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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Gender im Fokus – Geschlechterspezifische Wahrnehmungen und Einstellungen Medizinstudierender zu Belastungen des Studienalltags

Artikel Rahmenbedingungen Studium

  • corresponding author Verena Steiner-Hofbauer - Medizinische Universität Wien, Research Unit für Curriculumentwicklung, Wien, Österreich
  • author Mesküre Capan Melser - Medizinische Universität Wien, Research Unit für Curriculumentwicklung, Wien, Österreich
  • author Anita Holzinger - Medizinische Universität Wien, Research Unit für Curriculumentwicklung, Wien, Österreich

GMS J Med Educ 2020;37(2):Doc15

doi: 10.3205/zma001308, urn:nbn:de:0183-zma0013089

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2020-37/zma001308.shtml

Eingereicht: 23. Januar 2019
Überarbeitet: 23. Mai 2019
Angenommen: 13. August 2019
Veröffentlicht: 16. März 2020

© 2020 Steiner-Hofbauer et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Thema dieser Studie war, inwieweit weibliche und männliche Medizinstudierende Belastungen unterschiedlich wahrnehmen und ob die Fähigkeit beider Geschlechter mit Leistungsdruck im Studium umzugehen, von weiblichen und männlichen Studierenden unterschiedlich eingeschätzt wird.

Methodik: In einer Querschnittstudie der Medizinischen Universität Wien wurden 2017 424 Studierende (53% weiblich) des 2. Studienjahres, sowie 161 (46,6% weiblich) Studierende am Ende des 6. Studienjahrs mit Hilfe eines voll strukturierten Fragebogens befragt.

Ergebnisse: Zu Beginn des Studiums fühlten sich weibliche Studierende signifikant seltener den Anforderungen des Studiums gewachsen (87,5% vs. 94,4%), Leistungsdruck stellte das größte Problem für Studentinnen (50,9%) wie Studenten (45,8%) dar. Am Ende des Studiums klagten signifikant mehr weibliche als männliche Studierende über Konkurrenz zwischen den Kommilitoninnen bzw. Kommilitonen (33,3% vs. 8%). Die Hälfte der Studierenden war der Ansicht, dass zwischen beiden Geschlechtern keine Unterschiede im Umgang mit Leistungsdruck bestünden, in der anderen Hälfte allerdings überwog eindeutig die Meinung, dass Männer diesbezüglich Frauen überlegen seien. Zu Beginn und am Ende des Studiums waren signifikant mehr Studenten als Studentinnen davon überzeugt, persönlich besser mit Leistungsdruck umgehen zu können als Studierende des anderen Geschlechts.

Schlussfolgerung: Frauen und Männer erleben Belastungen weitgehend ähnlich. Obwohl weibliche Studierende die gleichen Leistungen erbringen wie ihre männlichen Kollegen, haben sie weniger Vertrauen in ihre Fähigkeiten.

Schlüsselwörter: Geschlechterunterschiede, Medizinstudierende, Einstellung zu Alltagsbelastungen, Leistungsdruck


Einleitung

An der Medizinischen Universität Wien studierten im Wintersemester 2017 4121 Frauen, ihnen standen 3783 männliche Studierende gegenüber. Trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit der Studentinnen und gesetzlichen Regelungen, die Frauen bei gleicher Qualifikation bevorzugt fördern sollen, sinkt ihr Anteil im Laufe der medizinischen Ausbildung stetig. Im universitären Betrieb wird diese Diskrepanz besonders stark sichtbar. So waren beispielsweise 2017 240 Frauen und 298 Männer als Assistenzärzte und Assistenzärztinnen an der Medizinischen Universität Wien tätig. Bei den Habilitationen fanden sich 2016 37 Männer, aber nur 9 Frauen [1]. Auch österreichweit waren 2016 nur etwa 20% der Professuren mit Frauen besetzt [1], [2]. Die Gründe dafür sind vielfältig. Unter Anderem wird auch immer wieder die Mutterschaft als Karrierehemmnis genannt, Abele [3] zeigte jedoch in einer Studie zur beruflichen Laufbahnentwicklung, dass auch kinderlose Frauen eineinhalb Jahre nach Berufseinstieg weniger erfolgreich waren als Männer. Berufliche oder strukturelle Rahmenbedingungen, Belastungen wie Nachtdienste, ausgeprägte vertikale hierarchische Strukturen, Konkurrenzdenken sowie immer größere Leistungsanforderungen an den Einzelnen führen zu Zweifeln an der Wahl der Medizin als Profession sowie zu Erschöpfung und Frustration. Aber auch Persönlichkeitsfaktoren wie übermäßige Selbstzweifel, mangelndes Selbstbewusstsein oder eine kritische Einstellung zur eigenen Leistungsfähigkeit tragen zur beruflichen Unzufriedenheit bei [4], [5] und führen im Zusammenhang mit geschlechterspezifischer Diskriminierung oft zu negativen Karriereentwicklungen [6], [7], [8]. Darüber hinaus können geschlechterstereotype Einstellungen das Verhalten und die Bewertung von sich selbst und anderen beeinflussen. Kristofferson [9] zeigte, dass Männer von beiden Geschlechtern häufig noch immer als kompetenter und wichtiger bewertet werden als Frauen und dass die Medizin als Profession und die damit verbundenen Fähigkeiten geschichtlich und kulturell an Männlichkeit gebunden sind. Es liegt nahe, dass geschlechtsspezifische Einstellungen bereits im Studium zum Tragen kommen und sich daher der Umgang mit Belastungen und Anforderungen weiblicher und männlicher Studierender unterscheidet. Internationale Studien belegen, dass sich weibliche Studierende durch die Anforderungen während des Medizinstudiums stärker belastet und in ihrer psychischen Gesundheit häufiger beeinträchtigt fühlen [10], [11], [12], [13]. Leistungsanforderungen und Leistungsdruck in Form der Bewältigung großer Mengen an Lernstoff [14], [15], Konkurrenz und Wettbewerb zwischen den Kommilitoninnen bzw. Kommilitonen [14], aber auch soziale Aspekte wie Schwierigkeiten sozialen Anschluss zu finden, können als Stressoren erlebt werden [14], [15]. Darüber hinaus sehen sich viele Studierende mit finanziellen Problemen konfrontiert [14], [15]. Das Gefühl übermäßig viel Zeit für die Ausbildung aufwenden zu müssen [15], [16] und dadurch zu wenig Erholung zu finden, kann zu einer negativen Work-Life-Balance und zur Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit und Depression führen [14], [16], [17]. In dieser Studie untersuchten wir, ob Anforderungen und Belastungen wie Leistungsanforderungen, Konkurrenz, soziale Kontakte oder finanzielle Probleme von weiblichen und männlichen Studierenden, zu Beginn im rein universitären Kontext und am Ende des Studiums, nach der klinischen Ausbildung, unterschiedlich wahrgenommen werden und ob weibliche und männliche Studierende Benachteiligungen unterschiedlich erleben. Des Weiteren wird die Zustimmung zu geschlechterspezifischen Aussagen zu den Fähigkeiten von Frauen und Männern im Umgang mit Leistungsdruck erhoben, um festzustellen, inwieweit das Geschlecht und stereotype Zuschreibungen durch Geschlechterrollen noch immer den Studienalltag beeinflussen. Im Speziellen interessierten uns folgende Fragen:

  • Schwierigkeiten/Probleme, die Studierende wahrnehmen: Unterscheiden sich weibliche und männliche Studierende hinsichtlich der von ihnen im Zusammenhang mit ihrem Studium wahrgenommenen Probleme?
  • Studienanforderungen: Inwieweit fühlen sich weibliche und männliche Studierende den Anforderungen des Studiums gewachsen? Sind weibliche und männliche Studierende in gleichem Maße mit ihrer Work-Life-Balance zufrieden und gibt es Unterschiede im betriebenen Arbeitsaufwand?
  • Benachteiligung aufgrund des Geschlechts: Fühlen sich häufiger weibliche oder männliche Studierende aufgrund ihres Geschlechts im Studium benachteiligt?
  • Geschlechterspezifischer Umgang mit Leistungsdruck: Wie bewerten Studierende geschlechtsspezifische Aussagen zur Fähigkeit mit Leistungsdruck umzugehen? Bestehen hier Geschlechtsunterschiede?

Material und Methoden

Im Rahmen einer Querschnittsstudie wurden insgesamt 585 Studierende der Medizinischen Universität Wien zu Beginn und am Ende ihres Studiums (2tes Jahr, Ende 6tes Jahr) befragt. Diese beiden Zeitpunkte wurden gewählt, da Studierende des 6ten Studienjahres im Rahmen ihres klinisch praktischen Jahres bereits Einblicke in den Berufsalltag gewinnen konnten, während Studierende des 2ten Jahres hauptsächlich innerhalb der Universität Erfahrungen gesammelt haben. Im 2ten Studienjahr nahmen 424 Studierende teil (Gruppe 1, 53% weiblich), im 6ten Studienjahr 161 (Gruppe 2, 46,6% weiblich). Die Rücklaufquote war für das 2te Studienjahr 65,9%, für das 6te Studienjahr 45,9%.

Die Durchführung der Studie wurde von der Ethikkommission der Medizinischen Universität Wien befürwortet. Die Befragung wurde 2017 im Anschluss an Pflichtlehrveranstaltungen im 2ten Studienjahr (Lehrveranstaltung: Ärztliche Gesprächsführung) und im 6ten Studienjahr nach der klinisch-praktischen Ausbildung (Lehrveranstaltung: Returnweek) durchgeführt. Die Teilnahme an der „paper pencil“-Befragung war freiwillig und anonym. Durch die Wahl von verpflichtenden Lehrveranstaltungen wurde die Anwesenheit möglichst vieler Studierender sichergesellt. Die Erhebung mittels standardisiertem Fragebogen ermöglicht einen breiten Überblick über das Thema zu erlangen.


Fragebogen

Der Fragebogen wurde von den Autoren selbst entwickelt. Die soziodemographischen Angaben beschränkten sich auf das Geschlecht, welches als „männlich“ und „weiblich“ erhoben wurde. Auf Basis der Literatur [14], [15], [16], [17] wurden folgende Belastungen als Problembereiche definiert: Leistungsanforderungen, finanzielle Probleme, Konkurrenz, Probleme mit sozialen Kontakten, auch „keine Probleme“ konnten durch Ankreuzen ausgewählt werden. Mehrfachantworten waren möglich. Die Studienanforderungen wurden durch die Aussagen „Ich komme mit den Anforderungen des Studiums gut zurecht“ und „Ich bin mit meiner Work-Life-Balance zufrieden“ erhoben, zu denen anhand einer vierstufigen Skala (0=nein, absolut nicht, 1=nein, eher nicht, 2 ja, eher, 3= ja, absolut) Stellung bezogen werden konnte. Außerdem stellten wir die Frage: „Wie viele Stunden wenden Sie pro Woche für Studienangelegenheiten auf?“. Die subjektiv wahrgenommene Benachteiligung wurde durch folgendes Item erfasst: „Ich habe den Eindruck, ich wurde während des Studiums/während meiner Ausbildung aufgrund meines Geschlechts benachteiligt“.

Die Aussagen zum geschlechterspezifischen Umgang mit Leistungsdruck lauteten: „Ich denke, dass Männer allgemein besser mit Leistungsdruck umgehen können als Frauen“; „Ich denke, dass Frauen allgemein besser mit Leistungsdruck umgehen können als Männer“; „Ich denke, dass ich persönlich besser mit Leistungsdruck umgehen kann als Personen des anderen Geschlechts“. Zu den Statements konnten die Befragten anhand einer vierstufigen Skala (0=nein, absolut nicht; 1= nein, eher nicht; 2= ja, eher; 3= ja, absolut) Stellung beziehen.

Statistische Analyse

Für die Datenauswertung wurde SPSS Version 24.0.0.0 verwendet. Geschlechterunterschiede wurden mittels Chi-quadrat Test auf statistische Signifikanz überprüft. Für die Auswertungen der Daten wurden die Antworten „nein, absolut nicht“ und „nein, eher nicht“ sowie „ja, eher“ und „ja, absolut“ zu einem dichotomen Antwortset „Zustimmung“ und „Ablehnung“ zusammengefasst. Dadurch wird eine ausreichende Zellenbesetzung sowie bessere Interpretierbarkeit gewährleistet.


Ergebnisse

Schwierigkeiten/Probleme, die Studierende erleben

Studierende im 2ten Studienjahr erleben vor allem Leistungsanforderungen als Problem: 50,9% der Studentinnen und 45,8% der Studenten geben dies an (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Im 6ten Studienjahr leiden dagegen nur etwa halb so viele Studierende darunter. In beiden Jahrgängen finden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Im 2ten Studienjahr sind etwa ein Viertel der befragten Studierenden von finanziellen Problemen betroffen, im 6ten Studienjahr ist die Anzahl, bei den weiblichen Studierenden mit 33,3% höher als bei den männlichen Studierenden bei denen der Anteil in etwa gleich bleibt. Während Konkurrenz unter den Niedrigsemestrigen generell nur eine geringe Rolle spielt, scheint das Problem für Frauen gegen Ende des Studiums deutlicher spürbar zu sein: Im 6ten Studienjahr geben über 20% der Frauen an darunter zu leiden, gegenüber nur 8% bei den Männern (χ2(1)=5.838, p<.05). Selten wird über Schwierigkeiten sozialen Kontakt zu anderen zu finden geklagt. Studenten geben häufiger an, keine Probleme zu haben als Studentinnen. Diese Tendenz ist im 6ten Studienjahr statistisch signifikant, hier geben etwa die Hälfte der Studenten, aber nur ein Viertel der Studentinnen an keine Probleme zu haben (χ2(1)=6.660, p<.05).

Studienanforderungen

Im 2ten Studienjahr fühlen sich weibliche Studierende seltener den Anforderungen des Studiums gewachsen als männliche Studierende (χ2(1)=5.741, p<.05) (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]). Im 6ten Studienjahr besteht dieser Unterschied zwischen den Geschlechtern nicht. Fast alle männlichen und weiblichen Studierenden kommen mit den Studienanforderungen gut zurecht. Sowohl bei Studierenden des 2ten Jahres als auch bei den Studierenden des 6ten Jahres bestehen keine signifikanten Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der Zufriedenheit mit der Work-Life-Balance. Bei den Frauen findet sich eine nicht signifikante Tendenz zu größerer Zufriedenheit bei den Studentinnen im 6ten Jahr (77% versus 66%). Weibliche Studierende im 2ten Jahr wenden mit 42,6 Stunden pro Woche signifikant mehr Stunden für ihr Studium auf als männliche Studierende (38,5 Stunden) (t(382)=-2.179, p<.05), während umgekehrt im 6ten Jahr männliche Studierende mit 42,8 Stunden pro Woche signifikant mehr Stunden dem Studium widmen als ihre weiblichen Kolleginnen (37,8 Stunden) (t(150)=-1.723, p<.05).

Benachteiligung aufgrund des Geschlechts

Eine Benachteiligung aufgrund ihres Geschlechts wird von Studierenden der Gruppe1 insgesamt eher selten wahrgenommen. 5,6% der weiblichen und 4,1% der männlichen Studierenden fühlen sich aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt. Es fällt auf, dass dieser Eindruck bei beiden Geschlechtern im 6ten Studienjahr annähernd drei Mal häufiger vorhanden ist. 15,8% der weiblichen (χ2(1)=7.805, p<.05) und 11,5% der männlichen (χ2(1)=5.442, p<.05) Studierenden fühlen sich aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt. Beide Unterschiede sind statistisch signifikant.

Geschlechterstereotype Einstellungen zum Umgang mit Leistungsdruck

Von den Studierenden im 2ten Jahr verneint rund die Hälfte der Studierenden (51,7%) sowohl die Aussage, dass Männer generell besser mit Leistungsdruck umgehen könnten, als auch die Aussage, dass Frauen dazu besser in der Lage seien. Offensichtlich sieht etwa die Hälfte der Studierenden diesbezüglich keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Studenten vertreten diese Ansicht etwas häufiger als Studentinnen, der Unterschied zwischen beiden ist aber nicht statistisch signifikant (57,8% vs. 46,5%; χ2(1)=2,746, p>0,05).

Wird ein Geschlechtsunterschied bejaht, so sind es die Männer, die häufiger als kompetenter im Umgang mit Leistungsdruck gesehen werden, und zwar von Studenten wie von Studentinnen (38,6% bzw. 45%). Nur eine Minderheit (20,3% der Frauen und 5,1% der Männer) nimmt den umgekehrten Fall an, nämlich, dass Frauen den Männern in der Bewältigung von Leistungsdruck überlegen seien, wobei Studentinnen signifikant häufiger als Studenten diese Ansicht vertreten. Ein ähnliches Muster findet sich auch bei Studierenden des 6ten Jahres. Hier sind es 62,3% der Studenten und 50,6% der Studentinnen, die einen Geschlechterunterschied hinsichtlich der Bewältigung von Leistungsdruck verneinen (χ2(1)=2,181; p>0,05). Unter den Studierenden, die einen Geschlechterunterschied bejahen, dominieren auch hier diejenigen, die generell Männern, eher als Frauen, zutrauen mit Leistungsdruck fertig zu werden. Dies gilt gleichermaßen für Studenten und Studentinnen.

Lässt man die Studierenden sich selbst mit Studienkollegen des anderen Geschlechts vergleichen, so fällt das Ergebnis eindeutig aus: Zu beiden Zeitpunkten sind signifikant mehr Studenten als Studentinnen davon überzeugt, besser mit Leistungsdruck umgehen zu können als Studierende des anderen Geschlechts. Die beschriebenen Ergebnisse zu geschlechterstereotypen Einstellungen sind in Abbildung 2 [Abb. 2] dargestellt.


Diskussion und Schlussfolgerung

Die Studierenden beider Geschlechter erleben Leistungsdruck ähnlich, dennoch wird häufiger eingeschätzt, dass Männer mit diesem Druck besser umgehen können als Frauen. Bei den erhobenen Belastungen zeigten sich Unterschiede lediglich in den Bereichen Konkurrenz und Finanzen, weiblichen Studierende im 6ten Jahr erleben diese Bereiche häufiger als problematisch als ihre männlichen Kollegen. Probleme soziale Kontakte zu knüpfen gab es kaum. Probleme mit Leistungsanforderungen haben vor allem Studierende zu Beginn des Studiums, Männer und Frauen in ähnlichem Ausmaß. Weibliche Studierende sind mit ihrer Work-Life-Balance vor allem anfangs unzufrieden. Eine vermehrte Benachteiligung aufgrund des Geschlechts wird aber von weiblichen und männlichen Studierenden erst am Ende des Studiums registriert.

Warum vor allem Frauen finanzielle Probleme eher wahrnehmen, beschrieben Fisher und Yao [18] in ihrer Studie, in der sie die finanzielle Risikotoleranz untersuchten und fanden, dass Frauen weniger Toleranz in Bezug auf finanzielle Risiken und Einkommensunsicherheiten haben. In unserer Studie fanden sich entgegen der Ergebnisse von Erschens et al. [15] nur wenige Probleme im Bereich sozialer Kontakte. Das kann daran liegen, dass von Beginn des Studiums an Unterricht in Kleingruppen stattfindet und den Studierenden die Möglichkeit bietet eng zusammenzuarbeiten und dadurch Kontakte oder Freundschaften zu knüpfen. In beiden Jahrgängen werden Männer als kompetenter im Umgang mit Leistungsdruck eingeschätzt und das, obwohl weibliche Studierende in objektiven Assessments die gleichen Leistungen erbringen wie ihre männlichen Kollegen und auch bei den erlebten Problemen kaum Unterschiede erkennbar sind. Babaria et al. berichten, dass Frauen weniger Vertrauen in ihre Fähigkeiten und mehr Ängste in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit erleben [19]. In unserer Studie verneinte zwar gut die Hälfte der befragten Studierenden, dass zwischen beiden Geschlechtern im Umgang mit Leistungsdruck Unterschiede bestünden, unter der anderen Hälfte überwog aber eindeutig die Meinung, dass Männer diesbezüglich Frauen überlegen seien. Dies galt gleichermaßen für männliche und weibliche Studierende und für Studierende zu Beginn und am Ende ihres Studiums. Der Aussage, dass Frauen im Allgemeinen besser im Umgang mit Leistungsdruck seien als Männer, wurde von beiden Geschlechtern dagegen nur sehr selten zugestimmt. Die Studentinnen schätzten auch ihre persönliche Fähigkeit im Umgang mit Leistungsdruck im Vergleich mit Männern eher gering ein. Männliche Studierende stimmen dieser Aussage deutlich öfter zu. Laut Kamas und Preston [20] ist oftmals mangelndes Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit der Grund dafür, dass Frauen vermeiden sich in Wettbewerbssituationen zu begeben. Dies sei für die berufliche Entwicklung von Frauen nachteilig. Abele [3] betont, dass die berufliche Selbstwirksamkeitserwartung beruflichen Erfolg vorhersagen kann. Das aus verschiedenen Gebieten bekannte Phänomen des „Sterotype threat“ [7], [8] besagt, dass in Bereichen, in denen man anderen Gruppen bessere Fähigkeiten zutraut, die eigene Leistungsfähigkeit vermindert werden kann. Der zusätzliche Druck, der aus dieser nachteiligen Selbstbewertung entsteht, könnte eine Ursache für die von Aster-Schenck et al. [21] gefundene geringe innere Ruhe und Ausgeglichenheit, den geringeren beruflichen Ehrgeiz und die höhere Resignationstendenz der Frauen sein und gleichzeitig eine Rolle bei der immer wieder dokumentierten höheren psychischen Morbidität [22], [23], [24] der weiblichen Studierenden spielen. Auch vielen der männlichen Studierenden bereiten die Leistungsanforderungen Probleme, jedoch scheint dies keinen Einfluss auf ihr subjektives Gefühl zu haben mit den Anforderungen des Studiums gut zurecht zu kommen. Auch Haidinger et al [6] identifizieren „Erfolgssicherheit“, d.h. die Selbstsicherheit in Bezug auf eine zu bewältigende Aufgabe, als wichtigen Faktor für tatsächlichen Erfolg. Das Medizinstudium wird, möglicherweise noch immer als Männerdomäne wahrgenommen [9], in der sich männliche Studenten mit größerer Sicherheit bewegen [6]. Das durchgängig positivere Gefühl der Männer mit den Anforderungen des Studiums gut zurechtzukommen passt gut in dieses Bild. Miksch et al. [25] fanden, dass alle von ihnen untersuchten Aspekte der Work-Life-Balance von Frauen als relevanter beurteilt werden, und schließen daraus, dass sich Frauen bereits während des Studiums mit Doppelbelastung und Vereinbarkeit von Beruf und Familie verstärkt auseinandersetzen. Auffallend ist auch, dass obwohl Konkurrenz unter den Studierenden zu Beginn des Studiums kaum ein Problem darstellt, vor allem weibliche Studierende zum Ende der Ausbildung verstärkt Konkurrenz als Problem erleben. Das Fehlen alt hergebrachter „Spielregeln“ für Frauen in Konkurrenzsituationen könnte den Umgang mit diesen erschweren. Aber auch die Tendenz von Frauen Wettbewerbssituationen vermeiden zu wollen [26] kann in der negativen Wahrnehmung von Konkurrenz eine Rolle spielen. Zum Studienende geben beide Geschlechter signifikant häufiger an wegen ihres Geschlechts diskriminiert zu werden, Frauen noch häufiger als Männer. Larsson [27] berichtet, dass geschlechterspezifische Diskriminierungen vor allem im klinischen Praktikum auftreten, wobei davon vermehrt, aber nicht ausschließlich weibliche Studierende betroffen sind. Dies könnte auch in unserer Gruppe den beobachteten Anstieg von Konkurrenzempfindungen und erlebter Benachteiligung nach dem Klinisch-Praktischen-Jahr begründen. Grundsätzlich zeigt sich ein Trend dazu, dass Frauen sich zum Ende der Ausbildung den Anforderungen des Studiums besser gewachsen fühlen und auch mit ihrer Work-Life-Balance zufriedener sind. Auch eine neutralere Haltung zu Geschlechterunterschieden im Umgang mit Leistungsdruck ist bei den älteren Studierenden zu verzeichnen. Das mag der jahrelangen Beobachtung geschuldet sein, dass Frauen und Männer sich gleichermaßen erfolgreich im Studium behaupten. Auch Abele [3] stellt Rückkoppelungseffekte von Erfolg auf Selbstwirksamkeitserwartung fest. Hochschulpolitische Maßnahmen, wie vermehrt weibliche Rollenmodelle in sichtbaren Positionen zu schaffen, stellen beispielsweise eine Möglichkeit zur Frauenförderung dar. Die Ergebnisse dieser Studie legen nahe, dass nach wie vor, großer Bedarf besteht die Bedeutung und den Einfluss von Geschlechterrollen und Stereotypen im Curriculum zu thematisieren und die Studierenden zur Reflexion anzuregen.


Limitationen

Die Gruppe im 6. Studienjahr war deutlich kleiner als die Gruppe im 2. Studienjahr. Die Vergleichbarkeit ist dadurch nur eingeschränkt gegeben. Eine genauere Analyse der hier angeschnittenen Themen sowie eine Längsschnittuntersuchung wären für die Zukunft wünschenswert. Wie bei allen Studien mit freiwilliger Teilnahme ist ein Selektionsbias nicht auszuschließen. Das Fehlen der Aussage „Ich finde, dass Frauen und Männer gleich gut mit Leistungsdruck umgehen können.“ mag als ein Manko der Studie betrachtet werden. Jedoch bestand die Möglichkeit, beide geschlechtsbezogenen Aussagen abzulehnen und damit eine neutrale Haltung auszudrücken. Dieses Vorgehen wurde gewählt, um den Effekt sozialer Erwünschtheit zu minimieren. Es wurde bewusst auf standardisierte Fragebögen, die ähnliche oder verwandte Konstrukte erheben, verzichtet um direkt die Einstellung zu geschlechterstereotypen Aussagen zu erheben. Es wurde versucht den Nachteilen, die selbst entwickelte Fragebögen mit sich bringen, wie fehlende Angaben zur Reliabilität oder Validität, durch direktes Erfragen der Einstellungen entgegenzuwirken.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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