10 Jahre alt war.

Die Sucht von Studierenden der Medizin nach virtuellen Aktivitäten ist auch zunehmend Gegenstand detaillierter Studien. Die Autoren dieser Aufsätze führten eine kurze PubMed-Suche mit den Suchbegriffen „Studierende der Medizin“ und „Internetsucht“ durch, die seit September 2009 veröffentlicht wurden (unter Einbeziehung eines Zeitraums von 10 Jahren) und erhielten 42 Ergebnisse, die fast alle 2018 oder 2019 veröffentlicht wurden.

Diese Aufsätze verwenden als Messinstrumente und Kriterien typischerweise Variationen des Internet Addiction Test (IAT) [6], [7], [8], und berichten dann über Statistiken mit hohen Zahlen zur Internetnutzung [7], [8], [9], oder spezieller Einzelheiten, wie z. B. „Die Mehrheit (82,3%) der Teilnehmer berichtete, dass sie mindestens häufig länger online blieben, als beabsichtigt“, „…und dass wegen nächtlicher Internetnutzung ihr Schlaf zu kurz gekommen sei (70,8%)” und “[S]tudienbefragte berichteten auch über gesundheitliche Probleme, einschließlich Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Gewichtszunahme, Nackenschmerzen und sonstige psychologische Probleme im Ergebnis der Internetnutzung“ [6].

Onlineaktivitäten

Es gibt gute Gründe für Bedenken hinsichtlich dieser Statistiken, der Vorstellung, dass Studierende der Medizin internetsüchtig sind und dass sie durch diese Sucht so schwerwiegend negativ beeinträchtigt werden.

Aber zeigen diese Aufsätze eine ausgewogene und gerechte Darstellung der Situation? In dem vorliegenden Meinungsbericht geht es uns darum, das allgemeine Narrativ zu dekonstruieren, um mehr Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken. Wir beginnen mit einer Beschreibung der Geschichte und den Merkmalen des IAT, und untersuchen dann das Wesen des Internets als komplexe Umgebung und moderne Bibliothek, um danach nochmals den IAT im Licht dieser Untersuchung zu reflektieren. Wir wenden uns dann im Detail Literaturquellen zu, hinterfragen deren Annahmen hinsichtlich einer Internetnutzung sowie deren Verwechslung von Korrelation und Kausalität. Dann diskutieren wir die durch das Internet verursachte Verschiebung von Kommunikationsansätzen und enden mit einem kurzen Ausblick auf mögliche zukünftige Untersuchungen, mit denen wir das Ausmaß, in dem Anlass für Bedenken bzgl. der Internetsucht von Studierenden der Medizin weltweit besteht, gerechter einschätzen können.


Internetsucht

Der Internet Addiction Test

Wir stellen gleich zu Beginn fest, dass es nicht den einen Internet Addiction Test (IAT) gibt. Der erste bekannte Versuch, ein solches Werkzeug zu konstruieren, erfolgte durch Kimberly S. Young im Jahr 1998 [10], der das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders IV [Diagnostik- und Statistik-Handbuch geistiger Störungen] (DSM-IV) verwendete, mit dem Fragebogen zu pathologischer Spielsucht als Leitfaden, und daraus acht Fragen entwickelte. Basierend auf diesen und zusätzlichen Kriterien haben seitdem andere Forscher eine Frageliste von etwa 20 Fragen aufgebaut, die üblicherweise für sich in Anspruch nehmen, auf DSM-IV und DSM-5 zu gründen.

Entnommen aus verschiedenen Referenzen, wie beispielsweise [6], finden Sie hier einige der Fragen im IAT, auf die mit „gelegentlich“, „regelmäßig“, „häufig“ oder „immer“ geantwortet wird.

Wie oft:
  • sind Sie länger als beabsichtigt online?
  • vernachlässigen Sie Aufgaben im Haushalt, um mehr Zeit online zu sein?
  • machen Sie online neue Bekanntschaften mit anderen Internetnutzern?
  • beschweren sich andere über die Menge an Zeit, die Sie online verbringen?
  • reagieren Sie gereizt oder verärgert oder brüllen jemanden an, wenn Sie unterbrochen werden, während Sie online sind?
  • sind Sie übernächtigt aufgrund nächtlicher Internetnutzung?
  • merken Sie, dass Sie sagen „nur noch ein paar Minuten länger“ wenn Sie online sind?
  • entscheiden Sie sich, mehr Zeit online zu sein anstatt mit anderen wegzugehen?

Auf den ersten Blick könnte man leicht annehmen, dass die Gültigkeit dieser Fragen zum Bild einer Sucht beiträgt, wenn der Befragte viele der Fragen mit „häufig“ oder „immer“ beantwortet. Wir müssen uns jedoch daran erinnern, dass das Wort „Sucht“ eine klinische Diagnose ist (die viele weitere Facetten umfasst, wie z. B. Dauer), und nicht leichtfertig verwendet werden sollte. Außerdem ist Internet Addiction Disorder gegenwärtig nicht als Störung im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, fünfte Auflage (DSM-5) [11] oder seiner Ergänzung aus dem Jahr 2018 anerkannt [12], obwohl einige glauben, dem wäre so [6]. Daher müssen wir das Internet ein wenig genauer untersuchen und diese Fragen mit Hinblick auf diese Untersuchung überprüfen.


Das Wesen des Internets

Als komplexe berufsbedingte Umgebung

Das Internet ist ein Netzwerk äußerst disparater Dinge. Wenn man von online oder dem Internet spricht, meint man nicht eine einfache Sache, sondern eine riesige Sphäre von mehr als 1,7 Milliarden Websites [https://www.internetlivestats.com/total-number-of-websites/] und mindestens 4,5 Milliarden Menschen [https://www.internetworldstats.com/stats.htm].

Unter den für diesen Artikel relevantesten Aspekten des Internets ist das Internet ein Arbeitsplatz, insbesondere für Studierende der Medizin. Die Medizinausbildung ist voll von Forschung dazu, wie das Internet und dessen Aspekte (einschließlich Methoden des E-Learning, M-Learning und Artefakte, wie bestimmte soziale Medien) von Studierenden der Medizin und Angehörigen der medizinischen Berufe genutzt werden sollte, kann und muss [13], [14], [15], [16]. In der ärztlichen Ausbildung ist das Internet ein Treffpunkt von Menschen und Informationen, die sie für ihre Arbeit benötigen. In Engeströms Activity Theory wird es direkt als Arbeitsmittel oder Instrument oder vermittelndes Artefakt eingeordnet [13], [17]. Es ist also faktisch das, was wir früher eine Bibliothek nannten.

Als eine Bibliothek

Diejenigen unter uns, die vor dem Jahr 2000 erstmalig eine Universität besucht haben, erinnern sich vielleicht noch an die Stunden des Studiums, die wir in der Bibliothek verbracht haben. Also schauen wir uns diese „Sucht“-Fragen noch einmal an, aber dieses Mal ersetzen wir „online“ oder „Internet“ mit „studieren“ oder „Bibliothek“. Es wäre eine nützliche Übung für alle Leser, die ihren Abschluss vor 2000 gemacht haben, diese Fragen mit „gelegentlich“, „regelmäßig“, „häufig“ oder „immer“ zu beantworten.

Wie oft:
  • waren Sie länger als beabsichtigt [in der Bibliothek]?
  • vernachlässigen Sie Aufgaben im Haushalt, um mehr Zeit [beim Studium oder in der Bibliothek] zu verbringen?
  • machen Sie neue Bekanntschaften mit anderen [Bibliotheks-] Nutzern?
  • beschweren sich andere über die Menge an Zeit, die Sie [beim Studieren oder in der Bibliothek] verbringen?
  • reagieren Sie gereizt oder verärgert oder brüllen jemanden an, wenn Sie unterbrochen werden, während Sie [studieren]?
  • sind Sie übernächtigt aufgrund nächtlichen [Studiums oder Bibliotheksnutzung]?
  • merken Sie, dass Sie sagen „nur noch ein paar Minuten länger“ wenn Sie [studieren oder in der Bibliothek] sind?
  • entscheiden Sie sich, mehr Zeit [beim Studium oder in der Bibliothek] zu verbringen anstatt mit anderen wegzugehen?

Außerdem, wenn irgendein Studierender des 20. Jahrhunderts aufrichtig sagen kann, er habe keine „Gesundheitsprobleme, einschließlich Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Gewichtszunahme [oder unbeabsichtigten Gewichtsverlust], Nackenschmerzen und sonstige psychologische Probleme“ [6] im Ergebnis des Studiums erlitten, vor allem beim Sitzen auf den, ach so bequemen, Universitäts-Bibliotheksstühlen, dann würden wir gern wissen, wie dieser Studierende überhaupt seinen Abschluss erhalten hat. Und das umfasst noch nicht einmal ausgelassene Mahlzeiten, vergessene Arztbesuche, vergessene Geburtstage – es ist allgemein bekannt, dass die Erlangung eines Doktorgrades und Familienverhältnisse …. am besten sagt man dazu so wenig wie möglich.

Hätte man Ihnen – basierend darauf – diese Fragen des IAT vorgelegt, hätten Sie sich wahrscheinlich in einer Reihe zusammen mit denjenigen befunden, bei denen man eine Abhängigkeit von Studium und Bibliothek diagnostiziert hätte. Entweder das oder Sie waren ein gewissenhafter Studierender, motiviert durch das Erreichen guter Noten oder vielleicht jemand, der verstanden hat, dass eines Tages das Leben von Patienten in Ihrer Hand liegen würde und dass Sie Ihre Studienzeit nach besten Fähigkeiten nutzen müssen.


Die Quellen

Oben haben wir einige Quellen zitiert, die den Einfluss ausgedehnter Internetnutzung aufzeigen. Wenn wir uns diese Quellen ein wenig genauer ansehen, stellen wir ein paar Trends fest:

Kein Hinweis auf Arbeit

Viele der zitierten Quellen geben keinen Hinweis darauf, dass im Internet studentische akademische Arbeiten erledigt werden, fast so, als wäre ihnen dieser Aspekt des Internets nicht bekannt. Wenn Forscher akademische Arbeit erwähnen, geschieht dies fast nur im Vorübergehen und wird dann ignoriert [7]. Wenn die Abhängigkeit gemessen wird, wird das Problem faktisch begriffen als Internet versus Arbeit, und die tatsächlichen Aktivitäten werden nicht im Detail untersucht [6], [7], [8], [18]; es ist so, als würden Internetaktivitäten und studentische akademische Arbeit sich gegenseitig ausschließen.

Warum das so ist, ist nicht völlig klar. Entweder entschieden die Autoren, dass die spezifischen Aktivitäten nicht wichtig genug wären, um untersucht zu werden, oder, falls sie sie untersucht haben, wurden diese Informationen von ihnen zurückgehalten. Und das ungeachtet der Tatsache, dass einige Autoren in ihrer Einführung anerkennen, dass das Internet Bildungszwecken dient [7], [9], [18], und andere (z. B. [6]) sogar einen Artikel gelesen und zitiert haben [19], der besonders darstellt, dass, wenn man in Betracht zieht, dass eine Menge der seitens Studierenden im Internet verbrachten Zeit arbeitsbedingt ist, die „Sucht“-Zahlen um etwa 50% sinken.

Die Außerachtlassung des Beitrags des Internets zur Arbeit war bereits in Youngs ursprünglichen acht Kriterien impliziert, wo in Punkt 6 gefragt wird „Haben Sie wegen des Internets den Verlust wichtiger Beziehungen, Ausbildungs- oder Karrieremöglichkeiten riskiert oder diese gefährdet?“ Die Implikation hier ist, dass sich der eigene Job, der Berufsweg oder die Ausbildung im Gegensatz zum Internet befindet, und nicht, dass diese davon abhängig sind. 1998 war diese Einstellung vielleicht verständlich; trotz Bill Gates’ Vision des Internets [2], haben viele Experten im Jahr 1995 noch immer die ernsthaften und geschäftlichen Zukunftsaussichten des Internets als „Quatsch“ angesehen [20]. Nach 2010 jedoch ist man ratlos beim Versuch zu erklären, wie ein Forscher an einer modernen Universität, der für jeden Aspekt seiner Arbeit auf das Internet angewiesen ist, nicht in Betracht ziehen konnte, dass Vieles am „suchthaften“ Internetverhalten stark durch Arbeits- und Studiendruck motiviert sein könnte.

Verwechslung von Korrelation und Kausalität

Es ist auch vielsagend, dass die Studien, die eine Korrelation zwischen Internet-„Sucht“ und schlechtem akademischem Abschneiden herstellen, dazu neigen, dem Ganzen einen einseitigen kausalen Effekt zuzuschreiben: Internetnutzung führt zu schlechter Leistung[7] , [18]. Die Aufsätze erwägen noch nicht einmal die Möglichkeit einer umgekehrten Kausalität: Studierende mit geringerer Leistungsfähigkeit versuchen ihr Verständnis (und ihre Noten) durch Nutzung des Internets für akademische Tätigkeiten zu verbessern, wie z. B. Lesen von Materialien und Anschauen von Anleitungsvideos. Die Forscher sprechen den offensichtlichen Widerspruch zwischen ihrer kausalen Interferenz und anderen Studien, die bildungsbezogene Vorteile des Internets aufzeigen, nicht an. Es ist fast so, als würde die Khan Academy [https://www.khanacademy.org/] nicht existieren. Ist es wirklich so unwahrscheinlich, dass mehr als 3,5 Millionen Menschen, die sich das Video der Akademie zum Blutfluss durch das Herz angeschaut haben [https://www.you-tube.com/watch?v=7XaftdE_h60], und die mehr als 1 Million Menschen, die sich ein Video zur linearen Regression angeschaut haben [https://www.youtube.com/watch?v=ZkjP5RJLQF4], dies nicht getan haben, weil sie „süchtig“ nach dem Internet waren, sondern hart arbeitende Studierende, die versuchten, komplexe Themen zu verstehen.

Diese Einstellung spiegelt sich auch auf andere, subtilere Art und Weise wider. Zum Beispiel fanden Grover et. al. einen Zusammenhang zwischen Internet-„Sucht“ und Burnout und Stress, und lieferten die unsubstantiierte angedeutete Schlussfolgerung, dass die Studierenden einen Burnout hätten, „weil sie es nicht schafften, die gewünschte Zeit mit der Nutzung des Internets zu verbringen“ [8]. Es ist schade, dass die Autoren nicht eine andere Möglichkeit in Betracht zogen: fleißiger zu arbeiten führt zu Burnout, und somit könnte die Nutzung des Internets dafür, mehr zu arbeiten, mit dem Burnout zusammenhängen und diesen verursachen.

Gleichermaßen finden Grover et. al. eine Korrelation zwischen „Sucht“ und der Beobachtung von Studierenden, „dass die Dienstälteren den Patienten gegenüber keine Empathie zeigen“ [8]. Wenn man bedenkt, dass so viel Forschung auf eine Reduzierung von Empathie gegenüber Patienten hinweist, wenn Studierende sich durch ihre aufeinanderfolgenden Abschlüsse arbeiten, würde man erwarten, dass Dienstältere relativ wenig Mitgefühl für Patienten zeigen, und somit ist es eine gute Sache, dass dies beobachtet wird. Eine interessante Forschungsfrage wäre: „Warum fällt dies internet-„süchtigen“ Studierenden häufiger auf als anderen Studierenden?“

Mangelnde Reflexion ihrer Forschung

Es ist schon einigermaßen ironisch, dass die Einstellung dieser Forscher zum Internet als etwas, dass der Arbeit schadet, besteht, wo doch diese Forscher selbst viele Stunden im Internet verbracht haben, um ihre Themen zu recherchieren und ihre Manuskripte auszuarbeiten, zu schreiben und einzureichen. Vielleicht hätten sie die Menge an Zeit, die sie im Internet verbracht haben, reflektieren sollen und sich fragen können, ob diese Zeit auf eine Internet-„Sucht“ hinweist oder einfach nur auf eine Hingabe an die eigene Arbeit – dasselbe Level an Hingabe, das wir gern bei Studierenden der Medizin sehen würden.

Als Medizinpädagogen haben wir oft gesehen, wie sich Studierende in den Klassen und auf den Stationen mit ihren Mobilgeräten und Laptops beschäftigen. Es wäre naiv, anzunehmen, dass sie alle arbeiten, aber es wäre gleichermaßen falsch, die Möglichkeit zu ignorieren, dass sich viele von ihnen mit didaktischen Aktivitäten befassen, wie z. B. vorbereitendes Lesen von Material, Suche nach erläuternden Informationen (einschließlich Definitionen, Übersetzungen und einfacheren Synonymen) oder Aufklären von Missverständnissen mit anderen Studierenden in der Klasse.


Eine Verschiebung der Kommunikation

Kommunikation, aber nicht mit körperlich Anwesenden

Dieser Artikel begann mit einer Beschreibung der frühen Internetentwicklung als Kommunikations-Tool. Diese Fähigkeit zur Anregung von Kommunikation ist das Wesentliche des Wertes des Internets, und in vielen Fällen sind die großen Mengen an Geräten und die Nutzung sozialer Medien einfach nur Kommunikation [5]. Was verwirrend ist, ist vielleicht, dass die Menschen, die die Geräte für die Kommunikation nutzen, nicht mit Menschen kommunizieren, die körperlich in der “meatworld” anwesend sind.

Während die Person am Gerät vielleicht als selbstsüchtig angesehen werden könnte, könnte man aber auch argumentieren, dass die anderen, die körperlich anwesend sind, selbstsüchtig sind – indem sie die unangemessene Forderung stellen, unaufhörlich im Fokus der Kommunikation zu stehen. Vielleicht schätzen wir die körperliche Anwesenheit von Menschen zu hoch ein und glauben aus irgendwelchen Gründen, dass unsere körperliche Anwesenheit eine Bedeutung besitzt, die die Bedeutung von Menschen übersteigt, mit denen der Gerätebesitzer online kommuniziert. Es gibt freilich nichts, das unsere angenommene Bedeutung rechtfertigt, außer soziale Konvention. Soziale Konventionen jedoch ändern sich. Warum sollte unser gegenwärtiger Rahmen von Konventionen (der sich offensichtlich rapide verflüchtigt) irgendeine besondere Wichtigkeit besitzen?

Es mag legitime Bedenken geben, wie die Kommunikation mit größeren Gruppen die Beziehungen zu unmittelbaren Gruppen schwächen kann, vor allem zu Familienmitgliedern. Dies geht man sicherlich am besten dadurch an, indem man die Beziehungen zu den Kindern stärkt, und wie wir Kommunikation nutzen, um diese Beziehungen zu entwickeln und zu erhalten. Diese Ansicht stimmt überein mit den Richtlinien, die vom Royal College of Paediatrics and Child Health [21] angeboten werden, das – unter Verweis darauf, dass es schädlich sein kann, wenn Kinder zu lange Zeit vor dem Bildschirm verbringen – Richtlinien anbietet, die sich auf Familienaktivitäten konzentrieren, einschließlich des gemeinsamen Erschließens von Materialien; ziemlich genau so, wie unseren Eltern geraten wurde, das Fernsehen effektiv zu nutzen.

Sinn für Kommunikation, nicht für sozialen oder beruflichen Status

Es gibt auch einen wichtigen Kommunikationsaspekt des Internets hinsichtlich einer faireren Würdigung der Fähigkeit von Menschen basierend auf Beiträgen und nicht auf weiteren irrelevanten Merkmalen. Obwohl es unterschiedliche Grade des Online-Status’ gibt, sind in vielen Online-Situationen Kommunikation und Beiträge anonym. Das hat den einzigartigen Vorteil, dass Menschen aufgrund ihrer Beiträge zur Kommunikation oder vorliegenden Aufgaben bewertet werden, und nicht anhand ihres Status‘ in der echten Welt. Es ist egal, ob du ein Teenager oder ein Professor bist: worauf es ankommt, ist dein Beitrag. Ein erstklassiges Beispiel wird vielleicht von Cory Doctorow gegeben, der sich an ein Online-Programmier-Team erinnert, das die frühen Computerprotokolle für RSS und XML entwickelte, und er spricht über einen Programmierer, Aaron Swartz, der

streitlustig, aber sehr klug war, und der viele gute Ideen hatte, und er kam nie zu den persönlichen Meetings, und sie (die anderen Programmierer) sagten: „Wann kommst du endlich mal zu diesen persönlichen Meetings?“, und er (Aaron) sagte: „Wisst ihr, ich glaube nicht, dass mich meine Mutter lassen würde; wisst ihr, ich bin gerade erst vierzehn geworden.“ Und ihre erste Reaktion war, „diese Person, dieser Kollege, mit dem wir das ganze Jahr über zusammengearbeitet haben, war dreizehn Jahre alt während der Zusammenarbeit, und jetzt ist er erst vierzehn.“ Und ihre zweite Reaktion war „… wir wollen ihn wirklich mal treffen.“ [22]

Wir sind nicht alle Aaron Swartz, aber wenn die Kommunikation von Menschen bewertet wird aufgrund ihrer Beiträge zum Gespräch, und nicht aufgrund ihres Alters, Geschlechts oder sonstiger Merkmale, dann ist es nicht verwunderlich, dass die Menschen sich eher an die virtuelle Welt halten, als an die „meatworld“.


Zukünftige Arbeit: Identifizieren der Aktivitäten

Es ist vielsagend, dass, während die „Internet Addiction Disorder“ weder im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, fünfte Auflage (DSM-5) [11], noch in den ICD11 Codes aufgeführt ist, das DSM-5 die „Internet Gaming Disorder“ [Internetspielstörung] aufführt und ICD11 die „Gaming disorder, predominantly online“ [Spielstörung, vorwiegend online] (6C51.0) auflistet. Das gibt uns einen Hinweis darauf, wohin es von hier aus geht. Wenn man anerkennt, dass Internetaktivitäten, und sogar die Nutzung von sozialen Medien, viel zu divers sind, um sie pauschal unter einer einzigen Überschrift zusammenzufassen, wäre es viel nützlicher, wenn Forscher spezifische Aktivitäten identifizierten und diese dann untersuchten. Es ist auch möglich, dass es eine „Abhängigkeit“ gibt, aber nicht vom Internet. Wenn man die Zeit berücksichtigt, die Studierenden der Medizin in dieser riesigen Bibliothek verbringen, ist es möglich, dass es sich hierbei um eine Arbeitssucht handelt.


Schlussfolgerung

Das Internet, so wie es sich dessen frühe Erschaffer vorgestellt haben, ist ein riesiges Netzwerk, das menschliche Kommunikation erleichtert. Für Studierende der Medizin ist ein entscheidender Aspekt dieser Kommunikation die Fähigkeit, Informationen zu beziehen und ihre eigenen Erkenntnisse beizutragen. Trotzdem hat die Forschung zur Internetnutzung von Studierenden der Medizin zu Bedenken hinsichtlich einer Internetsucht geführt. Der vorliegende Meinungsbeitrag argumentierte, dass diese Bedenken häufig aus einem Irrtum der Forscher resultierten, da Forscher einen fehlerhaften Test verwendeten, den Wert des Internets als eine elektronische Bibliothek und gemeinschaftliche Lern- und Arbeitsumgebung ignorierten, Korrelation und einseitige Kausalität verwechselten, ihre eigenen und widersprechende Beweise anderer sowie das Wesen der Internetkommunikation ignorierten.

Es mag der Internetnutzung durch Studierende der Medizin eine suchthafte Qualität anhaften, aber wir wissen, dass sie (und die meisten anderen Studierenden) das Internet als einen riesigen Reichtum an Wissen und als Kommunikationsphänomen nutzen, und, bis wir nicht ihre Aktivitäten und Gründe für diese Aktivitäten im Einzelnen untersucht haben, sollten wir sehr zurückhaltend dabei sein, ihre Internetnutzung als „Sucht“ zu klassifizieren.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

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