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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Ringvorlesung Gender Medizin an den medizinischen Universitäten Innsbruck und Wien: Ein Lehrformat im Vergleich

Artikel Evaluation

  • corresponding author Sandra Steinböck - Medizinische Universität Wien, Stabstelle Gender Mainstreaming und Diversity, Wien, Österreich
  • author Ulrike Nachtschatt - Medizinische Universität Wien, Koordinationsstelle für Gleichstellung, Frauenförderung und Diversität, Wien, Österreich
  • author Margarethe Hochleitner - Medizinische Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich

GMS J Med Educ 2020;37(2):Doc20

doi: 10.3205/zma001313, urn:nbn:de:0183-zma0013136

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2020-37/zma001313.shtml

Eingereicht: 30. Januar 2019
Überarbeitet: 25. Juli 2019
Angenommen: 19. September 2019
Veröffentlicht: 16. März 2020

© 2020 Steinböck et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Einleitung: Diversitätsspezifische Unterschiede in Gesundheit, Krankheit und Zugang zum Gesundheitssystem sind mittlerweile gut untersucht. Um dieses Wissen innerhalb der medizinischen Berufsgruppen zu verbreitern, ist die Ausbildung der Medizinstudent*innen ein wichtiger Hebel. Ein Ansatzpunkt ist die Nutzung von Wahlfächern.

Projektbeschreibung: Ziel ist die vergleichende Darstellung der Ringvorlesungen zu Gender Medizin an den Medizinischen Universitäten Innsbruck und Wien.

Ergebnisse: Die Grundpfeiler der Lehrveranstaltung (semesterweise wechselnde Themen, verschiedene Vortragende zu einem vorab definierten, quer zu den Disziplinen liegenden Thema) sind ähnlich. Sowohl bei Zielgruppen und Vortragenden als auch bei der Frage der Anrechnung für Externe gibt es verschiedene Zugänge. Inhaltlich bearbeiten beide semesterweise wechselnde medizinische Fachgebiete mit dem Schwerpunkt auf geschlechtsspezifischen Fragestellungen.

Sowohl die in Innsbruck vorliegende Evaluation durch Lehrende als auch das Feedback der Studierenden in Wien zeigen, dass die Ringvorlesungen die Auseinandersetzung mit dem Einfluss verschiedener Diversitätskategorien auf Gesundheit und Krankheit positiv beeinflussen.

Diskussion: Die Sicherstellung eines ‚roten-Fadens‘ in den unterschiedlichen Vorträgen einer zusammenhängenden Ringvorlesung ist mit einem erhöhten Planungs- und Organisationsaufwand verbunden. Dafür können in einer Ringvorlesung verschiedene Fachdisziplinen und ihre Perspektiven zu Wort kommen.

Schlussfolgerung: Die Ringvorlesungen sind eingebettet in Gesamtstrategien an den jeweiligen Universitäten. Eine nachhaltige Integration von Gender Medizin als Querschnittsthema der Lehre ist jedoch nur gemeinsam mit anderen Maßnahmen erfolgsversprechend.

Schlüsselwörter: Gendermedizin, medizinische Ausbildung, medizinische Curricula


1. Einleitung

Gender Medizin ist eine relativ junge medizinische Fachdisziplin. Sie umfasst Auswirkungen von biologischen Faktoren (Größe, Gewicht, Hormone, prozentueller Fettgehalt, Muskelmasse) und soziokulturellen Faktoren (Bildung, finanzielle Ressourcen, Religion, ethnischer Hintergrund oder sexuelle Orientierung) auf Gesundheit und Krankheit. Neben Frauen und Männern schließt Gender Medizin LGBT Personen [1] sowie Personen des dritten Geschlechts mit ein. Die Kategorie ‚Geschlecht‘ gehört neben ‚Alter‘ zu den medizinisch wichtigsten Diversitätskategorien [2]. Mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede ziehen sich über den gesamten medizinischen Diagnose- und Behandlungsverlauf, zudem verfügen Frauen und Männer über unterschiedliche Zugänge zum Gesundheitssystem. Seit der Jahrtausendwende wurde an unterschiedlichen Universitäten in Europa und Nordamerika sukzessive das Angebot an gendermedizinischer Lehre aufgebaut und versucht, die Inhalte in unterschiedlicher Form an den Universitäten zu verankern. Derzeit gibt es jedoch hierfür kein standardisiertes Vorgehen, sondern vielmehr eine breite Palette verschiedener Methoden und Maßnahmen. Dazu zählen die Abbildung der Inhalte in der Lehre, Workshops, Leitfäden, Online-Kurse, öffentliche Vorträge bis hin zu einer strukturellen Verankerung an den Universitäten [3], [4], [5], [6]. Gender Medizin ist einerseits ein eigenes Fach, andererseits eine medizinische Querschnittsthematik, die mit wenigen Ausnahmen für alle medizinischen Fächer relevant ist. Die Diskussion welche Methoden und welche Formate geeignet sind, die Inhalte der Gender Medizin in einer stringenten Weise abzubilden ist noch nicht abgeschlossen [7]. In der vorliegenden Arbeit legen wir daher den Fokus auf ein universitäres Lehrformat, die Ringvorlesung, und zeigen an den Beispielen der Medizinischen Universitäten Innsbruck (MedUni Innsbruck) und Wien (MedUni Wien), welche durchaus unterschiedlichen Zielsetzungen der Gender Medizin-Lehre mit diesem Format erfolgreich umgesetzt werden können.


2. Projektbeschreibung

Ziel der Arbeit ist die vergleichende Darstellung der Ringvorlesungen zu Gender Medizin an den Medizinischen Universitäten Innsbruck und Wien. An der MedUni Innsbruck und an der MedUni Wien gibt es seit 2006 bzw. 2004 ein Angebot in Form einer Ringvorlesung für (nicht nur) Studierende der Medizin zu diesem Thema.

Sowohl in Innsbruck als auch in Wien gibt es darüber hinaus eine Vielzahl an Maßnahmen zur nachhaltigen, intersektionalen Integration der Kategorie ‚Geschlecht‘ in die Lehre [8]. An der MedUni Innsbruck ist Gender Medizin durchgehend in allen Studiengängen in der Pflichtlehre integriert. Diese deckt Gender Medizin als eigenes Fach ab und beinhaltet Grundlagen, Definitionen, Methodenkompetenz oder Gender Medizin & Diversität in der wissenschaftlichen Forschung und Lehre. Flankiert werden die Lehrveranstaltungen durch Leitfäden für Wissenschaft und Lehre, durch Richtlinien zur Berücksichtigung gendermedizinischer Fragestellungen in Diplomarbeiten und Dissertationen sowie Workshops für junge Wissenschaftler*innen und Lehrende.

An der MedUni Wien ist Gender Medizin in den Diplomstudien in der Pflichtlehre enthalten. Für Lehrende gibt es (elektronisch verfügbare) Werkzeuge und Unterstützungsangebote, die die Integration von „Geschlecht“ in ihre Lehrveranstaltungen erleichtern. Zudem sind diese Maßnahmen eingebunden in strategisch verankerte Maßnahmen wie die Entwicklung von Lernzielen und der Sensibilisierung der Lehrenden über medizindidaktische Angebote.

Das Format der Ringvorlesung erlaubt eine an Inhalten orientierte Zusammenstellung von einzelnen Vorträgen zu einem bestimmten Thema, die ein Stück weit quer zu den tradierten Fächern liegt.

Gerade die Auseinandersetzung mit ‚Geschlecht‘ erfolgt oftmals jenseits tradierter Fachdisziplinen und ausgehend von einem interdisziplinären Ansatz, der auch komplementäre Fächer zur Medizin wie z.B. Psychologie, Soziologie, Recht oder auch Pflegewissenschaften in ihrer thematischen Relevanz sichtbar macht. Zudem kann so ‚Geschlecht‘ sowohl auf der biologischen Ebene als auch auf der soziokulturellen Ebene im Kontext mit anderen Diversitätskategorien in seiner Wirkmächtigkeit behandelt werden. Das Format der Ringvorlesung kommt daher dem Aspekt der Gender Medizin als Querschnittsmaterie und der Komplexität gendermedizinischer Fragestellungen sehr entgegen.

In den nachfolgenden Abschnitten werden die beiden Ringvorlesungsangebote nebeneinandergestellt und verglichen. So können Unterschiede in einzelnen Bereichen (z.B. Zielgruppe, inhaltliche Strukturierung) aufgezeigt, Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden und die beiden Konzepte in ihrem organisationalen Rahmen und mit ihren Zielsetzungen beschrieben und analysiert werden. Zur besseren Vergleichbarkeit und aus Gründen der Übersichtlichkeit werden die wichtigsten Rahmenbedingungen und Eckpunkte in tabellarischer Form dargestellt. In einem zweiten Schritt wird das Feedback von Lehrenden (MedUni Innsbruck) und Studierenden (MedUni Wien) miteinbezogen. Beide diesbezüglichen Studien wurden aus anderen, einige Jahre zurückliegenden Anlässen durchgeführt und es wird auf vorhandenes Datenmaterial zurückgegriffen. Die Ergebnisse sind in diesem Sinne nicht vergleichbar. Diese Daten beinhalten jedoch wie die Ringvorlesungen aufgenommen werden und welche Effekte sie haben und werden deshalb in die Beschreibung aufgenommen. An die Ergebnisse schließen die Diskussion der Vor- und Nachteile sowie die Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen mit Konzeption und Umsetzung der Ringvorlesungen an.


3. Ergebnisse

Obwohl beide Universitäten dasselbe Lehrformat Ringvorlesung wählen, wird auf den ersten Blick deutlich, dass es sowohl ähnlich konzipierte Elemente gibt, die direkt miteinander in Bezug gesetzt werden können, wie auch in anderen Bereichen sehr verschieden gestaltete Zugänge.

3.1. Formale Konzeption

Das konzeptionelle Grundgerüst der beiden Ringvorlesungen ist sehr ähnlich. Im Rahmen der von den Studierenden frei wählbaren freien Wahlfächer werden semester- bzw. jahresweise wechselnde Themen bearbeitet. Ein Wahlfach bietet Studierenden die Möglichkeit, ihren Interessen entsprechend vertieftes Wissen in einem spezifischen Feld zu erwerben. Auch wenn die Integration von Gender Medizin in die medizinische Pflichtlehre aufgrund der inhaltlichen Bedeutung dieser Aspekte notwendig ist, ist im Rahmen eines Wahlfaches eine detaillierte Auseinandersetzung für besonders interessierte Studierende zusätzlich möglich. Sowohl an der MedUni Innsbruck als auch an der MedUni Wien ist Gender Medizin als Thema sowohl in der Pflichtlehre als auch im Rahmen eines Wahlfaches verankert.

Der Vorteil der Ringvorlesung ist die Breite der unterschiedlichen inhaltlichen Aspekte, die bearbeitet wird. Die Herausforderung liegt darin sicherzustellen, dass die Vorträge ein stimmiges Gesamtbild ergeben. Diesem Punkt wird an beiden Universitäten durch eine klare inhaltliche Zielsetzung Rechnung getragen: Ausgehend von einem inhaltlichen Konzept wird mit den einzelnen Vortragenden ihr Beitrag besprochen. Zudem fungieren die jeweils ersten und letzten Vorträge als Klammer, in denen das Gesamtkonzept und der Beitrag der einzelnen Vorträge sowie ihr Ineinandergreifen behandelt werden. Außerdem werden in diesen Vorträgen grundlegende Inhalte der Gender Medizin vorgestellt.

Die Eckdaten zu den jeweiligen Ringvorlesungen finden sich in Tabelle 1 [Tab. 1].

An der MedUni Innsbruck liegt der Fokus der Ringvorlesung neben der Wissensvermittlung an Studierende in einer Offenheit für Hörende weit darüber hinaus. Die Ringvorlesung ist konzipiert für eine sehr breite Zielgruppe, die nicht nur Studierende anderer Fächer, sondern auch Ärzt*innen, Mitarbeiter*innen angrenzender Gesundheitsberufe und eine interessierte Bevölkerung umfasst. Dieser Fokus auf eine möglichst große Öffentlichkeit, der mit entsprechender Bewerbung der Vorlesung und dem Fehlen einer Abschlussprüfung einhergeht, spiegelt sich in der Zahl der Hörer*innen. Durchschnittlich besuchen an die 165 Hörer*innen pro Semester die Ringvorlesung in Innsbruck.

An der MedUni Wien ist die Zielgruppe deutlich enger definiert – adressiert werden prinzipiell Studierende und zwar in erster Linie Studierende der MedUni Wien selbst. Durchschnittlich besuchen 15-20 Studierende eine der beiden Ringvorlesungen, die pro Semester angeboten werden. Der Fokus liegt auf der Vermittlung von Gender Medizin Wissen an eine Gruppe von Studierenden, die sich genau für diese Fragestellungen interessieren. Diese bekommen in die Tiefe gehendes Wissen in einem Setting vermittelt, das Raum für persönlichen Austausch mit den Lehrenden und Diskussionen lässt.

Die Betonung von Diversität und die Öffnung hin zu anderen medizinisch relevanten

Kategorien ist expliziter. So gibt es einmal jährlich eine Diversität-Ringvorlesung, die gerade den anderen Kategorien besonderes viel Raum zur Verfügung stellt. Die Diskussion zu „Geschlecht“ und den Diversitätskategorien wird damit in einer expliziten Weise vertieft und auf eine Metaebene gehoben und ist Teil der Lehrveranstaltungsprüfung.

3.2. Inhaltliche Konzeption

Sowohl an der MedUni Innsbruck als auch an der MedUni Wien steht am Beginn der Planung der Ringvorlesungen ein inhaltliches Grundgerüst. Jedes Semester wird an beiden Standorten allen Lehrenden dieses Konzept zur Verfügung gestellt und in einem persönlichen Gespräch mit ihnen diskutiert. An beiden Standorten steht am Beginn der Ringvorlesung eine Einführungsvorlesung der Lehrveranstaltungsleiterin. In dieser Vorlesung werden neben allgemeinen Grundlagenkonzepten der Gender Medizin auch die jeweiligen Vorlesungsreihen und ihre Perspektive auf das Thema vorgestellt.

Inhaltlich sind die Ringvorlesungen an den beiden Universitäten durchaus vergleichbar – wechselnde medizinische Fachgebiete und Themen werden mit dem Fokus auf eventuelle geschlechtsspezifische Unterschiede erörtert. „Geschlecht“ wird immer auch in Verbindung mit anderen Diversitätskategorien gedacht und analysiert, sofern diese für den gewählten Gegenstand relevant sind. Ziel ist, dass die Hörer*innen die aktuellen, evidenzbasierten, sex- und gendermedizinischen Forschungserkenntnisse der jeweiligen Themen kennen- und verstehen sowie in Wien reflektieren lernen. Dabei wird an beiden Universitäten auf eine ausgewogene Balance von Referent*innen aus den medizinischen Grundlagenfächern und aus den klinischen Fächern geachtet. Sowohl an der MedUni Innsbruck als auch an der MedUni Wien gibt es Vorlesungsreihen, die fachlich enger definiert und in die Tiefe gehend sind (Spezialvorlesungen), weiters gibt es Vorlesungsreihen, die breites Überblickswissen vermitteln (Überblicksvorlesungen). Tabelle 2 [Tab. 2] zeigt diese unterschiedlichen inhaltlichen Nuancierungen der beiden Universitäten.

Eine weitere Strategie an der MedUni Innsbruck zur Etablierung der Gender Medizin als Querschnittsthema, ist die spezifische Auswahl der Vortragenden. So werden ganz konkret die Leiter*innen der Kliniken und Forschungsinstitute, d.h. die hierarchisch höchstgestellten Mitarbeiter*innen, persönlich zu einem Vortrag eingeladen. Damit wird die Auseinandersetzung mit gendermedizinischen Forschungsergebnissen und Lehrinhalten auf höchster Ebene in einzelne Fachdisziplinen hineingetragen und damit die Akzeptanz dieses neuen Faches erhöht.

3.3. Rückmeldungen von Lehrenden und Studierenden

Im Rahmen der standardisierten Vorlesungsevaluierungen werden die in diesem Artikel diskutierten Fragestellungen nicht bearbeitet. Die im Folgenden beschriebenen Rückmeldungen beziehen sich auf Erhebungen, die vor allem der internen Manöverkritik an der bestehenden Umsetzung dienen.

An der MedUni Innsbruck war die Perspektive der Lehrenden im Vordergrund, da diese individuell angesprochen werden und die Ringvorlesung von den Organisator*innen als eine Gelegenheit wahrgenommen wird, inhaltliche Kompetenz zu gendermedizinischen Fragestellungen bei Vortragenden und in den einzelnen Fächern aufzubauen und damit die Ringvorlesung jenseits der Zieldefinition auf Seite der Studierenden zur Sensibilisierung von Lehrenden zu nutzen.

Die MedUni Wien holte die Rückmeldung der Studierenden ein. Im Zentrum der Befragung standen ihre Wahrnehmung und ihr Erleben der Ringvorlesung, um ein möglichst passgenaues Angebot entwickeln zu können.

Die nun vorgestellten Rückmeldungen sind demnach nicht vergleichbar, sondern decken verschiedene, Perspektiven ab, die jedoch zur Beurteilung der Ringvorlesung im Rahmen ihrer jeweiligen Verankerung und Wirkung von Bedeutung sind.

3.3.1. Die Perspektive der Lehrenden

An der Medizinischen Universität Innsbruck wurde 2013 eine Umfrage unter den bisherigen Vortragenden der Ringvorlesung Gender Medizin durchgeführt, in der diese zu ihrer Wahrnehmung der Gender Medizin an der Universität befragt wurden. 62 Vortragende (20 Frauen, 42 Männer) nahmen daran teil, das durchschnittliche Alter betrug 52,8 Jahre, 80,65 Prozent von ihnen hatten eine Leitungsfunktion inne. In den Rückmeldungen der Vortragenden zur Ringvorlesung selbst kristallisierten sich drei Themenschwerpunkte heraus. So wurde die Anfrage, ob sie einen Vortrag zur genderspezifischen Thematik ihres Forschungsgebietes übernehmen würden durchaus als Herausforderung empfunden und es bestand in den ersten Jahren der Ringvorlesung Unsicherheit, was denn nun die Inhalte einer solchen Vorlesung sein sollten. Gleichzeitig empfanden es einige Vortragende als lohnende Referenz, sich mit einer genderspezifischen Perspektive nachweisbar auseinandergesetzt zu haben. 23 Vortragende erwähnten, dass ihre Vorbereitung auf den Vortrag und die Aufarbeitung gendermedizinischer Literatur zu ihrem Thema in der Folge zu einem bewussteren Umgang mit der medizinischen Relevanz sex- und genderspezifischer Unterschiede geführt haben, eine Wissenserweiterung stattgefunden hätte und ihr Vortrag eine Anregung war, diese Thematik auch in ihrer eigenen Fachvorlesung zu berücksichtigen. Nur sieben der befragten Personen gaben an, dass die Beschäftigung mit genderspezifischen Unterschieden in ihrem Fachgebiet zu keinen Veränderungen oder Anregungen geführt hätte. Ein Großteil der Referent*innen erlebte die Ringvorlesung als gut akzeptiert und etabliert.

3.3.2. Die Perspektive der Studierenden

An der MedUni Wien wurde eine Evaluation der Ringvorlesung in Form von persönlichen Interviews mit den Studierenden der Ringvorlesungen der Jahre 2007 bis 2011 durchgeführt.

Für die Interviews wurde ein Leitfaden entwickelt, der Fragen zu den Themenbereichen „Konzept und Durchführung der Ringvorlesungen“, „Organisation der Ringvorlesungen“, „Geschlechtsspezifische Inhalte im Medizinstudium“ sowie „Angaben zur Person“ enthielt.

Die Studierenden, insgesamt rund 200, wurden von der Stabstelle Gender Mainstreaming per Email eingeladen, an den Interviews zur Evaluation der Ringvorlesungen teilzunehmen. Elf Studierende (vier weiblich, sieben männlich) haben sich bereit erklärt, ein Interview zu geben. Diese Einschränkung auf wenige Freiwillige ergibt sich aus den Rahmenbedingungen der Erhebung: ein Teil der zum Interview eingeladenen Studierenden standen aus in ihrer aktuellen Lebenssituation liegenden Gründen nicht mehr zur Verfügung oder gaben an, kein Interesse an einer Teilnahme zu haben. Die Einschränkung auf einige wenige Interviews bringt mit sich, dass die Ergebnisse nicht repräsentativ sind.

Alle elf Befragten haben die Ringvorlesungen der Stabstelle Gender Mainstreaming insgesamt als positiv bewertet. Beschrieben wurden sie u.a. als „großartige Einrichtung“, „spannend“ und „sehr gut“. Besonders gelobt wurde auch die Vielfalt der behandelten Themen. Auch mit dem interdisziplinären Konzept der Vorlesungsreihe zeigten sich alle Befragten zufrieden bis sehr zufrieden.

Als Gründe für ihre Teilnahme nannten fünf der Befragten ihr persönliches Interesse an dem Thema „gender“. Sechs der Befragten gaben an, sich eher aus praktischen Gründen für die Teilnahme entschieden zu haben, z.B. um die für das jeweilige Studium vorgeschriebene Anzahl an Wahlfachstunden zu erlangen. Einige von ihnen entwickelten dann im Laufe ihrer Teilnahme Interesse am Thema Gender Medizin.

Auf die Frage, inwiefern sie durch ihre Teilnahme an den Ringvorlesungen profitiert haben, gab ein Großteil der Befragten an, dass ihr Blickwinkel erweitert wurde, dass sie durch die Ringvorlesungen medizinische Themenstellungen nun differenzierter betrachten.


4. Diskussion

Mittlerweile gibt es einen breiten Konsens darüber, dass „Geschlecht“ ein wichtiger Einflussfaktor auf Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheiten ist [1]. Ein wichtiger Hebel zur Verbreiterung des Wissens innerhalb der medizinischen Berufsgruppen ist, wie auch von der WHO [8] gefordert, anerkanntermaßen die medizinische Ausbildung. Dementsprechend existieren sowohl an der MedUni Innsbruck als auch an der MedUni Wien eine Vielzahl an Strategien und Maßnahmen, um geschlechtsspezifisches Wissen der Absolvent*innen sicherzustellen.

Ein Schritt auf dem Weg zur nachhaltigen und umfassenden Integration der Kategorie „Geschlecht“ in die medizinische Ausbildung kann das spezifische Lehrveranstaltungsformat einer Ringvorlesung sein. Die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Möglichkeit zur Thematisierung geschlechtsspezifischer Aspekte in der Medizin in diesem Rahmen eine oft gewählte ist [7]. Ein möglicher Grund ist, dass Lehrende angesprochen werden bzw. sich angesprochen fühlen, die von der Relevanz des Themas überzeugt sind und Widerstände so geringgehalten werden können. Zudem ist es eine gute Möglichkeit sichtbar zu machen, was am jeweiligen Standort an gendermedizinischer Kompetenz schon vorhanden ist, auch wenn es vorher nicht explizit so benannt wurde. So wird mit am Standort bereits vorhandenen Ressourcen gearbeitet und diese bestmöglich genützt. Die Ringvorlesung als Format kann gut an standortspezifische Voraussetzungen angepasst werden. Unterschiedliche Zielsetzungen, Integration von bereits vorhandenen Kompetenzen und Expert*innen oder die Nutzung sich kurzfristig öffnender Möglichkeitsfenster zur strukturellen Verankerung sind dadurch leichter umsetzbar.

Sowohl an der MedUni Wien als auch an der MedUni Innsbruck sind die Ringvorlesungen zu Themen der geschlechtsspezifischen Medizin sehr gut aufgesetzt, gut etabliert und werden von den Lehrenden und den Studierenden sehr gut angenommen. Dies zeigen zum einen die formalisiert erhobenen Rückmeldungen (für Lehrende, MedUni Innsbruck – für Studierende, MedUni Wien) als auch das informelle Feedback an die Lehrveranstaltungsleiter*innen. Die Gemeinsamkeiten zwischen den an den unterschiedlichen Standorten entwickelten Formaten umfassen die gemeinsame Bearbeitung eines Themas durch verschiedene Expert*innen, die jeweils ihre eigene Fachkompetenz und ihre Perspektiven einbringen. Die breite Streuung der Vortragenden aus den medizinischen Fächern und angrenzenden Disziplinen trägt zum Aus- und Aufbau gendermedizinischer Expertise an den beiden Universitäten bei. Dem Charakter von ‚Geschlecht‘ und Gender Medizin als interdisziplinärer Querschnittsmaterie kann so sehr gut Rechnung getragen werden.

Während Innsbruck mit einer sehr breit definierten Zielgruppe eine große Breitenwirksamkeit erreicht, gelingt in Wien im Gegensatz dazu durch die geringe Teilnehmer*innenzahl und die Möglichkeit der Diskussion mit den Vortragenden, eine detaillierte, vertiefende Bearbeitung und eine intensive thematische Auseinandersetzung. Die Bandbreite der Teilnehmer*innen in Innsbruck birgt das Risiko eines geringeren Detaillierungsgrades in sich. Die an der MedUni Wien praktizierte intensive thematische Aufarbeitung geht hingegen wiederum auf Kosten der Reichweite.

Zu betonen ist, dass Ringvorlesungen einen erhöhten Planungs- und Organisationsaufwand auch in Hinblick auf die alltägliche Organisationsarbeit wie Kontrolle der Anwesenheiten, Evaluierungen oder Terminkoordination bedingen. Was bei dem Konzept der Ringvorlesung von den jeweiligen Verantwortlichen für die Lehrveranstaltung insgesamt zu leisten ist, ist sicherzustellen, dass nicht einzelne auseinanderklaffende Vorträge aneinandergereiht werden, sondern ein thematischer ‚roter Faden‘ für Studierende und Lehrende sichtbar wird. Das bringt einen erheblichen Arbeitsaufwand mit sich und erfordert einen offenen Diskussionsprozess mit den Lehrenden bei der Feinkonzeption der Lehrveranstaltung.

In der Literatur gilt die Integration von Gender Medizin im Pflichtcurriculum als nachhaltigste und effektivste Verankerungsstrategie [5]. Damit kann sichergestellt werden, dass alle Studierenden mit der Thematik konfrontiert werden. Die Integration in das Pflichtcurriculum ist langwierig, benötigt viel Durchsetzungsvermögen und ausreichend Ressourcen, wie auch die Erfahrung aus der Überarbeitung des Studienplans an der Charité in Berlin gezeigt haben [3], [4]. Dem gegenüber ist die Verankerung eines Wahlfachs deutlich leichter realisierbar, bringt allerdings den Nachteil einer geringeren Reichweite und fehlender Nachhaltigkeit mit sich.


5. Schlussfolgerung

Das Format der Ringvorlesung eignet sich um die Querschnittsthematik der Gender Medizin abzubilden und kann an unterschiedliche Zielsetzungen angepasst werden. Die jeweiligen Stärken und Schwächen der Modelle ergeben sich im Detail erst vor dem Hintergrund der Gesamtkonzeption zur Integration von Gender Medizin in die Medizincurricula der jeweiligen Universität. Beide hier vorgestellten Ansätze können erfolgsversprechend sein – und das, was jeweils an den einzelnen Standorten erreicht werden sollte, gelingt in den hier diskutierten Beispielen auch. Allerdings ist ein einzelnes Format in egal welcher Konzeption nicht in der Lage, die nachhaltige Integration von Gender Medizin als Querschnittsmaterie in die medizinische Ausbildung sicherzustellen. In diesem Sinne ist es notwendig, die strukturelle Ebene der Curriculumsentwicklung und der Erarbeitung von Lernzielen mit einem Lehrveranstaltungsangebot für Studierende aber auch mit entsprechenden Sensibilisierungsmaßnahmen für Lehrende zu kombinieren.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

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