gms | German Medical Science

GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Geschlechtersensibilität im Karrierementoring – ein Projektbericht der Universität Leipzig, Medizinische Fakultät

Artikel Curriculumsgestaltung

Suche in Medline nach

  • corresponding author Pauline Gaida - Nervenzentrum Leipzig, Praxis für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, Leipzig, Deutschland
  • author Sandy Kujumdshiev - Universität Leipzig, Medizinische Fakultät, Medizindidaktisches Zentrum, Leipzig, Deutschland
  • author Katarina Stengler - Helios Park-Klinikum Leipzig, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland

GMS J Med Educ 2020;37(2):Doc24

doi: 10.3205/zma001317, urn:nbn:de:0183-zma0013173

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2020-37/zma001317.shtml

Eingereicht: 14. Februar 2019
Überarbeitet: 23. April 2019
Angenommen: 19. Juni 2019
Veröffentlicht: 16. März 2020

© 2020 Gaida et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Das Wahlfach „Karriereplanung für Medizinstudierende“ wird als Beispiel für die Lehre von geschlechtersensiblen Aspekten im Leipziger Medizinstudium vorgestellt. Welche Zwischenbilanz kann dabei für die Förderung der geschlechtersensiblen Lehre an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig gezogen werden? Welchen Beitrag leistet das Wahlfach zur gesamtuniversitären Entwicklung einer Geschlechtersensibilität?

Methodik: In Projektbeschreibung und Ergebnisteil werden Organisation/ Ablauf, Teilnehmer*innen und Inhalte des Wahlfachs seit Start im Wintersemester 2010/11 vorgestellt. Die Forschungsfragen untersuchen, welchen Auftrag die Lehrveranstaltung auf Fakultätsebene und darüber hinaus erfüllt. Ein Instrument hierbei ist der Vergleich mit anderen Hochschulen.

Ergebnisse: Lokal stellt das Wahlfach als erste offizielle Studienleistung im klinischen Studienabschnitt den Zusammenhang zwischen den Themen „Geschlechtersensibilität“ und „Karriere“ her. Die Lehrveranstaltung bedient inhaltlich die Geschlechtersensibilität im Fachkontext Medizin und Forschung, die Orientierung im Karrierefeld Medizin und den Gleichstellungsdiskurs. In einer Fakultätsumfrage im WS 2011/12 wünschen knapp ein Drittel der Studierenden eine Angebotserweiterung – bis hin zum eigenständigen Fach "Gender Medizin". Das Wahlfach ist Bestandteil eines Kreislaufes zur Förderung des Gleichstellungsprozesses an der Universität Leipzig.

Schlussfolgerung: Die Implementierung einer geschlechtersensiblen Lehre an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig wird durch das Wahlfach initiiert und fortgesetzt. Ziel der Wahlfachleitung ist die Etablierung einer curricularen Lehrveranstaltung dieser Art zur frühzeitigen Förderung der – insbesondere weiblichen – Karriere.

Schlüsselwörter: Medizin, Medizinische Ausbildung, Medizinische Fakultät, Mentoring, Gender, Diversitä, Wahlfach, Geschlechtersensibilität, Karriere


1. Einleitung

Die Universität Leipzig (UL) ging im Gleichstellungsbericht 2013 „von einer besonderen Vereinbarkeitsproblematik in der Hochschulmedizin“ [1] aus und benannte dabei vier Dimensionen: Klinik, Forschung, Lehre, Privatleben. Zuvor hatte sich die sächsische Volluniversität im Jahr 2008 zur Umsetzung der „Forschungsorientierten Gleichstellungsstandards“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft verpflichtet. Mit dem hochschulspezifischen Entwicklungsplan (2011) und Gleichstellungskonzept (2013) konsolidierte die UL ihren Gleichstellungsprozess [2], [3]. Auf dieser Basis gelang die erfolgreiche Bewerbung um die Förderung durch das Professorinnenprogramm II des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) [4]. Bedeutender Beitrag der Medizinischen Fakultät (MF) zum Gleichstellungskonzept der UL war ein Mentoringprogramm für habilitierende Medizinerinnen („MentHaProf“). Dieses Projekt unter der Leitung der damaligen Gleichstellungsbeauftragten der Universitätsmedizin Leipzig (UML) Prof. Katarina Stengler war ein wesentlicher Schritt, der aktuellen Situation „Die Medizin ist weiblich – an der Basis, nicht an der Spitze“ entgegenzuwirken. Parallel dazu wurde die Bedeutsamkeit der frühzeitigen Förderung weiblicher Hochschulkarrieren in den Fokus genommen: das drei Jahre zuvor gestartete Wahlfach „Karriereplanung für Medizinstudierende“ (WF) wurde ausgebaut. Dieses heute knapp zehn Jahre etablierte WF nimmt die oben genannten Dimensionen der Humanmedizin in eine geschlechtersensible Betrachtung. Die Projektbeschreibung stellt den rechtlichen Rahmen und lerntheoretische Voraussetzungen des WF untergliedert in Organisation, Ablauf, Teilnehmer*innen und Inhalte dar. Die Ergebnisse sind der Sammelbericht über die mehrjährige Durchführung. Die Diskussion letztlich setzt das WF anhand folgender Fragen in einen übergeordneten Kontext:

1.
Welche Zwischenbilanz kann für die Förderung einer geschlechtersensiblen Lehre an der MF der UL gezogen werden – mit Blick auf die Etablierung des Wahlfachs „Karriereplanung für Medizinstudierende“?
2.
Kann die Etablierung des Wahlfachs „Karriereplanung für Medizinstudierende“ an der MF der UL als Beitrag zur geschlechtersensiblen Hochschulentwicklung an der Gesamtuniversität verstanden werden?

2. Projektbeschreibung

Organisation/Ablauf

Das WF ist seit dem Wintersemester (WS) 2010/11 Teil des klinischen Wahlfachangebots der MF der UL. Es wurde in Studienkommission und Fakultätsrat beschlossen und als Studienleistung im Rahmen der Zulassungsvoraussetzungen zum Praktischen Jahr im Studiengang Humanmedizin anerkannt [5]. Zusätzlich zu den laut ÄApprO anerkannten Stoffgebieten wurde dafür vom Landesprüfungsamt Sachsen das Stoffgebiet „Genderaspekte in der Medizin“ definiert [https://www.gesetze-im-internet.de/_appro_2002/BJNR240500002.html]. Der Studienordnung entsprechend betreut eine Lehrkraft im WF maximal sechs Medizinstudierende. Die einwöchige Lehrveranstaltung findet mit 27 Unterrichtseinheiten à 45 min statt. Die Benotung entsteht durch die abschließende Einschätzung der studentischen Mitarbeit im Gesamtprozess des WF durch die betreuende Lehrkraft. Eine fakultätsverwaltete Evaluation erfolgt auf Antrag. Um den Austausch im „Plenum“ zu ermöglichen, treten zwei Gruppen à sechs Medizinstudierende zeitweise als Großgruppe mit zwei Referent*innen (auch: Mentor*innen) in Interaktion. Das WF ist dem Lehrangebot des Instituts für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health der UL angegliedert. Teile der Veranstaltungen finden als Berufsfelderkundungen bei und mit den Referent*innen statt.

Teilnehmer*innen

Das WF ist als Kurz-Mentoring angelegt. Die Mentees sind Medizinstudierende. Sie können sich fakultativ im neunten Semester einschreiben. Als Mentor*innen werden Referent*innen unterschiedlicher medizinischer Fachdisziplinen eingeladen: Professor*innen, Oberärzt*innen, niedergelassene Mediziner*innen, Forscher*innen, Assistenzärzt*innen oder auch professionelle Dienstleister*innen der Medizin, wie Coaching-Expert*innen oder Unternehmensberater*innen. Als erfahrene Vertreter*innen ihrer Tätigkeitsfelder übernehmen sie eine Schlüsselrolle bei der Ausgestaltung des interaktiven Lehrformats.

Inhalte

Einführend in die Gesamtthematik wird mit den Medizinstudierenden der Gleichstellungsbericht der UL und die dort aufgezeigte „Vereinbarkeitsproblematik in der Hochschulmedizin“ [1] thematisiert. Gemeinsamer Ausgangspunkt wird so das Bewusstsein für die Herausforderung eines gelungenen Zusammenspiels der vier möglichen Lebensdimensionen als Mediziner*in: Klinik, Forschung, Lehre und Privatleben. Die Mentor*in-Mentee-Interaktion gestaltet sich als Flash-Mentoring [https://www.insala.com/Articles/what-is-flash-mentoring.asp]. Supportive Fragen lauten: Möchten Sie im klinischen Tätigkeitsbereich ins Berufsleben starten? An einem universitären oder Versorgungs-Krankenhaus? Welche Nebenbedingungen müssen erfüllt sein? Die Hypothese zur Karriereplanung nach dem Maximal-Prinzip lautet: Synergien sind planbar. Die Medizinstudierenden erhalten Anregung für die Gestaltung ihrer beruflichen Laufbahn. Individuelle Erwartungen an das WF können jederzeit formuliert und optimalerweise ins bestehende Konzept integriert werden. Zentraler Bestandteil des WF ist die Funktion der Mentor*innen als Rollenmodell, wobei die Interaktion einen beiderseitigen Lerneffekt ermöglicht [6]. Gezielt werden vermeintlich kontroverse Stereotypen wie Forscher*in versus Versorger*in ins Plenum geladen. Imaginäre Separierungen wie Krankenhaus versus ambulantes Setting werden diskutiert. Arbeitszeitmodelle und die Vereinbarkeit werden thematisiert. Vergleiche zwischen medizinischer Anwendungsarbeit und Medizin-assoziierten Arbeitsbereichen werden ermöglicht. Im rezeptiv-theoretischen Anteil werden Basiskenntnisse zu den Themen Chancengerechtigkeit und Gleichstellung, Karrierestrategie, Führungsqualifikation, Networking und Förderungsangebote, sowie Zeit- und Selbstmanagement i.S. der Resilienzförderung vermittelt. Lernziel ist die Entwicklung bzw. Konkretisierung eigener Karrierepläne mittels Teilnahme am intensiven Kurz-Mentoring unter besonderer Beachtung des gesamtuniversitären Leitgedankens einer „tatsächliche [n, d. Verf.] Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ [7].


3. Ergebnisse

Organisation/Ablauf

Das WF fand seit Einführung 2010 durchgehend einmal je WS statt. Einen schematischen Wochenablaufplan zeigt Abbildung 1 [Abb. 1]. Der Schwerpunkt galt dem Mentoring mit jeweils mindestens 15 Unterrichtseinheiten à 45 Minuten. Weitere Zeiteinheiten wurden für Theorie und Auswertungen verwendet. Zu jeder Zeit bestand eine Verteilung von sechs Studierenden à mindestens ein/e Mentor*in. Dabei übernahmen die Wahlfachleitung bzw. -assistenz ggf. die Rolle der Zweitmentor*in. Das WF diente allen Teilnehmer*innen mittels Reflexionen dem bewussteren Erleben von Rollenidentifizierungen und -modellen. Zur Evaluation dienten tägliche Blitzlichtrunden zwischen Wahlfachleiterin und Medizinstudierenden, die Intervision von Wahlfachleitung und Referent*innen und ein Abschlussfeedback durch alle Teilnehmer*innen. Eine schriftliche Evaluation wurde nicht beantragt.

Teilnehmer*innen

Bis dato haben 108 Medizinstudierende teilgenommen. Für die ersten Durchläufe des WF war eine Einschreibung bis 15 Studierende, ab 2015 bis zwölf Studierende möglich. Die Geschlechterverteilung der Studierenden wurde nicht erfasst. Als Referent*innen waren Frauen und Männer nahezu gleichstark vertreten. Die Rückmeldungen aller Beteiligten waren ausschließlich positiv und betonten den Bedarf des Angebotsausbaus. Die Medizinstudierenden gaben an, umfangreiches Wissen zur Karriereplanung im Allgemeinen und Gleichstellung im Speziellen neu erworben zu haben. Wiederkehrend lautete das Statement – insbesondere von Studentinnen: „Das Karriere und Familie gemeinsam gehen, habe ich für fast unmöglich gehalten. Die gängigen Klischees sollten häufiger hinterfragt werden.“ Im Austausch mit den Mentor*innen seien tatsächliche Rahmenbedingungen einzelner Berufsfelder klarer geworden und Vorurteile geschmolzen. Der interpersonelle Austausch wurde allseits als Bereicherung erlebt. Die Referent*innen betonten die Wichtigkeit der Aufarbeitung beruflicher Stereotypen wie z.B. die Zuschreibung der Chirurgie als Männerdomäne. Diese studentischen Introjekte würden die berufliche Planung mit hoher Wahrscheinlichkeit nachhaltig beeinflussen, obwohl sich berufliche Konditionen längst gewandelt hätten.

Inhalte

Die Inhalte des WF lassen sich in drei Anteile gliedern (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]). Die Vermittlung dieser Lehrinhalte fand in der Praxis größtenteils kombiniert statt:

1.
Der thematisch-einleitende Anteil diente als Set-up: die Medizinstudierenden wurden über den mehrschichtigen Charakter des fünftägigen Intensiv-Kurses aufgeklärt. Das Eröffnungsseminar verdeutlichte, dass „Karriereplanung für Medizinstudierende“ mehr als die Frage nach der späteren Facharztrichtung darstellt und dass für jede Spezialisierung im Fachkontext Medizin die geschlechtersensible Betrachtungs- und Behandlungsweise zum Goldstandard wird [8]. Es wurde vermittelt, dass Karriereplanung solides Vorwissen verlangt, welche Orientierungsgrößen sich im Bereich Humanmedizin finden lassen und wie berufliche Schwerpunktsetzung erfolgen kann.
2.
Im Mentoring-basierten Anteil war der wichtigste Lehrinhalt die persönliche Interaktion zwischen Referent*innen und Medizinstudierenden. Dies geschah im Rahmen der Vertraulichkeit, worauf die Wahlfachleitung explizit hinwies. Im Gespräch über ihre Arbeit und Biografie konnten die Mentor*innen modellfähige Erkenntnisse und Empfehlungen mit den Studierenden ableiten. Ergänzend wirkten persönlich geführte Berufsfelderkundungen. Es entstand ein geschützter Raum zur Formulierung individueller Fragen. Der besondere Lehrauftrag bestand in einer Förderung des eigenen Rollenverständnisses: Den Medizinstudierenden wurde vermittelt, dass die persönliche Karriereplanung eng mit dem Selbstverständnis verknüpft ist. Ein Humanmedizinstudium ist natürliche Eintrittspforte zur Tätigkeit als Ärztin oder Arzt. Gleichzeitig eröffnet es ein Multispektrum eigenständiger oder überlappender Berufe. Besonders die ärztliche Tätigkeit am Universitätsklinikum gestaltet sich als Tripplerolle mit dem Auftrag zur Maximalversorgung, Forschung und Lehre. Die Medizinstudierenden konnten diverse Vertreter*innen der UML kennenlernen. Die Vielfältigkeit der Humanmedizin spiegelte sich im WF in allen beteiligten Personen und geführten Diskussionen wider. Informationen zu Förderprogrammen oder berufsnaher Infrastruktur unterstrichen den Synergismus.
3.
Im geschlechtersensiblen Anteil wurden die Themen Chancengerechtigkeit und Gleichstellung von Männern und Frauen betont. Die Zielgruppe der initial ersten Wahlfachveranstaltung waren ausschließlich Medizinstudentinnen – orientiert an der Idee, mehr weibliche Studierende für eine Karriere in der Medizin zu begeistern. Anschließend öffnete sich das Angebot männlichen Medizinstudierenden, da diese das Thema Karriereplanung als Studienbestandteil ebenfalls einforderten. Fortan nahm jeweils mindestens ein männlicher Studierender teil. Die Lehrveranstaltung katalysierte auf verschiedenen Ebenen die Bewusstwerdung des ubiquitär stattfindenden Gleichstellungsprozesses: Die berufliche Rolle der Frau in der Medizin und das Phänomen der vertikalen Segregation wurden erörtert. Dieses Wissen bildete Grundlage zur Wahrnehmung gleichstellungsrelevanter Sachverhalte. Zwei wichtige Fragen wurden den Mentor*innen wiederholt gestellt: „Haben Sie sich bei Karrierebestrebungen schon einmal sexuell diskriminiert gefühlt? Haben Sie Familie und steht diese in Konkurrenz zum Beruf?“ Besonders unterstützten die Engagements der zentralen Gleichstellungsbeauftragten der UL, ehemals Dr. Monika Benedix und gegenwärtig Georg Teichert. Der isolierte Blick der Medizinstudierenden auf geschlechtersensibles Wissen in Krankheitslehre, Diagnostik und Therapie schwand. Sie betrachteten zunehmend ein Gesamtbild, das alle realen Menschen der Haupt- und Nebenschauplätze der Medizin umfasst: Professionelle wie Patient*innen - mit hohem Stellenwert der Forschung.

4. Diskussion

4.1. Welche Zwischenbilanz kann für die Förderung einer geschlechtersensiblen Lehre an der MF der UL gezogen werden – mit Blick auf die Etablierung des Wahlfachs „Karriereplanung für Medizinstudierende“?

Im WS 2011/12 fand im Auftrag der Gleichstellungsbeauftragten an der MF der UL eine Umfrage zur Präsenz geschlechtersensibler Lerninhalte im Humanmedizinstudium statt. Bei einer Rücklaufquote von 20% bei den Studierenden (N=306; w=71,8%, m=28,2%) und 38,8% bei den Lehrbeauftragten (N=26; w=16,4%; m=83,6%) konnte evaluiert werden, ob es zur Vermittlung kommt oder es Veränderungswünsche gibt. 76% der Lehrbeauftragten betonten die Relevanz für ihr Fach, doch nur 61,5% bestätigten die Implementierung. Nur 27,9% der Studierenden konnten überhaupt geschlechtersensible Lerninhalte im Studium erkennen. Die bisherige Implementierung fände z.B. durch das WF statt. Die Mehrheit wünschte die Angebotserweiterung – bis hin zum eigenständigen Fach "Gender Medizin". Fünf Jahre später wurde die Frage nach humanmedizinischer Geschlechtersensibilität im großen Stil als Leipziger Tagungsreihe "Genderperspektiven in der Medizin (GPmed)" erneut gestellt: Drei BMBF-geförderte, hochschulübergreifende Fachveranstaltungen boten 2016/ 2017 Erfahrungsaustausch. Das WF wurde als fakultative Lehrveranstaltung der MF der UL vorgestellt [9]. Ein curricularer Baustein zum Thema Gendermedizin und Geschlechtersensibilität wurde nicht präsentiert. Die Überprüfung der „Studienordnung für den Studiengang Medizin an der Universität Leipzig“ kann auch keinen Nachweis einer solchen Lehrveranstaltung erbringen. Die Bezeichnungen aller Fächer aus Vorklinik und Klinik enthalten folgende Worte nicht: Geschlecht und Gender [5]. Behandeln manche Lehrveranstaltungen der MF der UL geschlechtersensible Aspekte dennoch als integrierten Lehrinhalt? Die Charité – Universitätsmedizin Berlin hat ihr Curriculum unter diesem Gesichtspunkt vollständig überarbeitet: Mit Hilfe eines „change agent“ wurden die Lehrinhalte systematisch in alle bestehenden Lehrformate integriert [10]. Eine vergleichbare Maßnahme ist an der MF der UL nicht in Anwendung. Dabei könnte insbesondere die Studienordnung davon profitieren. Diese schreibt weiterhin im §28 Nachteilsausgleich, dass „der Kandidat“ bei Glaubhaftmachung einer zur Verhinderung führenden, länger andauernden oder ständigen Behinderung eine Erfolgskontrolle in anderer als vorgesehener Form erbringen darf [5]. Die „Fächerübergreifende Satzung zur Regelung von Zulassung, Studium und Prüfung der Humboldt-Universität zu Berlin“ aus dem Jahr 2013 schafft eine andere Lesart (§ 109 Nachteilsausgleich, Absatz 1):

„Wer wegen einer Behinderung oder chronischen Krankheit, einer Schwangerschaft, der Pflege und Erziehung eines Kindes im Alter bis zu zehn Jahren, der Pflege pflegebedürftiger naher Angehöriger […] oder aus anderen triftigen Gründen nicht in der Lage ist, eine Studienleistung oder Prüfung zum vorgesehenen Termin, innerhalb einer vorgesehenen Dauer oder Bearbeitungszeit, am vorgesehenen Ort, in der vorgesehenen Form oder sonst in der vorgesehenen Weise zu erbringen, erhält einen Ausgleich dieser Nachteile.“ [11]

Das WF behandelt proaktiv u.a. die Vereinbarkeit von Studium bzw. Beruf und Familie. Bundesweit erstmalig implementierte die Universität Ulm an ihrer MF einen solitär-curricularen Lehrbaustein unter dem Titel „Gender Medicine“ im WS 2012/13. Alle Medizinstudierenden erwerben hier die Schlüsselqualifikation „Gender-Kompetenz“. Zu den Lernzielen gehört explizit die Wissensanwendung auf die Patient*innen und die Reflexionsfähigkeit eigener Rollenaspekte [12]. In dieser Intention arbeitet auch das WF. Doch blieb es seit Einführung 2010 eine fakultative Lehrveranstaltung. Durch angeleitete Reflexion erfahren die Medizinstudierenden im WF einen Blickwandel – Schulmedizin wird geschlechtersensibel. Die Universität Düsseldorf nutzt hierzu seit 2014 als besonderes Lehrmittel die sogenannte „Geschlechterbrille“ [13]. Als eine neue Instanz an der MF der UL möchte das 2016 gegründete Medizindidaktische Zentrum die Entwicklung eines Längsschnittcurriculums zur Wissenschaftlichkeit sicherstellen. Dieses soll den Medizinstudierenden Kompetenzen zu wissenschaftlichem Denken und Handeln, u.a. als Grundlage für diagnostische und therapeutische Entscheidungen vermitteln [14]. Über neue curriculare Veranstaltungen könnte den Medizinstudierenden auch ein Bewusstsein für Gendermedizin und geschlechtersensible Aspekte als Qualitätsmerkmal moderner Wissenschaft vermittelt werden. In der Zwischenbilanz zur Förderung einer geschlechtersensiblen Lehre bildet das WF ein erstes explizites Lehrangebot.

4.2. Kann die Etablierung des Wahlfachs „Karriereplanung für Medizinstudierende“ an der MF der UL als Beitrag zur geschlechtersensiblen Hochschulentwicklung an der Gesamtuniversität verstanden werden?

Ja. Das Kleingruppen-basierte Kurz-Mentoring fragt, welche Personen sich unter welchen Voraussetzungen, mit Recht auf Chancengerechtigkeit und Gleichstellung an der UL bzw. in der UML bewegen? Politische Korrektheit ist hierbei das Handlungsideal. Als konstruktives Hilfsmittel wird im WF das Prinzip der Fehlerfreundlichkeit nach Urmila Goel gelebt: Die Unumkehrbarkeit von Diskriminierungsfolgen wird im Lernkontext aufgehoben [15]. Simples Beispiel hierfür ist die Debatte um die Freischaltung des initialen Wahlfachs „Karriereplanung für Medizinstudentinnen“ für männliche Medizinstudierende. Nach erster Ausschreibung der Lehrveranstaltung benannten männliche Studierende das Gefühl der Diskriminierung. Damit wurde das WF als Beispiel für die Gleichstellungsdebatte Gesprächsthema unter Medizinstudierenden. Die Antidiskiminierungsstelle des Bundes definiert Diskriminierung als „Benachteiligung von Menschen aufgrund eines schützenswerten Merkmals, wie beispielsweise des Geschlechts“, wenn also „Gleiches ungleich behandelt wird“ [15]. Warum können sich in ein offizielles WF nur Studentinnen eintragen? Die Antwort liefert der zweite Teil der Definition: „Eine Benachteiligung liegt aber auch vor, wenn Menschen mit ungleichen Voraussetzungen gleich behandelt werden.“ [16] In diesen Bereich zielt das WF, denn Ärztinnen werden in ihrer Karriereplanung und -entwicklung von gesellschaftlichen, beruflichen und familiären Determinanten auf eine Weise beeinflusst, dass sie seltener als männliche Kollegen die Vertikalkarriere erleben [17]. Das WF soll die weibliche Vertikalkarriere durch Aufklärung häufiger Realität werden lassen. Das Zulassungsdilemma wurde mit Freigabe der Lehrveranstaltung für alle Medizinstudierenden gelöst – denn tatsächliche Gleichstellung erfordert die Aufklärung aller Beteiligten. Unterstrichen wird das von Andersson et al., die nachweisen, dass eine Determinante des Bewusstseins für Gender-Thematik das biologische Geschlecht ist [18]. Die BMBF- und Europäische Sozialfonds-geförderte Analyse KarMed zeigt für Medizinstudierende ein Persistieren der maskulinen Norm als Attribuierung des ärztlichen Berufsbildes [19]. Das WF bearbeitet dieses Dogma. Es beweist, dass moderne Medizin bis an die Hierarchiespitze Modelle weiblicher Führung liefert. Im Gleichstellungskonzept (2013) wurde das WF angeführt und durfte sich in eine Vielzahl von Mentoring-Programmen einreihen [2]. Die Lehrveranstaltung war somit ein Baustein in der Bewerbung der UL um die Förderung durch das Professorinnenprogramm II. Der eingeworbene Förderzeitraum lief bis ins Jahr 2018. Für fünf Jahre entstand an der UL ein divers geförderter Bildungskreislauf im Sinne nachhaltiger Gleichstellung (siehe Abbildung 3 [Abb. 3]). Das WF konnte somit auf direkte und indirekte Weise einen Beitrag zur geschlechtersensiblen Hochschulentwicklung an der Gesamtuniversität leisten.


5. Schlussfolgerung

Welche Implikationen ergeben sich? Die UL proklamiert in ihren Leitsätzen: „Die Universität fördert die tatsächliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern.“ [7] In der Umsetzung dieses Selbstanspruchs befindet sich die MF der UL in einem Prozess, der sich wie folgt beschreiben lässt: „Oft zu beobachten ist, dass die Entwicklung und Umsetzung gender- und diversitätsbewusster und zugleich diskriminierungskritischer Strategien mit institutionellen Ungleichzeitigkeiten aber auch mit individuellen Verunsicherungen, Schwierigkeiten oder Ratlosigkeit der Lehrenden einhergehen.“ [20] Die Implementierung geschlechtersensibler Aspekte ins Medizinstudium ist eine wichtige Maßnahme in diesem Prozess. Explizit gelang das durch die Einführung des WF im WS 2010/11. Doch eine Schwalbe macht noch keinen Sommer – ein Wahlfach für zwölf Medizinstudierende pro Semester macht die MF der UL nicht zum Kompetenzzentrum für geschlechtersensible Lehre. Der Prozess an der MF der UL hat – erfolgreich – begonnen.


Danksagung

Die Autorinnen danken der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig (Dekanat und Referat Lehre) für die kontinuierliche Unterstützung des Wahlfachs „Karriereplanung für Medizinstudierende“ und bei der Erstellung des Artikels.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Universität Leipzig. Abschlussbericht zu den Forschungsorientierten Gleichstellungstandards der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Leipzig: Universität Leipzig; 2013.
2.
Universität Leipzig. Gleichstellungskonzept der Universität Leipzig: Professorinnenprogramm des Bundes und der Länder zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern in Wissenschaft und Forschung an deutschen Hochschulen. Leipzig: Universität Leipzig; 2013.
3.
Universität Leipzig. "Die integrierte Volluniversität in Sachsen" - Hochschulspezifische Entwicklungsplanung der Universität Leipzig. Leipzig: Universität Leipzig; 2011.
4.
Universität Leipzig. Universität Leipzig erzielt Erfolg im Professorinnen-Programm: Pressemitteilung 224/2013 vom 12.07.2013. Leipzig: Universität Leipzig; 2013.
5.
Universität Leipzig. Studienordnung für den Studiengang Medizin an der Universität Leipzig. Amtl Bekanntmach Uni Leipzig. 2012;(33):9-34.
6.
Frank JR. The CanMEDS 2005 Physician Competency Framework: Better standards. Better physicians. Better care. Ottawa: Royal College of Physicians and Surgeons of Canada; 2005.
7.
Universität Leipzig. Leitbild der Universität Leipzig. 1st ed. Leipzig: Universität Leipzig; 2005.
8.
Müller VE. Geschlechtsspezifische Unterschiede von Nutzen und Risiken medikamentöser Präventionsmaßnahmen der Koronaren Herzkrankheit: Systematischer Review zur wissenschaftlichen und genderspezifischen Evidenz von in Deutschland angewendeten Interventionen (Dissertation). Bremen: Universität Bremen; 2007.
9.
Stengler K. Genderperspektiven in der Medizin (GPmed): Abstractband zur Tagungsreihe an der Universität Leipzig. Leipzig: Universität Leipzig; 2016.
10.
Ludwig S, Oertelt-Prigione S, Kurmeyer C, Gross M, Krüters-Kieslich A, Regitz-Zagrosek V, Peters H. A Successful Strategy to Integrate Sex and Gender Medicine into a Newly Developed Medical Curriculum. J Womens Health (Larchmt). 2015;24(12):996-1005. DOI: 10.1089/jwh.2015.5249 Externer Link
11.
Humboldt-Universität zu Berlin. Fächerübergreifende Satzung zur Regelung von Zulassung, Studium und Prüfung der Humboldt-Universität zu Berlin. Amtl Mitteilungsbl Humboldt-Universität Berlin. 2013;(15):43.
12.
Universität Ulm, Medizinsiche Fakultät. Gender Medicine - Mehr Verständnis durch vertieftes Wissen. Um: Universität Ulm; 2015. Zugänglich unter/available from: http://fakultaet.medizin.uni-ulm.de/studium-lehre/studiengaenge/humanmedizin/medulm/gender-medicine/ Externer Link
13.
Weyers S, Vervoorts A, Dragano N, Engels M. The Gender Lens: Development of a learning aid to introduce gender medicine. GMS J Med Educ. 2017;34(2) Doc17. DOI: 10.3205/zma001094 Externer Link
14.
Universitätsklinikum Leipzig. Medizindidaktik. Leipzig: Universitätsklinikum Leizpzg; 2016. Zugänglich unter/available from: https://www.uniklinikum-leipzig.de/Seiten/mf-medizindidaktik.aspx Externer Link
15.
Goel U. Die (Un)Möglichkeiten der Vermeidung von Diskriminierungen. In: Humboldt-Universität zu Berlin, editor. Diskriminierungskritische Lehre: Denkanstöße aus den Gender Studies. Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin; 2016. p.39-47.
16.
Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Leitfaden: Diskriminierungsschutz an Hochschulen. 2nd ed. Berlin: Anitdiskriminierungsstelle des Bundes; 2014.
17.
Reimann S, Alfermann D. Einflussfaktoren auf die Karriereentwicklung von Ärztinnen - oder was sie beruflich voranbringt. Ärztin. 2016;63(2):8-9.
18.
Andersson J, Verdonk P, Johansson EE, Lagro-Janssen T, Hamberg K. Comparing gender awareness in Dutch and Swedish first-year medical students - results from a questionaire. BMC Med Educ. 2012;12:3. DOI: 10.1186/1472-6920-12-3 Externer Link
19.
Rothe K, Deutschbein J, Wonneberger C, Alfermann D. Between "Playing Doctor," "Work-Life-Balance," and "Highend-Medicine": Do Young Doctors Challenge "Hegemonic Masculinity" in the Field of Medicine? Forum Qual Soc Res. 2016;17(1):Art.15.
20.
Auma M, Goel U, Hornstein R, Pache I. Reflexion und Empowerment für diskriminierungskritische Lehre. In: Freie Universität Berlin, editor. Gender und Diversity in die Lehre! - Strategien, Praxen, Widerstände: Abstractheft zur Konferenz. Berlin: Freie Universtität Berlin; 2016. p.19.