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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

(Selbst-)Reflexion und das Training professioneller Fähigkeiten im Kontext des zukünftigen „Arzt-Seins“ – eine qualitative Analyse medizinstudentischer Erfahrung bei LET ME ... keep you real!

Artikel Reflexion

GMS J Med Educ 2020;37(5):Doc47

doi: 10.3205/zma001340, urn:nbn:de:0183-zma0013404

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2020-37/zma001340.shtml

Eingereicht: 23. März 2019
Überarbeitet: 26. März 2020
Angenommen: 22. Juni 2020
Veröffentlicht: 15. September 2020

© 2020 Scheide et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, zu evaluieren, wie medizinstudentische Auseinandersetzung mit der eigenen professionellen Arztrolle schon während des Medizinstudiums in einem Seminar trainiert werden kann. Hierzu werden folgende Fragen beantwortet: Wie ist der Beitrag eines universitären Seminares, wie das an der TU München entwickelte und durchgeführte LET ME ... keep you real!, zu einer medizinstudentischen Auseinandersetzung mit dem Arzt-Sein zu erfassen? Und: Welche Fähigkeiten werden aus Studierendensicht hier trainiert, um medizinstudentische Selbst-Reflexion zu praktizieren?

Methodik: Datengrundlage bilden die Aussagen von Medizinstudierenden, die an dem Seminar LET ME ... keep you real! von 2016 bis 2018 teilgenommen haben. Mit Hilfe von fünf Fokusgruppendiskussionen mit insgesamt 26 medizinstudentischen Teilnehmenden und zwei Einzelinterviews wurden Studierendenperspektiven analysiert. Anhand des interpretativen Paradigmas und unter dem Credo eines methodischen Entdeckens der medizinstudentischen Lebenswelt wurden die spezifische medizinstudentische Lernerfahrung sowie die Fähigkeiten zur (Selbst-)Reflexion herausgearbeitet.

Ergebnisse: Die auf die Evaluation des Seminares ausgerichteten Forschungsfragen lassen sich wie folgt beantworten: Aus Studierendenperspektive kann die, durch LET ME ... keep you real! evozierte und geordnete, (Selbst-)Reflexion als das Einüben eines Metablicks gesehen werden. Es lassen sich aus Studierendensicht fünf Fähigkeiten herausstellen, die diese Verhaltensweise ermöglichen:

1.
Hinterfragen und Zweifeln,
2.
relevante Perspektiven erkennen,
3.
Sichtweise einordnen,
4.
gemeinschaftlichen Austausch pflegen und
5.
sich für eine (alternative) Position entscheiden.

Situativ kommen diese Fähigkeiten oft kombiniert zur Anwendung und fordern Studierende sowohl auf intellektueller und kommunikativer als auch auf emotionaler Ebene.

Schlussfolgerung: Die Fähigkeiten zur (Selbst-)Reflexion sollten durch geeignete Hilfestellungen stärker Eingang in die universitäre medizinische Lehre finden, vor allem, weil es Studierende vor spezifische Herausforderungen stellt, sich (selbst-)reflexiv zu ihrem zukünftigen eigenen Arzt-Sein und den Arztrollen zu verhalten. Die hier aus einer Medizinstudierendensicht herausgearbeiteten Fähigkeiten können als Orientierung genutzt werden, um Seminare zur medizindidaktisch angeleiteten professionellen (selbst-)reflexiven Identitätsentwicklung bei Medizinstudierenden zu entwickeln.

Schlüsselwörter: Sozialisierung, soziale Identifikation, Selbsteinschätzung, Selbstreflexion, professionelle Rolle, medizinische Wissenchaft, Medizinerzählung, Fachkompetenz, Evaluationsmethoden, Lehrmethoden


Einleitung: Sich mit dem Arzt-Sein auseinandersetzen

Eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Arzt-Sein ist während der ärztlichen Ausbildung wünschenswert. Dazu gehören das Umgehen mit den grundlegenden Arztrollen, festgeschrieben vom Royal College of Physicians und Surgeons of Canada (CanMEDS) [1], sowie das Erlernen der ärztlichen Kompetenzen, herausgestellt im Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM) [2]. Sie sind hilfreich, um sich die hohen Anforderungen an eine ärztliche Person vor Augen zu führen. In diesem Zusammenhang werden, neben verantwortungsbewusstem Umgang mit zahlreichen gesundheitlichen, ethischen, professionsbezogenen, sozialen und interaktionsbezogenen Herausforderungen, auch personenbezogene Selbsterkenntnis, Selbstkritik und Selbstentwicklung und allen voran die Selbstreflexion im NKLM als kompetente professionelle Verhaltensweisen explizit benannt [http://www.nklm.de]. Schön hat die Notwendigkeit der reflektierenden Verhaltensweise für professionell Praktizierende bereits festgestellt und untersucht [2]. Reflexion ist damit auch als wertvolle Verhaltensweise im ärztlichen Alltag anzusehen. Während des Medizinstudiums kann der Versuch unternommen werden, eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Arzt-Sein bereits anzugehen, um sich zumindest mental auf die später einzunehmende ärztliche Rolle vorzubereiten. An dieser Stelle sollen die konkreten Situationen, in denen Erfahrungen, Gedanken und Gefühle in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Arzt-Sein für spätere Ärzte konstruktiv sind, als Lernerfahrungen der Reflexion in den Fokus gerückt werden. Dies wird möglich, wenn Momente der Reflexion als Teil der professionellen ärztlichen Identitätsbildung betrachtet werden. Cruess et al. beschreiben professionelle Identitätsentwicklung als einen sozialen Internalisierungsprozess, der schon bei Medizinstudierenden einsetzt und auch didaktisch unterstützt werden sollte: „Understanding that students acquire their identity by playing a role over time until the details of that role become internalized can guide the nature of educational interventions“ [3].

Eine Vielzahl an Studien stellt hierfür bereits die Relevanz reflexiver Verhaltensweisen heraus und fordert stärkeres Einbeziehen von Reflexion in die medizinische Ausbildung. Uygur et al. integrieren diese Studien und geben so einen Eindruck von effektiven Lehrmethoden zum Entwickeln ärztlicher Reflexion. Ein Ergebnis ihres Reviews ist, dass Richtlinien für reflexionsanregende Schreibaufgaben sowie stützendes Feedback zu den produzierten Schriftstücken gewinnbringende Methoden zum Lehren von Reflexion darstellen, weil sich hier die stärkste Evidenz messen lasse. Sie räumen jedoch auch ein, dass es an einer einheitlichen Definition des unter Reflexion verstandenen Prozesses fehle [4]. Auch jenseits der Diskurse um Evidenz und Messung von Lernerfolgen wird die reflektierende Person mit ihren Affekten, Einstellungen und ihrem Entwicklungspotenzial in der medizindidaktischen Literatur als Untersuchungsthema bereits anerkannt. Hier wird jedoch auch auf unterschiedliche erkenntnistheoretische Zuschnitte und die dominierende Wirkung eines, den medizindidaktischen Diskurs vereinheitlichenden, Fokus auf einstufende Bewertungen und Evidenz hingewiesen [5]. In einer jüngst erschienen Studie werden zwei übergreifende Bezugsthemen benannt, die für eine Auseinandersetzung mit der eigenen professionellen Identität auf Medizinstudierendenseite wichtig sind: Die Reflexion des eigenen sozialen Status (being) und die Reflexion des Zielstatus (becoming). Die Resultate dieser Studie zeigen außerdem deutlich, dass sowohl Eigenbeobachtungen (me-to-me reflections) als auch die Beobachtungen soziokultureller Kontexte (me-to-them reflections), in denen Medizinstudierende eine professionelle Identität entwickeln, von tragender Bedeutung sind [6]. Es zeigt sich also, dass Reflexion je nach erkenntnistheoretischem Ausgangspunkt unterschiedlich verstanden und untersucht werden kann. Unser Artikel knüpft bei einer möglichen medizindidaktischen Unterstützung von Studierenden der Medizin im Zusammenhang mit diesen vielfältigen Reflexionsmöglichkeiten im Rahmen eines universitären Seminares an.

Das 2016 an der Fakultät für Medizin der TU München zum ersten Mal angebotene Seminar LET ME ... keep you real! beruft sich auf die professionelle Subjektivität in der Auseinandersetzung mit dem Arzt-Sein [7], [8]. Mit Blick auf Evaluation des Lerninhaltes und medizindidaktische Theoriebildung beantworten wir mit diesem Artikel zwei Fragen: Wie ist der Beitrag eines universitären Seminares zu einer medizinstudentischen Auseinandersetzung mit dem Arzt-Sein zu erfassen? Und: Welche Fähigkeiten werden aus Studierendensicht bei LET ME ... keep you real! trainiert, um medizinstudentische (Selbst-)Reflexion zu praktizieren?


Methoden

Das für diesen Artikel explizierte Thema und die vorrangig als Datengrundlage dienenden Fokusgruppendiskussionen waren Teil einer ethnografisch und evaluativ angelegten Begleitforschung zum LET ME-Programm. Diese entsprach dem interpretativen Paradigma und betonte die subjektive Natur des Verständnisses menschlicher Erfahrungen und der Erschaffung von Realität, um den Nutzen des Ausbildungsinhalts zu bestimmen [9]. In unserem Forschungsvorhaben ging es zum derzeitigen Zeitpunkt erst einmal darum, die Wirkungen eines Seminares wie LET ME ... keep you real! aus der Lebenswelt der Studierenden heraus zu verstehen. Dies war aus unserer Sicht in einem ersten Schritt am besten über das Vorgehen des methodischen Entdeckens gewährleistet, weil hier ohne theoretische Einschränkungen den Relevanzen der Teilnehmenden eines Feldes gefolgt werden konnte [10]. Dies bedeutete in der Praxis erst einmal nicht mehr und nicht weniger, als die Meinungen medizinstudentischer Teilnehmender zum Seminar und ihre Lernmomente in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Arzt-Sein zu sammeln und als solche in ihrer Vielfältigkeit ernst zu nehmen. Angelegt als Begleitforschung folgte das Vorgehen dabei dem Duktus qualitativer Evaluationsforschung mit dem Prinzip der „Responsivität“, d.h. dass Forschung und Entwicklung nicht unabhängig voneinander agierten, sondern kommunikativ wechselwirkend verstanden wurden [11]. Unsere Entdeckungen wurden so im Hinblick auf medizindidaktische Überlegungen formuliert und die wissenschaftlichen Erhebungen auch in Bezug auf ihre medizindidaktischen Auswirkungen reflektiert. Es wurden 32 Kriterien zur Berichterstattung qualitativer Studien, die Consolidated criteria for reporting qualitative research (COREQ), zur Einordnung und Darstellung der Forschungsergebnisse für diesen Artikel hinzugezogen [12].

Medizindidaktischer Kontext und thematischer Fokus

LET ME ... keep you real! ist ein Angebot unter weiteren im LET ME-Programm. Letzteres umfasst auch Veranstaltungen mit anderen Schwerpunkten des Arzt-Seins umfasst, sowie einen Lesekreis. Ein Grundgedanke des LET ME-Programmes (kurz für Lettered Medicine/Lettered Medical Education) lautet, dass die subjektive Dimension von Betroffenen wie Behandelnden in Anbetracht professioneller wie persönlicher Herausforderungen des medizinischen Alltags eine entscheidende Rolle spielt [13]. Die Kurse des Programmes LET ME speisen sich aus theoretischen Konzepten der medizindidaktischen Strömungen der Professional Identity Formation [14], den Critical Medical Humanities [15] und der Narrative Medicine [16]. Vor diesem Hintergrund wurde LLET ME ... keep you real!, das zweiteilige Pilotprojekt von LET ME, im Wintersemester 2016/17 zum ersten Mal erfolgreich durchgeführt und in den folgenden Semestern – teilweise leicht überarbeitet – wiederholt. In zwei Einheiten à vier Stunden kamen voranging die beiden zentralen Methoden der Narrative Medicine – close reading und reflective writing– zum Einsatz [16]. Konkret heißt close reading, das sowohl literarische Text- als auch Filmausschnitte einer genauen Beobachtung unterzogen und gemeinsam diskutiert wurden. Im anschließenden reflective writing bekamen die Studierenden dann darauf abgestimmte Schreibaufgaben, bei denen sie ihre eigenen Positionen zu den Themen der Text- und Filmausschnitte ausformulierten, um diese schließlich sich gegenseitig vorlesen und gemeinsam besprechen zu können. Darüber hinaus war es auch Teil des Konzeptes, beide Einheiten ergebnisoffen zu gestalten, so dass auch minutenlange thematische Abweichungen stattfinden durften und gemeinsam diskutiert werden konnten. Geleitet wurden beide Seminare von einem geisteswissenschaftlichen Moderator und einem ärztlichen Experten. Es wurde in Bezug auf die Lehrendenrolle angestrebt, möglichst auf Augenhöre mit den Studierenden zu diskutieren und so ausdrücklich die vorgebende Dozentenrolle auf ein Minimum zu beschränken. Stattdessen sollten die Meinungen der Studierenden sowie die Meinungen des Moderators und des ärztlichen Experten als gleichwertig nebeneinandergestellt betrachtet werden. Das Seminar LET ME ... keep you real! wurde den Studierenden vorerst fakultativ als Wahlveranstaltung zum bestehenden Curriculum angeboten. Dabei war grundsätzlich jedem der Studierenden die Teilnahme gestattet, unabhängig vom Studienabschnitt, wobei die Teilnahme auf 8-13 Teilnehmende begrenzt wurde. Von 2016-2018 haben insgesamt 54 Medizinstudierende an LET ME ... keep you real! teilgenommen.

Reflexivität der Forschenden

Eine Soziologin (LS) konzipierte den Forschungsprozess, führte die Datenerhebungen durch, analysierte das Material und entwickelte die relevanten Forschungsfragen. Dies erfolgte in ständiger Diskussion mit dem Entwickler des Seminarkonzeptes (DT, Kulturwissenschaftler, M.A.), dem in die Entwicklung und Durchführung involvierten Arzt bzw. Medizindidaktiker (POB, Prof. Dr. med.), studentischen Hilfskräften und der Forschendengruppe der Medizindidaktik der TUM. Die Forschende hatte sich ca. ein Jahr lang mit der Konzeption und Durchführung qualitativer Evaluationsforschung [9], [11] in verschiedenen medizindidaktischen Bereichen an der TU München beschäftigt und auch auf Grundlage dieser Erfahrungswerte schließlich das Forschungsvorhaben im Rahmen des LET ME-Programmes entwickelt. Es bestanden keine Interessenkonflikte in der Rolle als forschende Soziologin und Angestellte im öffentlichen Dienst gegenüber den Medizinstudierenden der TUM. Die LET ME-Seminare wurden nicht mit Noten bewertet. Die Soziologin war daher auch nicht mittelbar in Notengebungsprozesse involviert.

Teilnehmende an den Fokusgruppen

Datengrundlage dieser Arbeit bildeten vorrangig Fokusgruppendiskussionen als dritte Sitzung des Seminares LET ME ... keep you real! In der ersten Sitzung des Seminars wurden die Teilnehmenden darüber informiert, dass Fokusgruppen stattfinden sollten. Pro LET ME ... keep you real!-Veranstaltung wurden je nach Teilnehmerzahl 1-2 Fokusgruppen mit je drei bis sechs Personen begleitet, wobei insgesamt fünf Fokusgruppen mit 26 Medizinstudierenden und je einer interviewenden Person im Zeitraum von 2016-18 durchgeführt wurden. Die Dauer der Fokusgruppendiskussionen lagen zwischen 1 h 30 min und 2 h 10 min. Die jüngste teilnehmende Person der TUM an einer der Fokusgruppen ist im Jahr 1997 geboren, die älteste im Jahr 1980. Zur Zeit des Seminares befand sich die Person mit der niedrigsten medizinstudentischen Erfahrung nach Semester im 5-ten Fachsemester, die mit der meisten medizinstudentischen Erfahrung im 13-ten Fachsemester. Bei einer Seminareinheit kam aufgrund fehlender Teilnahmebereitschaft auf Studierendenseite keine Fokusgruppe zustande. Stattdessen wurden zwei Einzelinterviews von 1 h 25 min und 1 h 17 min geführt. Die Teilnahme an den Fokusgruppen war freiwillig.

Datenerhebung

Die erste Fokusgruppe fand erst ein halbes Jahr nach der ersten Veranstaltung von LET ME ... keep you real! statt. In ihr ließen sich erste Rückschlüsse auf die Wirkung des Seminares ziehen. Es wurde sich auch weiterhin für die Erhebungsmethode der Fokusgruppe entschieden, nun aber direkt eine Woche nach dem Seminar. Dies eröffnete uns die Möglichkeit, Einblick in die Gedanken und Gefühle der Studierenden in Bezug auf die Verhaltensweisen im Seminar zu erlangen. Außerdem sollten die Studierenden durch die Fragen dazu gebracht werden auch selbstverständliches Hintergrundwissen zu explizieren. Zum anderen hofften wir durch die Gruppengröße von drei bis sechs Personen, auch ruhigere Seminarmitglieder zum Mitreden zu animieren, deren Perspektive im Seminar eher außen vor geblieben war. Eine Woche nach dem Seminar konnten die Studierenden, so unser Eindruck, noch recht detailreich von ihren Erfahrungen im Seminar berichten. Nicht zuletzt wurden die Fokusgruppen auch von den teilnehmenden Studierenden als sinnvolle Ergänzung zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Arzt-Sein und als weitere Möglichkeit des Austauschs von den teilnehmenden Studierenden wahrgenommen. Die Forscherin war hier als Moderatorin eingesetzt, der Arzt sowie der Entwickler des Seminars waren nicht anwesend. Den Teilnehmenden wurde zugesichert, dass die geäußerten Meinungen nur in anonymisierter Form an Entwicklung und Führungsebene weitergegeben würden.

Jede Fokusgruppe wurde durch eine Erzählaufforderung durch die Interviewerin eröffnet, um nicht nur auf das Seminar LET ME ... keep you real! sondern auch insbesondere auf Erfahrungen abzuzielen, die außerhalb des Seminares lagen. Die Einstiegsfrage des Leitfadens lautete:

Habt ihr euch schon einmal Gedanken darüber gemacht, was es heißt, einmal ein Arzt/eine Ärztin zu werden?
(Dann die einzelnen Personen ansprechend:) Erzähl mir von einer konkreten Situation, in der Dir etwas dazu in den Sinn kam…

Wenn die Studierenden dann über ihre allgemeinen Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Arzt-Sein ins Gespräch gekommen waren, wurde der Seminarbezug hergestellt:

Was hat das Seminar mit euch gemacht?

Dieser Einstieg wurde durch vertiefende Fragen ergänzt, um reflektierte Äußerungen und tiefere Einsichten zum Untersuchungsgegenstand zu erhalten [17]. Die Studierenden wurden so dazu angeleitet, das Seminar LET ME ... keep you real! zu beschreiben, zu bewerten und die empfundenen Lerneffekte zu äußern sowie ihre Meinungen zum Seminar zu diskutieren. Auf Grundlage von Audioaufzeichnungen wurden Transkripte angefertigt, diese dienten als grundlegendes Datenmaterial.

Datenanalyse

Die Fragestellung wurde aus dem Datenmaterial heraus Stück für Stück konkretisiert. Die anfängliche grobe Fragestellung lautete: Wie entwickelt man ein Verständnis des eigenen Arzt-Seins? Und: Wie stößt man dieses Verständnis an? Nach einem ersten Überblick über das entsprechend dieser groben Fragestellung relevante Material wurden medizindidaktisch relevante Stellen ausgewählt. Des Weiteren wurden die relevanten Teile der Transkripte von der Forschenden mit Hilfe der Software MAXQDA 12 (VERBI GmbH, Berlin, Germany) offen codiert. Das heißt, verschiedene Sinneinheiten des Materials wurden entsprechend unserer groben Fragestellung durch die gleichen oder unterschiedliche Benennungen ausgewählt, sortiert, verglichen und in Relation gesetzt, um einen analytischen Mehrwert zu gewinnen [10], [18]. Die Erkenntnisse in Bezug auf die Fragestellung dieses Papers wurden vorrangig anhand von in vivo-codes entwickelt [19]. Das heißt, es wurde darauf geachtet, möglichst nah an den von Studierenden gewählten Formulierungen zu bleiben. Es wurden danach vor allem jene Textstellen tiefer ergründet, in denen die Verhaltensweise beschrieben wurde, die durch ein Seminar wie LET ME ... keep you real! aus Studierendensicht besonders trainiert würde (s. das Kapitel: Der Beitrag des Seminares LET ME ... keep you real!: (Selbst-)Reflexionsvermögen als Metablick lernen). Aus den differenzierten Beschreibungen und Bewertungen zahlreicher Seminarsituationen wurden zudem die unterschiedlichen medizinstudentischen Fähigkeiten und ihre Merkmale abstrahiert. Ihr Zusammenspiel schien die im Seminar evozierte Verhaltensweise aus Medizinstudierendensicht erst hervorzubringen. Außerdem wurden die studentischen Bewertungen und Verbesserungsvorschläge in Bezug auf das Seminar miteinbezogen und analysiert. So wurde festgehalten, in welcher Weise einzelne Seminarelemente dem Erlernen einzelner oder mehrerer der genannten Fähigkeiten aus Medizinstudierendensicht zuträglich bzw. abträglich sein konnten (s. das Kapitel: Training studentischer (selbst-)reflexiver Fähigkeiten in LET ME ... keep you real!). Mit Blick auf die Evaluation des Lerninhaltes und medizindidaktische Theoriebildung haben wir die grobe Fragestellung auf zwei Fragen zugeschnitten: Wie ist der Beitrag eines universitären Seminares zu einer medizinstudentischen Auseinandersetzung mit dem Arzt-Sein zu erfassen? Und: Welche Fähigkeiten werden aus Studierendensicht bei LET ME ... keep you real! trainiert, um medizinstudentische (Selbst-)Reflexion zu praktizieren? Wir zitieren zur Darstellung im Text jeweils ein Datenbeispiel aus einer der Fokusgruppen FG1 bis FG5 oder aus den Einzelinterviews EI1 und EI2, die alle im Zeitraum vom 24.05.2017 bis 07.05.2018 stattgefunden haben. Außerdem werden in Anhang 1 [Anh. 1] unsere Codes und ihre Gruppierung dargestellt. Sie dient als Übersicht und Ergänzung zum Text. Abbildung 1 [Abb. 1] zeigt ein SOLL-Profil, das die Codes in ihrer Verbindung als verschiedene Ebenen der (Selbst-)Reflexion darstellt und als Merkhilfe dienen kann.

Ethik

Es wurde den Studierenden vermittelt, dass es im Rahmen des Forschungsschwerpunktes darum geht, ihre Perspektiven zu verstehen und so einen Einblick in die studentische Lebenswelt zu erhalten. Den studentischen Teilnehmenden wurde außerdem mündlich und schriftlich Anonymität zugesichert, sowie schriftlich ihre Einwilligung zur Teilnahme an der Forschung festgestellt. Das Einverständnis der Ethikkommission an der Technischen Universität München wurde eingeholt (495/18 S).


Ergebnisse: Reflexion und Selbstreflexion des Arzt-Seins aus Medizinstudierendenperspektive

In den folgenden Unterkapiteln führen wir zuerst studentische Beschreibungen der Seminarsituation aus, die Grundlagen für unsere Schlüsse über den Beitrag des Seminares zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Arzt-Sein als bestimmte Form der Reflexion und Selbstreflexion sind. Darauffolgend stellen wir tiefergehende studentische Beschreibungen und Bewertungen vor, von denen wir Fähigkeiten gelingender (Selbst-)Reflexion abstrahieren, die laut Medizinstudierendensicht in LET ME…keep you real! trainiert werden konnten.

Der Beitrag des Seminares LET ME ... keep you real!: (Selbst-)Reflexionsvermögen als Metablick lernen

Exemplarisch zeigt das folgende Beispiel, wie (Selbst-)Reflexion in einem universitären Seminar – im Sinne eines konstruktiven Wechselns zwischen „persönlicher“ Perspektive und „abstrakter“ (FG2) Metaperspektive – gelingen kann.

Student_in: „Ich finde, das hilft dann irgendwie, Argumente rauszuziehen, zu sammeln und darzustellen. […] Und das lernt man hier [im Seminar, Anmerk. L.S.] glaube ich auch. Einfach sich auszudrücken, Dinge zu lesen, darzustellen, Meinungen zu akzeptieren, andere Sachen und sich selber irgendwie zu positionieren und dann irgendwo einen Kompromiss zu finden.“ (FG1)

Zusammen mit anderen Stellen aus dem Material lässt sich eine gekonnte medizinstudentische Auseinandersetzung mit dem Arzt-Sein als reflexives und selbstreflexives Vermögen fassen. Dieses (Selbst-)Reflexionsvermögen erleichtert es, unterschiedliche Perspektiven auf die ärztliche Lebenswelt anzuerkennen und so in den Auseinandersetzungsprozess mit dem eigenen Arzt-Sein bewusst einzusteigen. Das Seminar kann hilfreich sein, um auch zukünftig mit Hilfe eines gekonnten Metablickes „in die Tiefe“ (FG4) gehen zu können oder einen erweiterten Blick zu erhalten.

Student_in: Man lernt so diesen Metablick, aus seiner eigenen Perspektive raus zu gehen und so ein bisschen das Ganze zu betrachten. (FG1)

Die Lernerfahrungen im Seminar umfassen zum Beispiel entstandene Diskussionen und eigene Gedanken. Diese Erfahrungen in Form einer Leistung zu bewerten wird durchaus als kritisches Unterfangen gesehen.

Student_in: […] wir müssen das ein bisschen auf die Professionalitätsschiene bringen, dass wir schon irgendwas produzieren, aber so, dass das Format so, wie wir es alle toll finden, auch irgendwie erhalten bleibt. […]
Interviewerin: Was ist deine Meinung dazu, oder, zu dem Kommentar, da muss was bei rum kommen, wenn ich das richtig so zusammenfasse.
Student_in: […] es kommt ja was dabei rum, und das kann man nicht messen. Das ist das Problem. Und das Problem an der gesamten Sache. (FG1)

(Selbst-)Reflexion durch den Einsatz geisteswissenschaftlicher und künstlerischer Reflexionsimpulse anzustoßen, kann außerdem zwar als „nette Abwechslung“ (FG3) und „Ansporn“ (FG3) aus Medizinstudierendensicht beschrieben werden, kann aber durchaus auch als „befremdlich“ (EI1) wahrgenommen werden. Der starke Diskussionsanteil im Seminar kann sogar unter den Verdacht der „Zeitverschwendung“ (EI2) geraten.

Student_in: Vielleicht als Kritik, aber das kann man also immer bei Kursen eigentlich anbringen, dass viel geredet wird, um irgendwie, häufig ohne Ergebnis. Und wir sind so drauf geeicht, dass wir sehr viel, in kurzer Zeit viel lernen müssen oder viel aufnehmen müssen, und wenn man dann viel redet ohne Ergebnis, das ist halt so ein bisschen/ manchmal hat man dann das Gefühl, okay, das war ein bisschen Zeitverschwendung. (EI2)

Es zeigt sich für manche medizinstudentische Person im Seminar aber auch, wie wichtig und notwendig unabschließbar eine eigene gelingende Auseinandersetzung mit dem Arzt-Sein sein darf. Dies wird dann als Gefühl der Sicherheit expliziert.

Student_in: […] es ist eine dieser Fragen, die einen, wenn man, ja, die einen halt auch ein Leben lang begleiten kann, was ist dieser Beruf eigentlich, warum mache ich ihn. […] Von daher, ja, mir hat es Sicherheit gegeben, dieses Seminar. Ich habe immer noch nicht so ein konkretes Bild, aber es ist okay. (FG4)

Der Seminarkontext befähigt im besten Fall dazu, den „Spagat zwischen der Medizin und der Gesellschaft“ (FG3) und das „breite Netz“ aufzuzeigen, in das ärztliche Personen verwoben sind (FG3), beispielsweise durch den „philosophischen Ansatz“ (FG3) des Moderators oder über die künstlerische schriftliche Darstellung des Blickes des Mediziners in einem Haiku (FG3).

Ein tieferes Verständnis kann sich auch in der Anerkennung der „Vielfältigkeit“ (FG4) des Arzt-Seins ausdrücken. So wird an anderer Stelle eine Unklarheit in Bezug auf „die Rolle des Arztes oder eine Rolle als Arzt vielleicht mal in der Zukunft, was das so bedeutet“ geäußert, die in dem Seminar durchaus „konkretisiert“ (FG4) wurde. Aus der eigenen Perspektive herauszugehen oder auch „das Ganze“ (FG1) mit Hilfe des Metablickes zu betrachten, kann, je nach gebotener Aufgabenstellung, eine Vielzahl an „Metaebenen der Medizin“ (FG5) umfassen, z.B. eigene Ideale (FG1), historische Entwicklungen (FG2), die Balance zwischen Beruf und Privatleben (FG3), unterschiedliche gesellschaftliche Rollenvorstellungen (FG4), ärztliche Fehlerkultur (FG5), aber auch die Arzt-Patientenbeziehung (EI1) und die eigene Biografie (EI2).

Training studentischer (selbst-)reflexiver Fähigkeiten in LET ME ... keep you real!

Der konstruktive Metablick zum Einüben von (Selbst-)Reflexion gelingt aus medizinstudentischer Perspektive im Seminar, wenn mindestens eine von fünf (selbst-)reflexiven Fähigkeiten in den Fokus des Trainings gerückt wird. Bestimmte Seminarelemente werden von Studierenden als zuträglich für das Training dieser Fähigkeiten dargestellt, während andere das Training eher hemmen.

Fähigkeit 1: Hinterfragen und Zweifeln

Ohne dass für die Studierenden eine unangenehme Atmosphäre entsteht, kann der Zugang zu einem freien und sinnhaften Zweifeln geebnet werden, wie im Folgenden geäußert.

Student_in: Und dass es [nachzudenken und Zweifel zu haben, Anmerk. L.S.] schon seinen Sinn hat, auch gerade, wenn man viel hinterfragt für sich und viel zweifelt oder so, was wir vielleicht alle machen, dass es auch unbefriedigend ist oder so oder man sich mal im Kreis dreht. (FG1)

Aus der alltäglichen medizinstudentischen „Komfortzone“ (FG1) herauszutreten, wird als Zugang zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Arzt-Sein beschrieben.

Student_in: In dem Seminar gibt es kein Richtig oder Falsch. Da gibt es Meinungen, da gibt es Gefühle, da gibt es kein das ist jetzt Schwarz-Weiß, und das macht es auch aus. Und dieses Schwarz-Weiß, dieses Denken auch, was man da entwickelt, das hatten wir im Studium nicht [besprochen, Anmerk. L.S.]. Da gibt es die Fakten und da gibt es die Sachen, die man nicht weiß. (FG1)

Dieses Heraustreten aus der Komfortzone stellt sich medizinstudentischen Personen dann als besonders erfolgreich dar, wenn es möglich wird, nicht nur die eigenen Positionen, sondern auch Perspektiven von Personen hinterfragen zu dürfen, die den Studierenden gegenüber normalerweise eine Machtposition innehaben. Durch die Regel der Gleichberechtigung aller Teilnehmenden können Studierende durchaus angeleitet werden, sich innerhalb eines Seminars „ein bisschen davon zu befreien von dieser Sozialisierung, die die ganze Zeit [durch das Medizinstudium, Anmerk. L.S.] stattfindet“ (FG4), was aber auch als verunsichernd bewertet wird und als schwierig, falls die eigene Motivation durch unzulängliche ositive Erfahrung im Bereich des Kritikübens fehlt (FG1).

Ergänzend wird geäußert, dass es hilfreich zum gelingenden Hinterfragen sei, Themen ansprechen zu können, die „immer noch als nebensächlich angesehen werden“ und bei denen es sonst „nicht erlaubt [ist, Anmerk. L.S.] zu sagen“, dass „es richtig schwer [ist, Anmerk. L.S.], damit umzugehen“ (FG4). Der Umgang mit eigenen Unsicherheiten (FG4) und Schwächen (FG2), ärztlichen Fehlentscheidungen (FG3), dem Tod von Patienten (FG5) oder Hierarchiedenken in der Medizin (FG1) sind zum Beispiel solche aus Studierendenperspektive im Medizinstudium als nebensächlich angesehenen Thematiken.

Fähigkeit 2: relevante Perspektiven erkennen

Medizinstudierende stellen es außerdem als besonders wichtig heraus, Zugang zu den Meinungen und Erfahrungen anderer Personen zu bekommen. So kann der „andere Blick“ (FG5) erkannt werden. Relevante Andere können auch als „Vorbilder“ (FG2) oder als Negativbeispiele, die einen „ziemlich schockiert“ machen (FG4), herangezogen werden. Sie können außerdem „verschiedene Modelle“ des Umgehens präsentieren (FG4), die eigene Wirkung auf andere „spiegeln“ (FG4), sie können die eigene Sichtweise „realistisch“ machen (FG4 in Bezug auf den erfahrenen Arzt), Zugang zu einem „Generationenblick“ geben (FG3 in Bezug auf den erfahrenen Arzt) oder aufzeigen „wie das jetzt sozusagen für einen in einem normalen Niveau gerade wirkt“ (EI1 in Bezug auf den nicht-ärztlichen Moderator). Neue Einsichten sind zur Auseinandersetzung hilfreich, und zwar auch außerhalb der „kleinen Blase“ (EI2), in der sich manche Person im Alltag des Medizinstudiums sieht.

Möglichst heterogene Diskussionsgruppen (z.B. Student_innen aus allen Phasen des Studiums, erfahrene Kliniker_innen und Nicht-Mediziner_innen als Moderatoren) werden als hilfreich herausgestellt, um durch die Kombination verschiedener Perspektiven, auch sich widersprechender Aussagen, Diskussionen aus zahlreichen Perspektiven anzuleiten (FG4).

Student_in: Und ich fand auch interessant, also halt wie ähnlich oder auch wie unterschiedlich man oder wir halt so die Sachen gesehen haben, und gerade am Schluss also haben wir ja quasi so ein Meinungsbild gemacht, welche Qualitäten wir wichtig finden als Arzt. Und dann konnte man hinterher schon schauen […] was spricht die meisten an. (FG1)

Besonders kann das Herausstellen von Ähnlichkeiten und Unterschieden konstruktiv beim Erkennen relevanter Perspektiven sein, wie das Zitat illustriert. Dies in einer Gruppengröße von 10-12 Personen zu gewährleisten kann auch ein Problem darstellen.

Student_in: So ein wirklich intensives Gespräch kann man meiner Meinung nach nur zu zweit führen, also schon bei drei wird es ja schwierig, und bei zehn ist dann ja noch mal eine ganz andere Nummer. Aber gerade, wenn es um so abstrakte Dinge geht oder emotionale vielleicht auch, ich weiß nicht, da hilft es meiner Meinung nach, ein Thema wirklich von allen Seiten zu beleuchten, ohne Wertung, vielleicht auch mal alle Aspekte, die einem dazu einfallen, in den Raum zu werfen, aber das ist halt einfach schwer, wenn es viele Menschen sind. (FG4)

Diskutieren in der Gruppe kann auch mit einem gewissen „Argumentationsdruck“ (EI1) verbunden sein, dessen Bewältigung Medizinstudierenden unterstützungsbedürftig erscheinen kann.

Fähigkeit 3: Sichtweise einordnen

Es wird der Wunsch geäußert, dass es möglich sein sollte „selbst für sich in die Tiefe zu gehen“ (FG4). Hierzu wird es als hilfreich geäußert, sich – mündlich und schriftlich – ausdrücken zu wollen und zu können und literarische Texte, Filmsequenzen, sowie Anregungen Anderer in Bezug auf die eigene Lebenslage zu durchdenken. Ein detailliertes und präziseres Präsent-Machen der Selbstsicht, dessen „was vage in einem drin steckt“ (FG1), wird durchaus als Ergebnis des Seminars wahrgenommen. Offene Diskussionen in der Gruppe können dieses „auf-den-Punkt-bringen“ (FG1) stützen. Der Prozess des Präsent-Machens wird auch damit erläutert, zu sich selbst „ein bisschen Distanz“ einzunehmen (FG1) oder auch sich die Fragen zu stellen „Will ich das? Bin ich das?“ (FG4). Dies kann problematisch werden, wenn die nötige Zeit fehlt.

Student_in1: […] und man wird so von allen Seiten mit Ideen überschüttet und hat häufig nicht Zeit, selbst für sich in die Tiefe zu gehen in Bezug auf den Input, den man gerade gekriegt hat, weil dann gleich der Nächste kommt. (FG4)

Als Impuls zum Erlernen dieser Fähigkeit wird genannt, dass eine Moderator_in in einer „Metaposition“ unterschiedliche „Sichtweisen“ eines Themas zusammenfassen und festhalten kann und damit den Teilnehmenden „besser greifbar“ macht „wo sie sich da jetzt eigentlich einordnen würden“ (EI1).

Student_in: Und dann kann man vielleicht auch manche Differenzen, die jetzt sind, dann vielleicht gar nicht so stark wie sie dann zunächst einmal geschienen oder sie sind vielleicht genauso stark, aber man hat es dann irgendwie nochmal so klarer vor sich (EI1).
Fähigkeit 4: gemeinschaftlichen Austausch pflegen

Das Schaffen einer Gemeinschaft, die offene Diskussionen ebenbürtiger Gesprächspartner ermöglicht, so dass man „mit diesen Ängsten oder Sorgen nicht ganz allein dasteht“ (FG4) wird als hilfreich angesehen.

Student_in: Ich hab tatsächlich für mich eher das Gefühl, dass ich, ja ich will das gar nicht so kontrastieren, also ich hab glaube ich von den Erfahrungsberichten, von [POB, Anmerk. L.S] sehr profitiert, […] wo ich das Gefühl hatte, jetzt ist es im Raum, jetzt kann man drüber reden. […] Das war halt irgendwie gut, einfach für mich selber noch mal, hey, du musst nicht perfekt sein. Es geht den anderen auch so. Aber es geht darum wie du damit umgehst. Und dann weiß ich am Schluss viel besser auf was ich mich einstelle. (FG2)

Eigene Erlebnisse und Empfindungen in Bezug auf das Arzt-Sein „in den Raum“ (FG4) werfen zu dürfen und andere Meinungen zu akzeptieren ist als wichtig zu betrachten, um die Auseinandersetzung situativ zu vollziehen. Außerdem ist es wichtig, „Vertrauen“ zu Gesprächspartnern schöpfen zu können (FG4), so dass die eigene Meinung auch zu schwierigen Themen geäußert werden kann.

Hier wird auch benannt, dass es im Rahmen eines universitären Seminares hilfreich sei, Teilnehmende zu haben, „die auch da sein wollten“ (FG1). Außerdem besteht nach studentischen Angaben die Gefahr, „das Thema wieder woanders hin [zu, Anmerk. L.S.] lenken“ oder das Wort an jemand anderen weiterzugeben (FG4), z.B. wenn jemand als Autoritätsperson wahrgenommen wird. Der sichere Rahmen kann dann in Gefahr geraten und Gemeinschaftsgefühle können nicht entstehen. Hier wird durchaus auch diskutiert, inwieweit ein „intensives Gespräch“, das starke Gefühle hervorruft, in einer Gruppengröße wie im Seminar vorgesehen überhaupt möglich sei (FG4). Die Bewertung der geführten Diskussionen richtet sich auch auf das konsequente Verbinden verschiedener Redebeiträge und forcierte Rückfragen.

Student_in 1: Es gab natürlich Situationen, wo Dinge schon eher ausdiskutiert wurden, aber sonst habe ich schon eher den Eindruck, dass jemand was gesagt hat und dann vielleicht noch mal jemand was dazu gesagt hat, aber es einfach nicht der Rahmen da war, um da wirklich irgendwelche Gedanken weiterzuspinnen oder so, ja zu schauen, wie siehst du das jetzt eigentlich wirklich so[…]
Student_in 2: […] vielleicht habe nur ich damit einen Issue, aber ich fand es häufig sehr schade, dass das so.
[…]
Student_in 2: ... nicht benutzt wurde, was er [der erfahrene Arzt, Anmerk L.S.] gesagt hat, denn es hätte uns weitergebracht, glaube ich. (FG4)
Fähigkeit 5: sich für eine (alternative) Position entscheiden

Die notwendige Rückkehr aus der Metaperspektive, um eigene Schlüsse zu ziehen, kann sowohl für die Studierenden als auch für ein Seminarkonzept eine Herausforderung sein, wie schon die studentische Kritik herausstellt, in der ein ergebnisloses Diskutieren im Rahmen des Seminars unter den Verdacht der „Zeitverschwendung“ (EI2) gerät (siehe Kapitel 3.1). Auch der Wunsch nach neuer Positionierung zeigt sich in den Fokusgruppen in unterschiedlichem Maße. Auf kleinster Stufe kann er sich für den Moment schon allein im Formulieren wichtiger Fragen erschöpfen. Manche studentische Person beschreibt das Herausziehen neuer Ansätze als Anstoß für Veränderungen und die eigene Weiterentwicklung. Dies gehe einher mit dem Gefühl nun mit einer grundlegenden „Frage konfrontiert“ zu sein, mit der sich „jede“ Person konfrontiert sehe, die sich die „Anforderungen, die der Job bietet“ (FG3) bewusst mache. Das Konfrontieren mit ärztlichen Anforderungen wird durchaus als eine Qualität des Seminars bewertet.

Student_in: Aber was ich so mitgenommen habe, natürlich, bei uns hat das jetzt, ist jeder auch mit der Frage konfrontiert, und es kam oft im Laufe des Seminars, wie gehe ich selbst um mit den Anforderungen, die der Job bietet, wie schaffe ich es halt noch nebenbei, auch nebenbei ein lebenswertes Leben zu führen, und welche Opfer bin ich da bereit zu bringen so im Laufe meiner Karriere. (FG3)

Im günstigen Fall kann aber durch Diskussion im Seminar ein „neuer Ansatz“ generiert werden, um Veränderungen im Verständnis für das Arzt-Sein und seine moralischen Konsequenzen anzustoßen (FG1). Eine Interaktion zwischen Interviewenden und einer medizinstudentischen Person während einer Fokusgruppendiskussion beschreibt die Notwendigkeit der Anleitung dieser Fähigkeit durch die Seminarelemente.

Interviewerin: Aber was für euch persönlich ist jetzt das, was bei alle dem das ist, wo ihr sagen würdet, na ja, aber das sollten wir schon leisten, oder genau da muss ich die und die Entscheidung treffen. Das interessiert mich. Ist es dadurch ein bisschen verständlicher, was ich meine oder versteht man mich noch immer nicht so richtig? Dann versuchen wir es zusammen auf den Punkt zu bringen.
Student_in1: Ja, nicht, was die Erwartungen von anderen sind, sondern wo ich denke, so sollte ich, die Sachen sollte ich dann machen oder die Sachen!
Interviewerin: Genau. Also da interessiert mich einfach eure persönliche Perspektive. Vielleicht kommen da verschiedene Leute an unterschiedliche Punkte.
Student_in2: Also ich kann mir vorstellen, jeder von uns hat so das Bedürfnis, nicht nur diesen analytischen Blick zu entwickeln [gemeint ist hier der medizinisch naturwissenschaftliche Blick, der im Seminar als kaltes Arzt-Auge eingeführt wird, Anmerk. L.S..], der auch wichtig ist, aber natürlich auch eine persönliche Perspektive also beizubehalten und das halt in einer angebrachten Art und Weise. Klar. Also klar ist es manchmal wichtiger, sozusagen halt, ich weiß nicht, es gibt Situationen, wo Empathie wichtiger ist, manche, wo es wichtiger ist, halt nur so irgendeinen Katalog halt abzuarbeiten. (FG3)

Was durch die Nachfrage der Interviewerin bei der studentischen Person angestoßen wird, ist die Äußerung der Erkenntnis, dass konstruktive (selbst-)reflexive Verhaltensweisen den Moment der Entscheidung beinhalten. Eine weitere studentische Person äußert darauffolgend die Vermutung, dass medizindidaktische Hilfen für eine „angebrachte Art und Weise“ (FG3) des Perspektivenwechselns auf ein grundlegendes Bedürfnis von Studierenden reagieren könnten.


Diskussion: Beitrag von LET ME ... keep you real! zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Arzt-Sein

Mit der konkreten Fragestellung dieses Artikels wird durch unsere Analysemethode im Rahmen der am TUM MEC durchgeführten qualitativ ausgerichteten soziologischen Evaluationsforschung „den unterschiedlichen Relevanzsystemen von Forschern und Erforschten systematisch und in kontrollierter Weise Rechnung getragen“, ohne auf zuvor standardisierte Kategorien zurückzugreifen [18].

In Bezug auf Limitationen dieser Arbeit, insbesondere bzgl. der Samplingstrategie ist folgendes zu beachten: Die hier ausgearbeitete Studierendenperspektive ist eine Auswahl aus unserem Forschungsmaterial und damit immer eine Zusammenfassung. Außerdem ist sie, wie wir vermuten, eine notwendig abstrakte und idealisierte Darstellung einer Vielzahl von medizinstudentischen Bedürfnissen zur konstruktiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Arzt-sein. Denn als Teilnehmende an den Fokusgruppen wurden bisher nur ehemalige Teilnehmende an dem Seminar LET ME ... keep you real! gewählt. Die Datenmenge, so schließen wir, umfasst die Meinungen einer Selektion von Studierenden, die wahrscheinlich schon Affinitäten zur (Selbst-)Reflexion mitbringen, auch weil die Teilnahme am Seminar bisher freiwillig ist. Dies wirkt sich sicher auch auf die vorwiegend positiv ausfallende Bewertung des Seminares aus. Nicht zu vergessen ist außerdem eine fehlende Teilnahmebereitschaft bei einer Seminareinheit, bei der stattdessen zwei Einzelinterviews geführt wurden. Auch ist soziale Erwünschtheit bei der studentischen Kritik nicht gänzlich auszuschließen. Dennoch bitten wir zu beachten: Wir hatten nicht den Anspruch mit dieser ersten Studie eine Theorie mittlerer Reichtweite zu explizieren, was z.B. mit einer umfassenden Grounded Theory angestrebt würde [19]. Dies war zu diesem Zeitpunkt und mit den bis dato erhobenen Daten noch nicht möglich. Wir entschieden uns stattdessen für den Erkenntnisstil des methodischen Entdeckens [10]. In Bezug auf die Sättigung zur umfassenden inhaltlichen Erfassung der studentischen Lebenswelt wäre es sicher wichtig, weitere Studierende zu interviewen, zum Beispiel zufällig ausgewählte Nicht-Teilnehmende, LET ME-Kritiker oder Personen, die vor dem Beginn ihres Medizinstudiums stehen. Die Triangulation mit anderen Methoden wäre außerdem hilfreich, um Seminarsituationen der genaueren Beobachtung zu unterziehen und tiefer in einzelne Perspektiven studentischer Einstellungen, Erfahrungen und Verhaltensweisen einzutauchen. Gerade die kleine Personenanzahl – drei bis sechs Personen pro Fokusgruppe – halten wir für eine Stärke unserer Erhebungsmethode und zusätzlich für medizindidaktisch wertvoll. So konnte jede teilnehmende studentische Person zu Wort kommen. Außerdem wurde ein Raum geschaffen, in dem man sich ohne anwesende vermeintlich wertende Lehrpersonen äußern konnte. Eine Fokusgruppendiskussion kann so nicht nur zur Datenerhebung genutzt werden, sondern bietet auch zusätzliche Reflexionsmomente für die Studierenden und Möglichkeiten, aus den eigenen und den Reflexionen der anderen zu lernen.

LET ME ... keep you real! leistet einen Beitrag zu ärztlicher professioneller Identitätsentwicklung, die sich aus Studierendenperspektive erst einmal recht allgemein als medizindidaktisch angeleiteter Metablick verstehen lässt. Das Einbeziehen gesellschaftlicher Zusammenhänge und einer philosophischen und künstlerischen Umgangsweise mit Gedanken, Gefühlen und Sprache leistet einen gewinnbringenden Zugang, um einen Auseinandersetzungsprozess mit dem eigenen Arzt-Sein anzuleiten. Ein Seminar wie LET ME ... keep you real! kann aus Studierendensicht Fähigkeiten medizinstudentischer (Selbst-)Reflexion zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Arzt-Sein fördern, indem es Studierenden durch diesen Zugang mentale Trainingsmöglichkeiten zur Verfügung stellt, durch die sie ihre eigene Wahrnehmung zu sensibilisieren lernen. Im medizinstudentischen Meinungsbild der Teilnehmenden an LET ME ... keep you real! lassen sich diese (selbst-)reflexiven Fähigkeiten erkennen, wenn man die Beschreibungen und Bewertungen des Seminars analytisch aufbereitet. Die verschiedenen Fähigkeiten zur (Selbst-)Reflexion 1 bis 5 funktionieren situativ oft in Kombination. Werden sie in ihrer Vielfalt anerkannt und gekonnt angeleitet, können sie innerhalb eines universitären Seminares trainiert werden.

Ein Seminarkonzept kann ein Hinterfragen erleichtern, wenn es die, mit dem Verlassen der medizinstudentischen Komfortzone verbundene, Unsicherheit auffängt und Raum zum artikulierten Zweifeln zur Verfügung stellt. Auch andernorts wird schon darauf hingewiesen, dass ein vertrauensvolles Lernumfeld die Voraussetzung dafür ist, dass Reflexion bei Medizinstudierenden überhaupt möglich wird [6], [20]. Die Aussagen der Studierenden verweisen auf eine Fähigkeit, die im medizindidaktischen Diskurs schon unter den Schlagworten Critical Medical Humanities [15], [21], [22] und kritisches Denken [23] verhandelt werden. Die Bereitschaft, eine verstehende und vergleichende Haltung einzunehmen, zum Beispiel sich auf Erzählungen aus den gewählten Reflexionsimpulsen, aber auch auf die Beiträge der anderen Teilnehmenden einzulassen und so unterschiedliche Perspektiven zu erkennen und einordnen zu können, wird wiederholt von Teilnehmenden als grundlegend beschrieben. Im Idealfall werden, wie von Medizinstudierenden geäußert, die herausgearbeiteten Perspektiven dann zu einer Vielzahl neu entdeckter Argumente, die Studierende dann wiederum reflektieren und offen diskutieren können, um sie für ihre weitere Entwicklung zu nutzen. Sich die eigenen Verhaltensweisen, aber auch Gefühle und Denkweisen in Bezug auf eigene Erfahrungen klarzumachen, stellt aus Medizinstudierendensicht einen wichtigen Teil der Auseinandersetzung dar. Reflective writing kann dazu anleiten, die Selbstsicht explizit zu machen [16]. Close Reading [24], [25], [26] kann zum Beispiel durch Verschriftlichung verschiedener Positionen an der Tafel unterstützt werden und so unterschiedliche Positionen verbildlichen und helfen, die eigene Position einzuordnen. Hier ist es auch besonders wichtig, gezielt Zeit zum Nachdenken zur Verfügung zu stellen. Durchaus geht es aus Studierendenperspektive bei konstruktiver (Selbst-)Reflexion außerdem darum, eine Haltung einzunehmen, die das Umgehen mit dem Arzt-Sein nicht nur zu einer persönlichen, sondern einer gemeinschaftlichen Angelegenheit macht. Konkret heißt das: Jede einzelne studentische Person – mit ihren Einstellungen, Affekten und sonstigen Prägungen und Bedürfnissen in Bezug auf ihr persönliches Arzt-Sein – soll den Verlauf eines auf (selbst-)Reflexion ausgerichteten Seminares beeinflussen können, ist damit aber auch mitverantwortlich für die Tiefe der Auseinandersetzung. Gemeinschaftlicher Austausch stellt durchaus eine Herausforderung dar, die im Seminar nach mancher medizinstudentischen Meinung auch scheitern kann, wenn Gruppenmitglieder nicht dazu angehalten werden, Diskussionsbeiträge aufzugreifen. Unerwartete Argumente aus Diskussionen und das eigene Einnehmen einer Position werden im Seminar als Ergebnisse und als zusätzlicher Erfahrungsschatz gewertet.

Inspirierende Reflexionsimpulse, die Positionen einer erfahrenen ärztlichen Person, die unparteiische Haltung eines Moderators und das strukturierte Niederschreiben eigener Gedanken leisten diese Hilfestellungen, weil sie nicht selbst gemachte Erfahrungen, sondern auch das Gefühlsleben der Medizinstudierenden ansprechen.

In Bezug auf unsere Überlegungen zur medizindidaktischen Theoriebildung halten wir fest: Medizindidaktische Unterstützung professioneller Identitätsentwicklung [14] kann aus unserer Sicht bei einer Vielzahl ärztlicher Themen ansetzen. Sie kann darauf abzielen, ein andauernd wachsendes Verständnis sozialer Rollenerwartungen – an die ärztliche Profession im Allgemeinen [1] – und eine sensibilisierte Wahrnehmung des eigenen Arzt-Seins zu ermöglichen – zum Beispiel, auf die Entwicklung der eigenen Kompetenzen zu blicken [http://www.nklm.de]. Dieser zum einen intellektuelle, zum anderen aber auch emotionale und kommunikative Wachstumsprozess ist mit Herausforderungen verbunden, die sich aus den wahrgenommenen Statusunterschieden zwischen dem aktuellen Status eines Medizinstudierenden (being) und dem angenommenen Zielstatus der kompetenten ärztlichen Person (becoming) ergeben [6]. Die in diesem Artikel explizierte Studierendensicht ermöglicht ein tiefergehendes Verständnis eines gelingenden Prozesses: Sich mit den ärztlichen Herausforderungen mental auseinanderzusetzen wird nicht nur durch ein Behandeln unterschiedlicher ärztlicher Themen unterstützt, sondern auch durch eine Reflexion auf mehreren Ebenen. Jede (Selbst-)Reflexionsebene beinhaltet das Umgehen mit eigenen Gedanken und Gefühlen (me-to-me-reflections), aber auch das Verarbeiten der gezeigten Gefühle und Gedanken anderer Personen (me-to-them reflections), wie die Studie von Jarvis-Selinger et al. bereits demonstriert [6]. Der Metablick – als erweiterte professionelle ärztliche Sichtweise – ist damit als ein Zusammenspiel einer sensibilisierten Innen- und Außenwahrnehmung zu verstehen. Er ist als ein way of being and seeing zu verstehen [5].

Richtlinien für reflexionsanregende Schreibaufgaben und stützendes Feedback zu Schriftstücken sind zwei Möglichkeiten, Reflexionsübungen zu standardisieren, sodass die schriftliche Explikation studentischer Innen- und Außenwahrnehmung eines ärztlichen Themas messbar wird [4]. Um die verschiedenen Ebenen der (Selbst-)Reflexion des Arzt-Seins vollziehen zu können, bedarf es jedoch einer Vielzahl an Fähigkeiten, die themenübergreifend relevant sind und von denen wir bezweifeln, dass sie ohne Weiteres messbar gemacht werden können. Wir wenden uns mit diesem Verständnis gegen erkenntnistheoretische und evaluative Zuschnitte, die einstufende Bewertungen und das Herausarbeiten von Evidenz in Bezug auf Reflexion zum einzigen Mittel der Wahl erklären [5]. Gezielt soll hier dafür plädiert werden, das erarbeitete Fähigkeitsprofil als Orientierung, jedoch nicht als starres Rezeptwissen zur Entwicklung von Seminaren anzuwenden.


Schlussfolgerungen: Das eigene Arzt-Sein (selbst-)reflexiv studieren

Die mentale Auseinandersetzung mit dem eigenen Arzt-Sein ist eine relevante Lernerfahrung in der ärztlich-professionellen Identitätsbildung [3], die hier als (Selbst-)Reflexion in den Fokus gerückt wird. Sie sollte deshalb auch im Studium als Kompetenz Anerkennung finden und gelehrt werden. Entfaltet die Kompetenz der (Selbst-)Reflexion ihr volles Potenzial, trägt sie den, im NKLM als wichtig deklarierten, Erwartungen an „eigenverantwortliche“ und „selbstständige“ Ärzte Rechnung, die zur „Integration aller ärztlichen Rollen“ fähig sind [http://www.nklm.de]. Seminare wie LET ME…keep you real! sind dieser Kompetenz zuträglich, weil es hier um Schärfung der medizinstudentischen Wahrnehmung zum Erlernen eines Metablicks geht: intellektuell, kommunikativ und auch emotional. Dass die Erweiterung der Sichtweise und der Blick auf eigene Wertungen und Gefühle einen Lernerfolg darstellt, sollte explizit durch Lehrende hervorgehoben werden. Dies ist hilfreich um dem Eindruck vorzubeugen, mentale Auseinandersetzung mit dem eigenen Arzt-Sein böte keinen Mehrwert und hierfür notwendige Fähigkeiten seien im besten Fall angeboren. Raum für gemeinsames Denken und die Verarbeitung von Erfahrungen können wohl stattdessen eher als Entstehungsmomente für gewinnbringende (selbst-)reflexive Fähigkeiten angesehen werden. Die hier herausgearbeiteten Fähigkeiten können als Soll-Profil zur ersten Orientierung beim Training dienen. Denn (Selbst-)Reflexion des Arzt-Seins muss – wie jede ärztliche Kompetenz – wiederholt eingeübt werden. Ein schon zu Studienzeiten geübter Metablick könnte außerdem einem langfristig reflektierenden Verhalten professioneller ärztlicher Personen zuträglich sein [2].


Danksagung

Vielen Dank an René Schneider, M.A. und Philip Lambrix, M.A. für die Kürzungen und Korrekturen.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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