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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel!

Leitartikel Aktuelle Situation

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  • corresponding author Christoph Nikendei - Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Sektion Psychotraumatologie, Heidelberg, Deutschland; Patrick-Henry-Village Heidelberg, Geflüchtetenambulanz des Zentrums für Psychosoziale Medizin der Universitätsklinik Heidelberg, Heidelberg, Deutschland

GMS J Med Educ 2020;37(3):Doc36

doi: 10.3205/zma001329, urn:nbn:de:0183-zma0013297

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2020-37/zma001329.shtml

Eingereicht: 25. März 2020
Überarbeitet: 25. März 2020
Angenommen: 25. März 2020
Veröffentlicht: 15. April 2020

© 2020 Nikendei.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Leitartikel

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

„Der Ball ist rund, und ein Spiel dauert 90 Minuten.“ (Sepp Herberger). Und wir wissen was zu tun ist. Wir haben keine Wahl. Wir werfen alles nach vorne. Jede Frau, jeden Mann. Auch wenn wir aus der Defensive agieren und die Zeit gegen uns läuft. Wir geben unsere Deckung fast ganz auf. Ja. Wir wissen was zu tun ist. Es geht um fast alles, eigentlich alles. „Das Runde muss ins Eckige.“ (Sepp Herberger). So einfach. Mit dieser Klarheit und Konzentriertheit und stürmischen Gelassenheit arbeiten im Moment Tausende von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und -pfleger, Ärztinnen und Ärzte und Angehörige vieler anderer Berufsgruppen im Gesundheitswesen daran, einen viel kleineren Gegner, das neue Coronavirus 2019-nCoV [1], das nicht mal durch die Maschen eines Mund-Nasen-Schutzes, geschweige denn von einem Fußballnetz aufzuhalten ist, im Kampf zu bezwingen.

Es ist einfach undenkbar einen medizinischen Text zu verfassen, ohne aktuell auf diese Pandemie Bezug zu nehmen. Zu viel Leid, zu viel erschöpfte Helfer, zu viel Bedrohungserleben. 375.498 bestätigte Infektionsfälle, 16.362 Verstorbene in 195 Ländern und Territorien sind laut der aktuellen WHO-Statistik (Stand 25.03.2020; [https://experience.arcgis.com/experience/685d0ace521648f8a5beeeee1b9125cd]) zu verzeichnen. In Wuhan getraut man sich mit vorsichtiger Zaghaftigkeit wieder aus den Verschlägen, an anderen Orten erwartet man voller Ehrfurcht – die Berichte aus Spanien und Italien im Nacken – die ersten Ausläufer der großen Welle an kranken und beatmungspflichtigen Menschen. Wir bereiten uns vor. Den Blick ins Ungewisse. Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme. Wir haben eine gute Ausbildung.

Ohne die Assoziationskraft überfordern zu wollen: Auch dieses Heft spiegelt einen Teil eines Mosaiks vieler tausender konzeptioneller und wissenschaftlicher Einzelleistungen wieder, die in der Summe dazu beitragen werden, dass wir diese heutige Krise bewältigen können – und ich bin mir sicher – bewältigen werden. Der Bogen dieser Ausgabe spannt sich von interaktiven Lernmethoden zum verbesserten Wissenserwerb in der mikroskopischen Anatomie [2], über den Beitrag von Auslandsmobilität zur medizinischen Professionalisierung [3] und die Evaluation interprofessioneller Haltungen [4], bis hin zur Beleuchtung der Langzeitevaluation der medizindidaktischen Qualifizierung im Rahmen des Master of Medical Education (MME; [5]), die Optimierung der Bewertung klinisch-praktischer Prüfungen [6], die Stärkung der ambulanten Versorgung durch die curriculäre Implementierung von Lerninhalten [7], durch Programme zur Stärkung der ländlichen Versorgung [8] und durch Train-the-trainer-Programme zur Qualifizierung von Weiterbildungsbefugten in der Allgemeinmedizin [9]. Eben diese Didaktiker, Lehrer, Wissenschaftler und Autoren leisten ihren Beitrag, damit wir der Krise nicht ohnmächtig gegenüberstehen.

Doch. Als ob es nicht genug wäre, mute ich Ihnen heute noch mehr zu. Denn es ist momentan angesichts der vielen Todesopfer der Corona-Krise, all der Belastung der Helfer und der sozialen Verunsicherung in der Gesellschaft nur schwer zu benennen und zu glauben: die Corona-Krise wird von einer weiteren Krise weit in den Schatten gestellt werden: der Klimakrise. Der Lancet Countdown on health and climate change [10] macht eindeutig klar: Die gesundheitliche Zukunft der Gesellschaft und ihrer zukünftigen Generationen hängt in erster Linie davon ab, wie wir heute mit den Klimaveränderungen umgehen. Zu den 70 Millionen Geflüchteten, die es aktuell auf der Welt gibt, werden bis zum Jahr 2050 laut der aktuellen Studie der Weltbank noch 140 Millionen Klimaflüchtlinge hinzukommen [11] – verbunden mit enormer Verzweiflung und Leid [12]. Bis Ende des jetzigen Jahrhunderts werden wir je nach Getreidesorte Ernterückgänge von bis zu 19% zu verzeichnen haben [13] und vor die Frage gestellt sein, wie wir die derzeit 7,7 Milliarden Menschen auf der Erde ernähren. Durch meteorologische Extremereignisse wie Stürme, Überflutungen, Hochwasser, Starkregen und Hitzewellen werden wir es mit Unfällen mit traumatischen Verletzungen oder Todesfolge zu tun haben [14] und bis zu 70% der betroffenen Menschen werden dabei eine Traumafolgestörung erleiden [15]. Die durchschnittliche Mortalität der Gesamtbevölkerung erhöht sich bei Hitzewellen um 8-12% [16], bei einer Erhöhung der mittleren Erdtemperatur um weitere 1,5°C treten pro Jahr weitere 1000 Herzinfarktereignisse in Deutschland auf [17]. Phänomene wie die sogenannte „eco-anxiety“ werden in behandlungsbedürftiger Weise immer mehr um sich greifen [18].

Das Virus sehen wir nicht. Die steigende Temperatur können wir jedoch alle fühlen, die Auswirkungen des steigenden Meeresspiegels können wir alle sehen, die Berichte von den Dürren können wir alle hören. Dennoch sind diese Themen in unseren medizinischen Curricula unterrepräsentiert [19]. Auch hier sollten wir – wie in der Corona-Krise – lernen auf die von uns selbst generierten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu hören und zu vertrauen [20], auch wenn sich „die Wahrheit durch ihre Unglaubhaftigkeit dem Erkanntwerden [zu] entziehen [droht].“ (Heraklit). Dies ist eine zentrale Aufgabe von uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Ärztinnen und Ärzten, Medizindidaktikerinnen und Medizindidaktiker, von uns Dozentinnen und Dozenten. „Wir bleiben für Euch hier! Bleibt ihr für uns zu Hause!“ heißt es aktuell. Wir haben die Chance aus der Corona-Krise zu lernen und der Klimakrise „by design“ statt wie aktuell „by desaster“ zu begegnen, also kontrolliert und gezielt in ähnlich solidarischer Weise auf sie zu reagieren, statt uns von einem Desaster überrollen zu lassen. Also: Wir sollten stürmen. Sofort. Mit ganzer Kraft. „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel!“ (Sepp Herberger). Ansonsten drohen wir nach der Bewältigung der Corona-Krise den Faden eines weltumspannenden Pan-Suizids [21] wieder aufzunehmen.

Bleiben Sie alle gesund,

Ihr Christoph Nikendei


Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass er keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


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