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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Die Relevanz kultureller Vielfalt für die Sicherheitskultur: Eine CIRS-Datenanalyse zur Identifikation von Problembereichen in der Gesundheitsversorgung und Ableitung von Kompetenzbedarfen für Gesundheitsfachkräfte

Artikel Patientensicherheit

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  • author Birgit Babitsch - Universität Osnabrück, Abteilung New Public Health, Osnabrück, Deutschland
  • author Lisa Bretz - Universität Osnabrück, Abteilung New Public Health, Osnabrück, Deutschland
  • author Hilke Mansholt - Universität Osnabrück, Abteilung New Public Health, Osnabrück, Deutschland
  • corresponding author Nina-Alexandra Götz - Universität Osnabrück, Abteilung New Public Health, Osnabrück, Deutschland

GMS J Med Educ 2020;37(2):Doc14

doi: 10.3205/zma001307, urn:nbn:de:0183-zma0013078

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2020-37/zma001307.shtml

Eingereicht: 30. Januar 2019
Überarbeitet: 3. Juni 2019
Angenommen: 15. August 2019
Veröffentlicht: 16. März 2020

© 2020 Babitsch et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Zielsetzung: Die Gesellschaft und folglich auch das Gesundheitssystem sind zunehmend kulturell divers, was sich sowohl auf Seiten der Patient*innen als auch auf Seiten der Fachkräfte zeigt. Studien weisen auf einen Einfluss der Ethnizität im Versorgungskontext hin. Dabei liegen deutlich mehr Erkenntnisse für Patient*innen als für Fachkräfte, bspw. zum Einfluss kultureller Diversität in Teams, vor. Kaum untersucht ist der Einfluss kultureller Vielfalt auf die Patientensicherheit, so dass mögliche Effekte und notwendige Maßnahmen sowie erforderliche Kompetenzen derzeit nicht konkretisiert werden können. Im Rahmen des Projektes „Gestaltungskompetenz als Innovator für hochzuverlässige Organisationen im Gesundheitssystem“ (abgekürzt GIO) werden diese Fragen im Rahmen einer Fallstudie aufgegriffen. Hierzu wurde u. a. eine CIRS-Datenanalyse durchgeführt, um spezifische Problembereiche zu erkennen und darauf aufbauend Kompetenzen für einen sicheren Umgang mit kultureller Vielfalt zwischen Mitarbeitenden abzuleiten. Auf dieser Basis wird ein zielgruppengerechtes interaktives Lernangebot für die Weiterbildung entwickelt.

Methodik: Für den Bereich kulturelle Vielfalt wurde eine Analyse der in CIRSmedical (Critical Incident Reporting System) gemeldeten Patientensicherheitsfälle durchgeführt und zusammenfassend inhaltsanalytisch ausgewertet. Hierzu wurde eine systematische Suche mit vorab definierten Suchbegriffen und Einschluss- bzw. Ausschlusskriterien durchgeführt.

Ergebnisse: In die Auswertung wurden 45 Fälle eingeschlossen. Die Ergebnisse lassen sich zwei Kategorien zuordnen: „(Fehl-) Kommunikation“ und „Fehlerhafte Anpassung an Patientenbedürfnisse“. Kulturelle Vielfalt wurde meist nicht als primär ursächlicher oder expliziter Grund angegeben, sondern ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren als Ursache für das Eintreten eines unerwünschten Ereignisses genannt.

Schlussfolgerung: Mit der Auswertung der CIRS-Daten lassen sich konkrete Herausforderungen, die sich durch die Interkulturalität in Teams und in Versorgungskontexten ergeben, benennen. Verbesserungsansätze sollten dabei sowohl organisationale als auch personale Maßnahmen beinhalten. Bei Letztgenannten ist es entscheidend, Kompetenzbedarfe zu identifizieren und gezielte Angebote zur Kompetenzentwicklung für die medizinische und pflegerische Aus- und Weiterbildung zu entwickeln für Mitarbeitende in ethisch diversen Teams.

Schlüsselwörter: kulturelle Vielfalt, heterogene Teams, Kompetenzbedarf, Patientensicherheit, Sicherheitskultur


Einleitung

Der Zusammenhang zwischen Migration und Gesundheit ist multikomplex. Er schließt das Erleben und Auftreten von Beschwerden und Erkrankungen sowie auch die Vorstellungen zur Nutzung der Gesundheitsversorgung ein [1], [2]. Ein Einfluss der Ethnizität besteht sowohl bei Patient*innen als auch bei Fachkräften und erhält aufgrund der Zunahme kultureller Vielfalt eine besondere Priorität [3]. Der kultursensiblen Kommunikation kommt dabei eine wichtige Rolle zu [4]. Vorhandene Konzepte wie „(inter-)cultural competency“ oder „intercultural communication“ fokussieren sich meist auf Patient*innen, jedoch selten auf Fachkräfte [5], [6]. Auch im Kontext der Patientensicherheit kommt der Kommunikation eine Schlüsselrolle zu [7], [8].

Allerdings liegen kaum Hinweise zum Einfluss kultureller Vielfalt auf die Patientensicherheit bzw. Sicherheitskultur in Gesundheitseinrichtungen vor [9], [10]. So ist offen, ob spezifische Kompetenzen für einen patientensicheren Umgang in der Versorgung von ethnisch diversen Patient*innen benötigt werden. Zudem ist wenig darüber bekannt, welchen Einfluss kulturelle Vielfalt auf die Patientensicherheit nimmt (positiv wie negativ) und welche kultursensiblen Kompetenzen Mitarbeiter*innen in heterogenen Teams für ein patientensicheres Arbeitsumfeld brauchen. Hierzu wird mit der CIRS-Datenanalyse folgende Frage: „Welche Problemfelder werden in CIRSmedical in Zusammenhang mit kultureller Vielfalt berichtet?“ bearbeitet.


Projektbeschreibung

Im Rahmen des Verbundprojektes „Gestaltungskompetenz als Innovator für hochzuverlässige Organisationen im Gesundheitssystem (GIO)“ wird in einer Fallstudie der Einfluss von kultureller Vielfalt auf die Sicherheitskultur untersucht. Übergeordnetes Ziel der Fallstudie ist es, Kompetenzen für einen sicheren Umgang mit kultureller Vielfalt zwischen Mitarbeitenden zu identifizieren und daraus ein interaktives Lernangebot zu entwickeln.

Hierzu wurde in einem ersten Schritt eine Analyse der in CIRSmedical (Critical Incident Reporting System) gemeldeten Patientensicherheitsfälle für den Bereich „Ethnizität“ durchgeführt [11]. Für die systematische Suche wurden folgende Suchbegriffe verwendet: „Migra*“, „Migri*“, „Herkunft“, „Ethni*“, „Ausland“ oder „Ausländ*“.

In der CIRSmedical-Datenbank waren insgesamt 5.786 Fälle (Stand 11.01.2018) verfügbar, wobei 190 Fälle mit den verwendeten Schlagwörtern gefunden wurden. Nach Ausschluss von 145 Fällen wurden 45 Fälle in die zusammenfassende inhaltsanalytische Auswertung nach Mayring [12] einbezogen. Die Fälle wurden von zwei Wissenschaftler*innen unabhängig voneinander ausgewertet. Unstimmigkeiten bei den induktiv entwickelten Kategorien wurden im Konsens gelöst.


Ergebnisse

Die in den CIRS-Fällen beschriebenen Problembereiche, im Zusammenspiel mit kultureller Vielfalt, werden häufig neben weiteren Faktoren (wie z. B. organisationale) als ursächlich für das unerwünschte Ereignis berichtet. In 13 Fallbeschreibungen ist die kulturelle Vielfalt als Hauptgrund der Problematik und in zehn Fällen als beitragender Faktor genannt. In 23 Fällen wird kulturelle Diversität als vermutlich beitragender Faktor gesehen. Neben einer falschen Medikamentengabe kam es bspw. auch zu sprachlichen Barrieren bei dem unerwünschten Ereignis.

Aus den 45 identifizierten Fällen wurden zwei inhaltliche Kategorien gebildet: „(Fehl-) Kommunikation“ und „Fehlerhafte Anpassung an Patientenbedürfnisse“ (siehe auch Abbildung 1 [Abb. 1]).

In letzterer Kategorie wurde auf Grund von Patientenbedürfnissen von Standardverfahren abgewichen. Es wurde die Patientensicherheit gefährdet dadurch, dass aus Rücksicht auf die Religion des/der Patient*in keine Markierung an der zu operierenden Extremität erfolgte. Die Kategorie der „(Fehl-) Kommunikation“ ist weiter unterteilt in „Mitarbeiter*innen-Kommunikation“ (1) und „Mitarbeiter*innen-Patient*innen-Kommunikation“ (2). Erstgenannte beinhaltet Fälle, bei denen es zu einer unzureichenden Weitergabe von Informationen kam, z. B. durch sprachliche Defizite oder Beschriftungen. Zweitgenannte umfasst Fälle, die sich durch Sprachbarrieren zeigen, wie z. B. allgemeine Patientenkommunikation, Aufnahme von Patienten*innen und Patientenidentifikation.


Diskussion

Die Ergebnisse der CIRS-Datenanalyse zeigen, dass durch Kommunikationsprobleme in kulturell diversen Teams, aber auch durch Probleme in der interkulturellen Interaktion Abläufe und somit auch die Sicherheit der Patient*innen gefährdet werden können. Verbesserungsansätze sollten dabei sowohl organisationale als auch personale Maßnahmen beinhalten. Bei Letztgenannten ist es entscheidend, Kompetenzbedarfe zu benennen und gezielte Angebote zur Kompetenzentwicklung für die medizinische und pflegerische Aus- und Weiterbildung zu entwickeln. Aus den induktiv abgeleiteten Kategorien werden im GIO-Projekt Kompetenzbedarfe und entsprechende Lernziele abgeleitet (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]), die im nächsten Schritt die Grundlage für die Entwicklung von Lernangeboten in einer interaktiven Lernumgebung darstellen.

Dies erfolgt auf Basis eines in GIO entwickelten Kompetenzkatalogs, indem erstmalig Kompetenzen für die Gestaltung einer Sicherheitskultur, im Sinne hochzuverlässiger Organisationen, konkretisiert wurden.

Limitierend zu erwähnen ist, dass in der CIRS-Datenbank die Fälle redaktionell aus datenschutzrechtlichen Gründen und zu Anonymisierungszwecken von berechtigten Mitarbeiter*innen des ÄZQ (Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin) überarbeitet werden, um bspw. eine diskriminierungsfreie Formulierung zu gewährleisten. Damit ist es möglich, dass weitere Problemfelder unentdeckt blieben. Dennoch lässt die CIRS-Datenanalyse die Annahme zu, dass Kultur und insbesondere Kommunikation auf Mitarbeiter*innenebene eng miteinander verbunden sind und für die Patientensicherheit eine wichtige Bedeutung haben.


Schlussfolgerung

Die CIRS-Daten weisen darauf hin, dass das Thema Heterogenität in der Gesundheitsversorgung und hier vor allem der Kommunikationsbereich einen Kompetenzbedarf darstellen, sowohl in kulturell heterogenen Teams als auch in der Versorgung von kulturell diversen Patient*innen. Allerdings sind diese Kompetenzen bislang wenig untersucht. Dies trifft auch auf die Frage der Kompetenzvermittlung im Kontext der medizinischen und pflegerischen Weiterbildung zu. Entsprechend könnte die Verknüpfung der Bereiche interkulturelle Kommunikation bzw. interkulturelle Interaktion und Sicherheitskultur für die Kompetenzentwicklung ein interessantes Feld sein, um die aufkommenden Herausforderungen in heterogenen Teams zu bewältigen.


Förderung

Gefördert aus Mitteln des „Niedersächsischen Vorab“.


Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Tagay S. Andere Länder, andere Sitten: Patienten mit Migrationshintergrund verstehen. Dtsch Med Wochenschr. 2015;40(22):1702-1704. DOI: 10.1055/s-0041-107639 Externer Link
2.
Spiess R, Kilcher A. Arzt-Patienten-Interaktion im Migrationskontext. Praxis. 2003;92(15):697-705. DOI: 10.1024/0369-8394.92.15.697 Externer Link
3.
Bouncken RB, Pfannstiel MA, Reuschl AJ, Haupt A. Diversität managen. Wie Krankenhäuser das Beste aus personeller Vielfalt machen. 1st ed. Stuttgart: Kohlhammer; 2015.
4.
Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Versorgung. Sprachkompetenz in der Pflege. Köln: Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Versorgung; 2019. Zugänglich unter/available from: http://www.gqmg.de/Dokumente/positionspapiere/GQMG_Positionspapier_sprachkompetenz_in_der_pflege_28_maerz_2019.pdf Externer Link
5.
Walter C, Matar Z. Interkulturelle Kommunikation in der Gesundheitswirtschaft. Herausforderungen, Chancen und Fallbeispiele. Wiesbaden: Springer-Gabler; 2018. DOI: 10.1007/978-3-658-20241-5 Externer Link
6.
Roth J. Interkulturelle Kompetenz in Gesundheit und Pflege. Stuttgart: EduMedia GmbH; 2014.
7.
Aktionsbündnis Patientensicherheit. Wege zur Patientensicherheit. Lernzielkatalog für Kompetenzen in der Patientensicherheit. Berlin: Aktionsbündnis Patientensicherheit; 2006. Zugänglich unter/available from: https://www.pro-patientensicherheit.de/fileadmin/Medienablage/Dokumente/Aktionsbündnis_PatSi/APS_Lernzielkatalog_Wege_final_130206.pdf Externer Link
8.
Neudeck C. Bremen: Forschungsprojekt Jacobs University Bremen: Patientensicherheit durch bessere Kommunikation. Bremen: Jacobs-University; 2019. Zugänglich unter/available from: https://idw-online.de/de/news?print=1&id=714677 Externer Link
9.
Milliken FJ, Martins LL. Searching for Common Threads. Understanding the Multiple Effects of Diversity in Organizational Groups. Acad Manage. 1996;21(2):402-433. DOI: 10.5465/amr.1996.9605060217 Externer Link
10.
Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Das kultursensible Krankenhaus. Ansätze zur interkulturellen Öffnung - PRAXISRATGEBER. Berlin: Bundesregierung Deutschland; 2015. Zugänglich unter/available from: https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/das-kultursensible-krankenhaus-729126 Externer Link
11.
CIRSmedical. Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ). Berlin: CIRSmedical; 2018. Zugänglich unter/available from: https://www.cirsmedical.de/ Externer Link
12.
Mayring P. Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken. 12nd ed. Weinheim, Basel: Julius Beltz KG Verlag; 2015.